Er war aufgeregt wie ein kleines Kind. Fünfzehn Minuten zu früh fand er sich ein im legendären Bistro Relais Plaza an der Avenue Montaigne, einer der luxuriösesten Prachtstraßen in Paris, die direkt von den Champs-Élysées abzweigte. Ein freundlicher älterer Herr mit einem gewinnenden Lächeln nahm ihn in Empfang und schüttelte ihm lange die Hand, als seien sie alte Bekannte, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatten. Als Sturni ihm mitteilte, dass er eine Verabredung mit Zoé Le Coq habe, wurde sein Lächeln noch breiter.
Der maître des Etablissements, der das Renteneintrittsalter schon längst überschritten haben musste, braun gebrannt und mit sportlicher Figur, aber noch wie Mitte fünfzig wirkte, geleitete ihn an einen Ecktisch des Art-déco-Restaurants. Auf dem Weg teilte er ihm geflissentlich und weltmännisch mit, dass es sich bei dem Tisch um den ehemaligen Stammplatz eines weltberühmten österreichischen Dirigenten handele, der leider schon vor vielen Jahren verstorben sei. Früher sei er eng mit ihm befreundet gewesen.
Er selbst habe nach dessen Ableben entschieden, dass der Platz der Familie Le Coq zugewiesen werden solle, und Zoé sei ein häufiger und gern gesehener Gast im Relais Plaza. Er sagte allen Ernstes »seinem Restaurant«. Der Mann schien hier eine wichtige Instanz zu sein, und im Vorbeigehen tuschelten die Gäste ehrfurchtsvoll, als er vom Restaurantchef zu besagtem Stammplatz geleitet wurde.
Ohne etwas bestellt zu haben, erhielt Sturni zunächst ein Glas Champagner, das, wie ihm versichert wurde, selbstverständlich aufs Haus gehe. Er nahm dankend an, das prickelnde Getränk kühlte, und der Alkohol beruhigte seine Nerven. Er hatte seinen einzigen Anzug zu diesem wichtigen rendez-vous angezogen. Dennoch kam er sich inmitten all der schwerreichen Gäste mit seinem etwas abgewetzten costume vor wie ein Bauerntölpel.
Er hatte hohe Erwartungen an dieses Gespräch. Wenn ihm jemand weiterhelfen konnte, dann Zoé Le Coq. Sie war eine Expertin auf dem Gebiet Atomenergie, gehörte zu einer technisch versierten Elite im Land.
Sturni erwartete eine fanatische Weltverbesserin, Typ Greenpeace oder Attac. Schließlich hatte diese Frau hoch dotierte Angebote im Staatsdienst und in der Wirtschaft abgelehnt, um als freischaffende Journalistin zu arbeiten, was ihr Ruhm, viele Feinde, aber bestimmt kein Vermögen einbrachte.
Der Restaurantchef schenkte ihm ein weiteres Glas ein. Der Champagner war perfekt temperiert und konnte es mit jedem Crémant d’Alsace aufnehmen. Antoine genoss den Moment der Ruhe und nutzte die Zeit, sich im Restaurant ein wenig umzusehen. Das Relais Plaza galt als Institution in Paris, und das musste man in einer Weltstadt wie dieser erst einmal erreichen.
Die Inneneinrichtung war weitgehend so erhalten, wie sie im Jahr 1936 eingebaut worden war, erzählte ihm der freundliche maître stolz. Das Herzstück des Bistros – wobei der Begriff »Bistro« ziemlich tiefgestapelt war, bei diesem Luxustempel – bildete eine lang gezogene Bar, über der es ein großes Art-déco-Gemälde mit einer Jagdszene gab. Die Decke war mit dunkelbraunem Holz verkleidet, in das die Lampen eingefasst waren. Bei den Tischen handelte es sich tatsächlich um dunkle Bistrotische; sie stellten eigentlich das einzige Accessoire dar, das an ein Bistro erinnerte, waren aber selbstverständlich mit feinen weißen Tischtüchern und teurem Geschirr eingedeckt. Die Stühle waren mit cremefarbenem Leder bezogen.
Sturni überlegte sich gerade, ob ihm diese gediegene Atmosphäre gefiel – um ehrlich zu sein, bevorzugte er eine schlichte elsässische Winstub –, als er vom Lärm quietschender Reifen aufgeschreckt wurde. Direkt vor dem Bistro hielt ein roter Ferrari F12 Berlinetta, mitten im Halteverbot. Aus dem Rennwagen stieg eine hochgewachsene, schlanke Frau mit dunklen, nein, eher schwarzen langen Haaren. Gekleidet war sie in ein ebenfalls schwarzes, eng anliegendes Kleid. Von Weitem sah man, dass dies eine Frau von Welt war, die aus jeder Pore Luxus ausstrahlte. Ihr Gesicht war weitgehend von einer großen Sonnenbrille verdeckt.
Sie öffnete die Tür des Restaurants, und der Oberkellner eilte ihr mit offenen Armen entgegen. Die beiden begrüßten sich wie zwei alte Bekannte. Der maître schien ein väterlicher Freund von ihr zu sein. Nach dem Austausch einiger Höflichkeiten geleitete er sie zu Sturnis Platz, es war tatsächlich Zoé Le Coq. Ein steinreiches Mannequin mit mehreren Hochschulabschlüssen und einer technisch-mathematischen Begabung, das sich vorgenommen hatte, die Welt zu retten. So hatte er sich Le Coq wahrlich nicht vorgestellt.
Sie setzte sich wie selbstverständlich zu ihm, als handele es sich um den Frühstückstisch in ihrer Küche. Das Relais Plaza war ihr zweites Wohnzimmer. Eine förmliche Begrüßung schenkte sie sich. Endlich nahm sie die Sonnenbrille ab, und er konnte ihr in die Augen sehen. Es machte ihn immer nervös, wenn er keinen Blickkontakt zu seinem Gegenüber aufnehmen konnte. Diese Frau war von atemberaubender Schönheit, strahlte durch und durch französische Grandezza aus. Dennoch wirkte sie nervös, fahrig.
»Sie sind also Cédrics alter Schulfreund, der sich nun als Sonderermittler mit Korruption und Misswirtschaft in der Atomindustrie befassen darf.«
Ihre Bemerkung hatte etwas Verächtliches, war nicht als Frage, sondern als herablassende Feststellung formuliert. Sie hatte keine hohe Meinung von ihm und seiner aktuellen Tätigkeit, das war die Basis für ihr Gespräch. Kein leichtes Unterfangen.
»Na ja, eigentlich bin ich Leiter der Mordkommission in Straßburg. In diese Einheit bin ich eher zufällig geraten, eine Zwangsversetzung, könnte man sagen.«
»Cédric Zeller hat mich informiert. Ansonsten säße ich jetzt nicht hier. Diese Ermittlereinheit ist doch ein glatter Witz. Niemand von denen hat mich bisher auch nur kontaktiert. Das Ganze ist eine reine Alibiveranstaltung.«
Da musste Sturni ihr recht geben, er hatte schon kurz nach Antritt seines neuen Postens den gleichen Eindruck gehabt.
Le Coq wirkte unruhig. Immer wieder blickte sie sich um, als würde sie verfolgt. Vor dem Restaurant hatten sich zwei kräftige Kerle in Zivilkleidung postiert. Er nickte in Richtung Fenster.
»Ihre Bodyguards?«
»Die Polizei hat mir Leibwächter zugewiesen, nachdem ich wegen meines Engagements gegen Atomkraft anonyme Morddrohungen erhalten habe. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie auf mich aufpassen oder mich bespitzeln sollen. Ich traue ihnen auf jeden Fall nicht über den Weg.«
Antoine hatte ein Grundvertrauen in den französischen Staat, das Le Coq völlig abzugehen schien. War sie am Ende paranoid, eine abgedrehte Spinnerin aus gutem Hause, an deren Vorwürfen nichts dran war?
»Ich danke Ihnen auf jeden Fall, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen.«
»Danken Sie Cédric, ich mache das in erster Linie für ihn. Er sagte mir, Sie gehören zu den Guten, und ich vertraue ihm.«
Weder Sturni noch Le Coq hatten bisher einen Blick in die Speisekarte geworfen, als der Restaurantchef sich zu ihnen gesellte und die Karten vom Tisch nahm. Er schien zu wissen, was Zoé essen wollte, und mit einem kurzen Blickkontakt zwischen den beiden wurde geklärt, dass es für ihr rendez-vous das gleiche Menü geben würde.
»Alors, wo soll ich anfangen? Vor wenigen Tagen wurde ich Zeuge, wie eine Leiche vom Grund des Canal Saint-Martin geborgen wurde.«
»Edouard Wanzecki.«
»Sie sind im Bilde, umso besser. Als Leiter einer Mordkommission lässt mich so etwas natürlich nicht kalt. Der Mann wurde ermordet, schlimmer noch, man hat ihn vor seinem Tod übel zugerichtet.«
Nervös blickte Le Coq auf ihr Handy. Er sah ihr an, dass sie sich gerne eine clope angezündet hätte. Ihm ging es genauso.
»Ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden. Im Rahmen meiner Recherchen für die Sonderermittlereinheit habe ich ein Dossier von Wanzecki gefunden. Er vermutete Misswirtschaft und Korruption in großem Ausmaß bei Atomkonzernen und deren Zulieferern. Er hielt die Sicherheit der französischen Kraftwerke für akut gefährdet, wurde aber von seinen Vorgesetzten nicht beachtet und irgendwann kaltgestellt.«
Nun legte Le Coq ihr portable zur Seite, sah ihn unumwunden an. Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Den Moment musste er nutzen.
»Ich habe die Vermutung, dass Wanzecki mit seinem Verdacht recht hatte und deshalb ermordet wurde. Er muss auf eine heiße Spur gestoßen sein, irgendetwas Entscheidendes entdeckt haben. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen. Deshalb habe ich um ein Gespräch mit Ihnen gebeten. Kannten Sie Wanzecki? Haben Sie eine Ahnung, was er herausgefunden hat, wer hinter seinem Tod stecken könnte? Das ist es, was mich wirklich interessiert.«
Le Coq war nun ganz bei ihm. Ihre Nervosität war verflogen. Sie sah ihn lange und durchdringend an. Er erwiderte ihren Blick und wartete. Le Coqs väterlicher Freund hatte inzwischen einen loup de mer – einen Wolfsbarsch – mit mediterranem Gemüse und Risotto serviert; madame achtete auf ihre Figur, natürlich. Zum Essen gab es einen elsässischen Pinot gris, eine sehr gute Wahl. Der maître war ein Genie und schien Gedanken lesen zu können, genau danach war ihm jetzt.
Da Le Coq immer noch keinen Ton von sich gab, nahm Sturni einen großen Schluck Wein und begann zu essen. Was hätte er auch noch sagen sollen? Die Karten lagen auf dem Tisch, und beide hatten kein Bedürfnis nach papotage, nach oberflächlicher Konversation. Le Coq rührte weder Essen noch Wein an. Sie schien eine wichtige und grundlegende Entscheidung treffen zu müssen. Konnte sie ihm trauen oder nicht? Er war fast fertig mit dem Essen; die Stille wurde so langsam unangenehm, als Zoé zu sprechen begann.
»Wanzeckis Ermordung war eine Warnung an mich, nicht mehr und nicht weniger. Er war einer meiner Informanten.«
Fast hätte er sich an seinem letzten Bissen loup de mer verschluckt. Die Gabel fiel ihm aus der Hand. Also hatte er wieder einmal den richtigen Riecher gehabt! Le Coq hatte sich dazu entschieden, ihm zu vertrauen.
»Wenn Wanzeckis Akte für Sie zugänglich war, dann enthält sie allenfalls die Spitze des Eisbergs, sonst hätten Sie sie nicht zur Verfügung gestellt bekommen. Von höherer Stelle wird überhaupt nicht gewünscht, dass Sie irgendetwas herausfinden.«
Da war etwas dran. Wäre der tote Wanzecki nicht vor seinen Augen aus dem Kanal gefischt worden, so hätte er anhand der Akte nie den Verdacht geschöpft, dass er einer großen Sache auf der Spur war. Nach Aktenlage hatte er ihn für einen unwichtigen Querulanten gehalten.
»Erzählen Sie!«
»Edouard hat mich vor einigen Wochen kontaktiert und um ein Gespräch mit mir gebeten. Das passiert mir häufiger, seitdem ich mich öffentlich gegen Atomkraft positioniere und zu einer Art Sprachrohr einer Bewegung geworden bin. Menschen, die mit sensiblen Daten Kontakt haben, geben mir ihre Informationen weiter in der Hoffnung, dass ich sie öffentlich mache, ohne dass sie selbst damit in Verbindung gebracht werden. So war es auch bei Wanzecki. Er hatte Beweise dafür gesammelt, dass einige französische Atommeiler mit erheblichen Sicherheitsmängeln behaftet sind und eigentlich sofort abgeschaltet werden müssten. Kleine Risse in den Schutzhüllen der Meiler könnten im Extremfall dazu führen, dass das Kühlwasser aus dem Kreislauf austritt, mit der Folge eines atomaren GAUs. Mehr noch, er hatte herausgefunden, dass die Mängel durch Korruption in großem Ausmaß entstanden sind. Mangelhafte Teile aus ungeeigneten Materialien waren in den Meilern verbaut worden, die man jedoch teuer abgerechnet hat. Der dadurch entstandene Gewinn versickerte in dunklen Kanälen. Wanzecki vermutete, dass ein System dahintersteckte und sogar Entscheidungsträger in hohen Positionen in Staat und Verwaltung involviert seien.«
»Hat man ihn deshalb kaltgestellt?«
»Gut möglich. Auf jeden Fall wurde er zwangsversetzt, nachdem er seinen Vorgesetzten zu unbequem wurde.«
Zwangsversetzt? Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Hatte Direktor Bouget nicht das Gleiche mit ihm gemacht, um ihn zumindest für einige Monate vom Hals zu haben?
»Wanzecki wollte sich das nicht bieten lassen und hat sich deshalb an mich gewandt. Er wollte, dass alles an die Öffentlichkeit kommt, was er herausgefunden hat, ohne dass er selbst dafür belangt werden konnte. So weit reichte sein Mut dann doch nicht. Wer will schon seine gesicherte Existenz – eine schöne Beamtenposition – aufgeben?«
»Und dafür musste er mit dem Leben bezahlen?«
»Ich kann nichts beweisen, es ist nur eine Vermutung.«
»Und Sie, haben Sie keine Angst, dass Ihnen auch etwas zustoßen könnte?«
»Ich habe die rote Linie schon längst überschritten. Würde ich mir jeden Tag überlegen, was mir alles zustoßen könnte, müsste ich meine Arbeit aufgeben. Ich vermute, dass die Mörder – beziehungsweise deren Auftraggeber – darüber informiert waren, dass Wanzecki sich an mich gewandt hat. Wahrscheinlich hat man unser Gespräch abgehört, oder wir wurden bei der Übergabe der Dokumente beobachtet. Sein Tod ist eine Warnung an mich. Wenn ich noch einen Schritt weitergehe, dann bin ich die Nächste.«
»Weshalb hat man Sie dann nicht gleich umgebracht? Schließlich sind Sie es, die die ganze Industrie mit Ihren Enthüllungen in Angst und Schrecken versetzt, nicht Wanzecki. Er war nur eine kleine Nummer. Sie sind der Star, die wahre Bedrohung für die ganze Branche.«
»Das stimmt schon, aber ich habe in Frankreich eine gewisse Berühmtheit erlangt, das schützt mich, bisher zumindest. Mein Tod würde zu einem öffentlichen Aufschrei führen. Da würde die Einrichtung eines – nehmen Sie es nicht persönlich – inkompetenten Ermittlerteams nicht mehr ausreichen, um die Öffentlichkeit zu besänftigen. Außerdem entstamme ich einer sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie. Vielleicht hilft auch das. Jemanden aus meiner sozialen Schicht räumt man nicht so einfach aus dem Weg, da schneidet man sich auch immer ins eigene Fleisch.«
Antoine war begeistert von dieser Frau. Der erste Eindruck einer verwöhnten Luxusgöre täuschte. Zoé war knallhart und bereit, ihr Leben für ihre Überzeugungen zu riskieren. Es gab viel zu wenige Menschen von ihrer Sorte. Hätte er selbst ihren Mut? Wahrscheinlich nicht. Auch er schätzte sein beschütztes und sicheres Beamtendasein. Natürlich geriet er bei seinen Mordermittlungen ab und zu selbst in Gefahr, doch wenn es richtig brenzlig wurde, ließ er lieber ein Sondereinsatzkommando die Drecksarbeit erledigen.
»Haben Sie veröffentlicht, was Wanzecki Ihnen geliefert hat? Schließlich treiben Sie den ganzen Industriezweig schon seit Jahren vor sich her und setzen Politiker unter Druck, damit sie endlich den Ausstieg aus der Atomkraft einläuten.«
»Wanzecki war nur eine meiner Quellen. Ich habe noch viele andere. Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem die ganzen Skandale dieser Industrie aufgedeckt werden, ebenso die politischen Verflechtungen, einfach alles, was der Öffentlichkeit bisher vorenthalten wurde. Wanzeckis Geschichte ist nur ein Baustein davon, wenn auch ein ganz entscheidender. In dem Artikel werden Namen genannt und Belege aufgeführt. Ich lege die Verbindungen zwischen der Industrie, den politisch Verantwortlichen und den zuständigen Behörden offen, die immer wieder beide Augen zudrücken, anstatt konsequent aufzuräumen.«
»Hört sich in der Tat nach einem großen Skandal an.«
»So ist es. Wenn ich den Artikel auf meinen Blog stelle, dann wird in dem Bereich kein Stein mehr auf dem anderen bleiben.«
»Und Sie glauben tatsächlich, dass man Wanzecki nur umgebracht hat, um Sie davon abzubringen? Wenn Sie Ihren Artikel ins Netz stellen, dann sind auch Sie fällig?«
»Ich habe dafür keine Beweise, gehe aber davon aus. Wenn du brav bist, bleibst du am Leben, wenn nicht, dann bist du tot.«
»Und was werden Sie tun?«
»Was glauben Sie denn?«
»Sie werden den Artikel veröffentlichen.«
»Natürlich werde ich das. Ich habe mich noch nie erpressen lassen, von nichts und niemandem.«
»Worauf warten Sie dann?«
»Auch ich hänge am Leben. Wenn ich alles veröffentliche, bin ich endgültig der Paria der Nation. Eine Heldin für einige und eine Hassfigur für viele andere. Unliebsame Wahrheiten sind nie populär. Außerdem habe ich nach Edouards Tod noch fieberhaft an dem Artikel gearbeitet. Ich habe alle seine Risikoanalysen nochmals genau geprüft und eine Übersicht erstellt, welche Mängel er in den jeweiligen Reaktoren festgestellt hat. Eigentlich hätte auf Grundlage von Wanzeckis Berichten – und er hat alle achtundfünfzig französischen Kernreaktoren überprüft – mehr als die Hälfte davon sofort abgeschaltet werden müssen. In ganz Frankreich würden dann erst einmal die Lichter ausgehen. Kein Wunder, dass seine Forderungen von seinen Vorgesetzen abgeblockt wurden. Unsere Sicherheit wurde gegen Wirtschaftsinteressen abgewogen, und nun raten Sie mal, wer den Kürzeren gezogen hat? Gestern Nacht habe ich den letzten Abschnitt meines Artikels fertig geschrieben, er kann also ins Netz gestellt werden. Davor habe ich noch an einer Polit-Talkshow im Fernsehen zu der Thematik teilgenommen, die live übertragen wurde. Ich habe mich in der Debatte dazu hinreißen lassen, meine Enthüllungen anzukündigen. Meine Gegner sind also alarmiert und wissen, dass ihr Einschüchterungsversuch erfolglos war. Wahrscheinlich war das ein Fehler, ich hätte meinen Mund halten und den Artikel einfach ins Netz stellen sollen. «
Er bewunderte den Mut dieser Frau. Wenn nur ein Teil von dem stimmte, was sie da erzählte, dann war sie in akuter Lebensgefahr; die Bodyguards vor der Tür waren keine Staffage für ein Society-Mädchen, sondern bittere Notwendigkeit.
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
Antoine war überrascht. Er hatte um das Gespräch gebeten, weil er Informationen von Le Coq benötigte, und nun bat sie ihn um einen Gefallen.
»Ich werde Ihnen jetzt unter dem Tisch ein iPad reichen.«
Auf einmal war sie wieder nervös. Sie blickte aus dem Fenster auf die beiden Polizisten in Zivil. Die beiden rauchten und schienen ihnen keine große Beachtung zu schenken. Der Eindruck konnte jedoch täuschen.
»Auf dem iPad befinden sich der fertige Artikel und alle notwendigen Beweise.«
Er wusste nicht, wie ihm geschah, als er unter dem Tisch ihre warme Hand fühlte, die ihm das kleine, flache Gerät in die Hand drückte.
»Was soll ich damit tun?«
»Verwahren Sie es an einem sicheren Ort. Ich weiß nicht, wem ich im Moment noch vertrauen kann. Sollte mir etwas zustoßen und sollte ich nicht mehr dazu kommen, meinen Artikel zu veröffentlichen, dann lassen Sie die Dateien auf dem Computer Cédric Zeller zukommen. Er wird wissen, was damit zu tun ist.«
»Am Eingang des Restaurants stehen zwei Polizisten, die dazu da sind, Sie zu beschützen.«
»Beschützen oder aufpassen, dass ich keine Dummheiten anstelle, zum Beispiel meinen brisanten Artikel an naive Polizeibeamte aus dem Elsass zu übergeben?«
Zoé lachte, ein lautes, zynisches Lachen, in dem neben einer großen Desillusionierung nun doch eine Portion Angst mitschwang.
»In welcher Welt leben Sie? Sie sind ja noch naiver, als ich dachte.«
»Warum ich? Warum vertrauen Sie mir? Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Ich kenne Cédric, und Sie sind mit ihm befreundet. Er hat mir gesagt, dass Sie einer von den Besten sind, und das genügt mir. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, machen Sie sich keine Sorgen. Sobald der Artikel im Netz steht, ist ohnehin alles öffentlich; dann sind Sie raus und können die gesamten Dateien einfach vernichten.«
So langsam fing er an, sich ernsthafte Sorgen um seine Gesprächspartnerin zu machen. Er wusste, dass in dieser Branche mit harten Bandagen gekämpft wurde, dass es Skandale gab, Sicherheitsmängel, politische Verwicklungen … aber ein Mord?
»Ich muss gehen. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.«
Le Coq war bereits aufgestanden. Sie gab dem Restaurantchef ein vertrautes Zeichen. Er nickte stumm und ließ sie durch eine kleine Handbewegung wissen, dass er die Rechnung über das compte, das Konto, der Familie abrechnen würde.
Antoine erhob sich, um sich von ihr zu verabschieden. Er wollte noch ein paar Minuten sitzen bleiben und den guten Weißwein austrinken. Zuerst einmal musste er verarbeiten, was er gerade gehört hatte. Zoé gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Sie sind ein sympathischer Mann, Antoine Sturni. Es sollte mehr Polizisten von Ihrer Sorte geben.«
Sie wehte an ihm vorbei. Der Duft ihres Parfüms hatte etwas Betörendes. Cédric Zeller konnte sich glücklich schätzen, diese Frau einmal geliebt zu haben. Sie hatte eine unbändige Energie, war frei und unabhängig. Eine feste Bindung hätte sie viel zu sehr eingeengt, und so hatte sie seinem alten Freund Cédric den Laufpass gegeben, als er sie dazu überreden wollte, zu ihm nach Brüssel zu ziehen. Der Kampf für eine gute Sache war für sie wichtiger als ihr privates Glück.
Antoine verscheuchte seine Gedanken, goss sich das letzte Glas Wein ein und blickte Le Coq nach, als sie das Restaurant verließ. Ihre beiden Wachhunde vor der Tür hatten sofort reagiert und bestiegen ihre Motorräder, die sie in der Nähe des Ferraris geparkt hatten.
Antoine sah noch, wie Zoé die Tür ihres Autos öffnete und sich hineinsetzte. Als sie die Zündung bediente, passierte es. Es gab einen enormen Knall, und vor seinen Augen erschien ein riesiger Feuerball. Die Glasfenster des Restaurants zerbarsten, die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Wand.
Sie hatten sie umgebracht! Vor seinen Augen hatte man Zoé Le Coq ermordet. Sturni stand unter Schock. In seiner Hand fühlte er das iPad, das sie ihm vor wenigen Momenten in die Hand gedrückt hatte. Sie musste eine dunkle Vorahnung gehabt haben.
Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er nun selbst in akuter Gefahr schwebte. Wanzecki, Le Coq, beide tot, ermordet. Was auch immer sich auf dem Computer befand, es war der Grund für die beiden Morde.
Er musste weg von hier, so schnell wie möglich. Und er musste das Versprechen einlösen, das er Zoé gegeben hatte. Keinesfalls durfte er jetzt von der Polizei aufgegriffen werden und dabei riskieren, dass man das wertvolle iPad konfiszierte.
Antoine kroch unter einem Bistrotisch hervor, der mit der Druckwelle auf ihn gefallen war, und stand auf. Vorsichtig streckte er seine Gliedmaßen – er war unverletzt, ein Wunder bei all der Zerstörung um ihn herum. Er hörte Schmerzensschreie, im Restaurant hatte es Verletzte gegeben. Eigentlich wäre er zur Ersten Hilfe verpflichtet gewesen …
Fluchtartig rannte er aus dem Restaurant. Draußen hörte er bereits die Sirenen von Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr. In wenigen Momenten würden die Rettungskräfte vor Ort sein, er musste von hier verschwinden, sofort.
Von den beiden Polizisten, die Zoé begleitet hatten, schien einer schwer verletzt zu sein; zumindest lag er neben seinem Motorrad auf dem Boden. Der andere, der etwas weiter entfernt gestanden hatte, telefonierte wild gestikulierend. Auch er hatte eine blutende Wunde am Kopf. Der Leibwächter schien nicht zu bemerken, dass er das Restaurant verließ. Sturni warf einen letzten Blick auf den Ferrari, der vollständig zerstört war. Zoé hatte nicht die geringste Chance gehabt, die Explosion musste sie in tausend Stücke gerissen haben. Er konnte nichts mehr für sie tun – außer ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen.
Sturni riss sich von dem Anblick los und rannte die Avenue Montaigne in Richtung Seine hinunter. Auf dem Weg kamen ihm massenhaft Polizeiautos mit Sirenengeheul und Blaulicht entgegen, Militärfahrzeuge mit schwer bewaffneten Soldaten rückten an, der Katastrophenalarm in der Hauptstadt funktionierte. Seit den großen Terroranschlägen befand sich Paris in einem permanenten Ausnahmezustand. Auch dies war ein Terroranschlag, begangen vor den Augen der Polizei, an einer mutigen, nach der Wahrheit suchenden Journalistin. Wer war der Attentäter?
Er war in letzter Sekunde geflüchtet. An der Seine angekommen, überquerte er den Pont d’Alma, hielt sich dann links, den Quai d’Orsay hinab. Kurz hinter dem Musée d’Orsay konnte er nicht mehr. Er bog nach rechts ab, in eine kleine Gasse im Stadtteil Saint-Germain-des-Prés. Dort lehnte er sich gegen eine Hauswand und versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Er durfte jetzt nicht in Panik geraten, musste seine nächsten Schritte mit klarem Kopf planen. Im umtriebigen Saint-Germain-des-Prés konnte er erst einmal abtauchen; für den Moment sollte er dort sicher sein. Ins Büro traute er sich nicht. Wer war Freund, wer Feind? Er wusste es nicht mehr, sein Weltbild geriet ins Wanken.
Erst einmal wollte er an einem ruhigen Ort die Dateien auf dem iPad sichten und sie danach seinem Freund Cédric Zeller zukommen lassen, ganz so, wie Zoé es gewünscht hatte. Dann würde er weitersehen …