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Der Abzugsschacht

Abdel war müde, unendlich müde. Er hatte seit zehn Stunden ohne Pause in der Küche geschuftet, Steaks angebraten und sich wie so häufig die Finger verbrannt. Seine Erschöpfung hatte ein Ausmaß erreicht, dass er vor dem Herd einzuschlafen drohte. Inzwischen war es kurz vor Mitternacht. Bald würde seine Schicht zu Ende sein. Er konnte es kaum erwarten.

Plötzlich hörte er durch die Küchentür laute Schreie im Restaurant.

»Police, autorité d'immigration, restez à votre place! – Polizei, Einwanderungsbehörde, bleiben Sie auf Ihren Plätzen!«

Abdel fuhr der Schreck in alle Glieder. Das war der Moment, den er schon lange befürchtet hatte. Die beiden anderen Illegalen in ihrer Küche, Simba von der Elfenbeinküste und Bijan aus Benin, warfen ihm verzweifelte Blicke zu.

Abdel lugte durch die Tür, die den Restaurantbereich mit der Küche verband. Durch ein kleines Glasfenster, das in die Tür eingefasst war, konnte er die Geschehnisse im Gästebereich beobachten. Die Offiziellen hatten begonnen, die Ausweise der Gäste im Restaurant zu kontrollieren. In wenigen Augenblicken würden sie die Küche betreten und ihre Kontrollen dort fortführen.

Er sah die Panik in Simbas und Bijans Augen. Jeder war sich nun selbst der Nächste, es würde kein koordiniertes Vorgehen zwischen ihnen geben. Die Küche war eine Sackgasse. Sie waren gefangen, es gab keinen Weg nach draußen – außer über das Restaurant.

»Wir müssen hier raus, sofort!«

Simba geriet in Panik. Er stürmte durch die Tür und versuchte, mit aller Gewalt ins Freie zu gelangen. Er war groß und kräftig, hatte wohl damit gerechnet, die Beamten überrumpeln und mit Gewalt zur Seite stoßen zu können, um hinaus auf die Straße zu fliehen. Doch der Überraschungseffekt verpuffte, und sein verzweifelter Versuch schlug fehl.

Die Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde und die begleitenden Polizisten waren darauf vorbereitet, hatten vergleichbare Fälle schon hundertmal erlebt. Ein Polizist grätschte Simba in den Lauf und brachte ihn so zu Fall. Er stürzte auf einen der Restauranttische, und die Gäste kreischten laut auf, als er ihnen auf ihr jarret de porc – ihre Schweinshaxe – und ihr civet de biche – ihr Wildragout – fiel. Durch die offene Tür sah Abdel, wie ihm zwei Beamte die Arme nach hinten verdrehten und Handschellen anlegten. Hilflos lag er auf dem Bistrotisch. Für Simba war das Spiel zu Ende.

In seinem Windschatten hatte sich Bijan nach draußen gestürzt. Er verfolgte eine andere Taktik, bog sofort nach links ab und stürmte durch die Tür, die in Richtung der Toiletten führte. Zwei weitere Beamte setzten ihm sofort nach. In der Toilette gab es ein kleines Fenster, das nach draußen führte. Wohl hundertmal hatten die drei diese Situation durchgespielt. Simba war zu groß und kräftig für das kleine Fenster in der Toilette, ihm blieb nur die Flucht nach vorn, durch das Restaurant – die Fluchtvariante mit den geringsten Erfolgschancen.

Bijan war schneller und auch schlanker als Simba. Für ihn war immer klar gewesen, dass er bei einer Razzia das Überraschungsmoment nutzen und die Flucht durch das Toilettenfenster versuchen würde. Abdel wusste nicht, ob es ihm geglückt war oder ob ihn die Beamten in letzter Sekunde abgefangen hatten. Sekunden, die über den Verbleib in Frankreich oder über die Abschiebung in ihre Heimatländer entschieden.

Obwohl Abdel diese Situation hatte kommen sehen und gedanklich bereits sehr oft durchgespielt hatte, blieb er in diesem Moment wie angewurzelt stehen, konnte sich nicht mehr bewegen.

Das panische Verhalten von Simba und Bijan brachte ihm wertvolle Minuten, die er für sich hätte nutzen sollen, doch er war wie versteinert. Noch waren die Beamten mit seinen beiden Kollegen beschäftigt, doch es war nur eine Frage von Minuten, bis sie ihre Ausweiskontrolle fortführen und in die Küche kommen würden.

»Abdel, Abdel, aufwachen! Dépêche-toi – beeil dich, du hast wahrscheinlich nur noch Sekunden.«

Benoit, der zweite Koch im Restaurant, mit dem Luxus einer französischen Staatsbürgerschaft und einem festen Arbeitsvertrag ausgestattet, riss ihn aus seiner Lethargie. Sie hatten sich angefreundet in den letzten Monaten, die Kochkunst und die harte Arbeit verbanden.

Mit sanfter Gewalt schob Benoit ihn hinüber zum Abzugsschacht. Im Gegensatz zu Simba und Bijan hatte er noch eine dritte Fluchtmöglichkeit für den Fall der lange befürchteten Razzia der Einwanderungsbehörde, den engen Abzugsschacht, der aus der Küche nach draußen führte. Nur er war schlank, leicht und gleichzeitig athletisch genug, um sich durch den engen Kamin nach oben zwängen zu können.

»Los, réveille-toi – wach auf! Jede Sekunde zählt! Sie können jeden Moment reinkommen, und dann ist es zu spät.«

Benoit stieß ihn schon fast in den Schacht. Endlich erwachte Abdel aus seiner Trance. Er zwängte sich in den engen Kamin und drückte sich mit Armen und Beinen nach oben, genauso, wie er es schon mehrfach in einer ruhigen Minute geübt hatte.

Abdel sah noch, wie die Tür aufgestoßen wurde, bevor er endgültig in der engen Röhre verschwand. Wenige Sekunden – und es wäre zu spät gewesen. Die Beamten konnten ihm nicht hinterhersetzen, dieser Ausgang war etwas für drahtige Fassadenkletterer. Nun ging es darum, schneller zu sein als die Polizisten, die bestimmt versuchen würden, ihn draußen abzufangen.

Der Schacht führte senkrecht nach oben bis auf das Dach des Gebäudes. Kein Polizist war weit und breit in Sicht, als er völlig verdreckt im Freien anlangte. Wahrscheinlich hatten sie ihn aufgegeben und kümmerten sich um Simba und Bijan. Vielleicht waren sie aber auch noch auf der Suche nach ihm.

Abdel robbte auf dem Dach entlang in der Hoffnung, dass ihn die Polizisten von unten nicht sehen konnten. Irgendwann fand er eine rostige Leiter, über die er in einen schäbigen Innenhof hinabstieg. Zum Glück war er schwindelfrei. Von dort gelangte er auf die Straße und rannte, ohne sich umzusehen, bis er nicht mehr konnte. Das Adrenalin mobilisierte seine letzten Reserven. Er versteckte sich in einer Abfalltonne und wartete so lange, bis er sich in Sicherheit wähnte. Dann trat er – nach Müll stinkend und völlig verrußt – zu Fuß den Heimweg in seine bescheidene Bleibe an.

Das war gerade noch mal gut gegangen …