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Zoés Vermächtnis

Sturni ließ sich in der Menge treiben, passierte die Église de Saint-Germain-des-Prés in Richtung Église Saint-Sulpice. Munteres Volk allenthalben, Touristen, Verliebte … Niemand hier hatte eine Ahnung davon, dass nur wenige Steinwürfe entfernt ein furchtbares Attentat stattgefunden hatte, bei dem eine mutige junge Frau in tausend Teile zerrissen wurde.

Den Schlüssel zur Lösung dieser skrupellosen Tat trug er bei sich, einen kleinen Tablet-Computer, dessen Dateien mehr Sprengstoff enthielten als das TNT, das Zoé Le Coq in die Luft gejagt hatte. Vielleicht hatte er als Einziger auf der Welt noch Zugang zu diesem brisanten Artikel, keinesfalls durfte er in die falschen Hände geraten.

Von der Église Saint-Sulpice ging er die wenigen Schritte zum Jardin du Luxembourg hinauf. Nervös sah er sich um. Wurde er verfolgt? War er gerade dabei, paranoid zu werden? Er stand unter einem schweren Schock, keine Frage. Um einen Arzt aufzusuchen, blieb jedoch keine Zeit. Er musste Zoés letzten Willen erfüllen, kostete es, was es wolle. Danach würde er sich um das erlittene Trauma kümmern.

Im Jardin du Luxembourg fühlte er sich vorerst sicher, konnte in Ruhe durchatmen. Es herrschte wunderbares Wetter, und der jardin war proppenvoll. Der Herbst hatte inzwischen Einzug gehalten in Paris, der gesamte Garten erstrahlte in einem besonderen Licht. Die Blätter der Kastanien schimmerten bereits in herbstlichen Farben, aufgrund der hohen Abgasbelastung in Paris geschah dies immer einige Wochen früher als auf dem Land.

Wenn man ihm nicht gefolgt war, dann würde man ihn hier nicht finden, zumindest für den Moment. Er suchte sich ein schattiges Plätzchen auf einer Bank unter einer Platane in der Nähe des Kinderspielplatzes.

Beim Blick auf die spielenden Kinder musste er an Christian denken, der gerade, hoffentlich in Sicherheit, bei seiner Mutter oder bei Margaux weilte. Er spürte die Last der Verantwortung. Christian brauchte ihn, Margaux auch. Er durfte nicht das nächste Opfer werden, musste jeden Schritt vorsichtig abwägen. Er schaltete das iPad an. Zoé war so schlau gewesen, den Passwortschutz zu entfernen, bevor sie es ihm übergab. Sie hatte den Artikel und die Begleitdokumente sogar auf dem Desktop abgelegt. Es war alles idiotensicher, als habe sie um seine Schwäche in Sachen IT gewusst … Er öffnete den Artikel und begann zu lesen.

Zoés Bericht war eine Generalabrechnung mit der französischen Energiepolitik. Haarklein führte sie auf, dass es einfach absurd war, noch weiter an der Atomtechnologie festzuhalten. Während sich Deutschland schon längst für den Ausstieg aus dieser riskanten Branche entschieden hatte, bildete sie in Frankreich nach wie vor das Rückgrat der Energieversorgung. Weshalb war das so?

Le Coq machte dafür zu einem großen Teil eine Lobbyvereinigung verantwortlich, der sie selbst hätte angehören können, wenn sie es nur gewollt hätte. Die Absolventen ihres eigenen prestigeträchtigen Ausbildungsgangs fungierten als eine Art Alumni-Klub. Die Mitglieder dieses Klubs besetzten allesamt hohe Managementpositionen in Staat und Wirtschaft. Man hatte Le Coq die Mitgliedschaft nach erfolgreicher Teilnahme an dem Programm angeboten, doch sie hatte dankend abgelehnt. Sie wollte unabhängig bleiben und sich zu nichts verpflichten. Interessanterweise hatte man Wanzecki trotz hervorragender Examensnoten die Mitgliedschaft verweigert, obwohl er gerne Mitglied geworden wäre. Sein Antrag war ohne Begründung abgelehnt worden. Er war immer ein Außenseiter gewesen, verfügte nicht über das soziale Netz und den familiären Hintergrund, um in dieses elitäre Karrierenetzwerk aufgenommen zu werden.

In ihrem Artikel ging Le Coq auch auf den gewaltsamen Tod Wanzeckis ein. Daran hatte sie bis zuletzt gearbeitet. Sie konnte nichts beweisen, führte aber einige Mutmaßungen auf, die zu seinem Tod geführt haben könnten. Da Wanzecki tot war und keine engen Angehörigen hatte, nannte sie ihn namentlich als ihren Informanten und führte die Beweise, die er gesammelt hatte, ganz genau auf. Sie musste ihn nicht mehr schützen, er war das Opfer seiner Recherchen geworden. Als Einzelgänger hatte er auch kein soziales Umfeld, das durch ihre Enthüllungen bedroht sein könnte. Über ihre weiteren Quellen schwieg sie sich aus, sicherlich zu deren Schutz. Das komplette Risiko, das mit der Veröffentlichung dieses Artikels verbunden war, wollte sie auf sich nehmen.

Ihre Thesen untermauerte Le Coq mit vielen Belegen. Sie führte Studien auf, die zu dem Schluss kamen, dass ein Festhalten an der Atomtechnik wirtschaftlich gar nicht rentabel war. Die Kosten für Instandsetzung, Unterhalt und Entsorgung des Brennmaterials waren viel höher als ein Rückbau, verbunden mit einem intensiv geförderten Einstieg in regenerative Energien.

In den Anlagen zu ihrem Artikel fanden sich Studien, die von Ministerien in Auftrag gegeben worden waren. Sie deckten die Unwirtschaftlichkeit des ganzen Systems auf. Außerdem belegten sie schonungslos, wie hochriskant diese Technologie war. Die Kernreaktoren glichen Schnellkochtöpfen, ohne Netz und doppelten Boden. Jederzeit konnte es zu einem schweren Unfall kommen, mit unabsehbaren Folgen für die französische Bevölkerung und die der angrenzenden Länder.

Die Gutachten hatte man unter Verschluss gehalten, weil die Ergebnisse den Verantwortlichen nicht genehm waren. Ein wackerer kleiner Umweltminister hatte sich um mehr Transparenz bemüht, war aber von Mitarbeitern des Matignon – Sitz des Premierministers – und sogar aus dem Palais de l'Élysée – Sitz des französischen Präsidenten – ausgebremst worden und letztendlich resigniert zurückgetreten. Das Netz der Atomlobby war nach Le Coqs Auffassung allumfassend und undurchdringlich, selbst ein beim Volk beliebter Minister kam nicht dagegen an.

Ein weiteres Kapitel ihres Artikels widmete sie der Korruption in der Branche. Einiges davon war bekannt, weitere Skandale deckte sie schonungslos auf. Wanzeckis Enthüllungen waren nur ein Teil davon.

Sehr spannend fand Sturni den Abschnitt, der sich mit den Arbeitsbedingungen der einfachen Arbeiter in den Kraftwerken beschäftigte. Häufig handelte es sich um Wanderarbeiter, die unter erbärmlichen Bedingungen tätig waren und bei Wartung und Reinigung der mit Strahlung belasteten Bereiche innerhalb der Kraftwerke ihre Gesundheit aufs Spiel setzten.

Noch ein Punkt war Zoé wichtig gewesen: Die Konzerne verfügten über das Know-how einer Hochrisikotechnologie, die Grundlage zum Bau von Atomwaffen sein konnte. Le Coq ging davon aus, dass es findigen Hackern leicht gelingen konnte, an diese Technologie heranzukommen. Ihrer Auffassung nach war das Wissen bei den Konzernen nur unzureichend gesichert. Nicht auszudenken, was damit angestellt werden konnte, wenn die Blaupausen in die falschen Hände gerieten.

Wie ein Schwamm hatte Le Coq dank ihrer Berühmtheit Informationen von Whistleblowern aus der Branche aufgesogen.

Nur sie hatte die courage – den Mut –, alles zusammenzutragen und zu veröffentlichen. Unmittelbar vor dem Erscheinen ihres Artikels hatte man sie zur Strecke gebracht … Er allein hielt nun den Schlüssel in der Hand, um Zoés Werk zu vollenden. Hatte er auch ihren Mut?

Sturni hatte genug gelesen. Er schaltete den Computer aus und blickte versonnen auf den Kinderspielplatz. Noch vor wenigen Jahren hatte er mit Christian viele Stunden auf solchen Spielplätzen verbracht. Die Erinnerungen gehörten zu den schönsten seines Lebens. Wenn Le Coqs Artikel der Wahrheit entsprach, und davon ging er aus, dann waren alle diese Kinder in großer Gefahr. Christian war in Gefahr, er selbst, seine Familie und alle Franzosen und Europäer. Er zückte sein Handy und wählte die Nummer von Cédric Zeller.

»Antoine, was machen die Sonderermittler in Sachen Atomenergie? Seid ihr einem großen Skandal auf der Spur?«

Cédric lachte ins Telefon und war, wie immer, bester Laune. Er machte sich lustig über seinen alten Freund, eine der »größten Pfeifen« der französischen Polizei …

Sturni schluckte. Zeller hatte noch nicht von Zoés Tod erfahren. Wie auch? Empathie war noch nie seine Stärke gewesen. Er musste Cédric schonend beibringen, dass seine enge Freundin und ehemalige Partnerin vor weniger als drei Stunden ermordet wurde.

»Zoé ist tot.«

Er biss sich auf die Unterlippe. Ein paar mitfühlende Worte wären vielleicht ganz angemessen gewesen. Er konnte einfach nicht anders, war in dieser Hinsicht ein totaler sozialer Blindgänger. Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Sie wurde ermordet, vor meinen Augen.«

»Raconte!«

Antoine konnte fühlen, wie betroffen sein Schulfreund war. Zoé und Cédric hatten sich einmal geliebt, waren im Guten auseinandergegangen. Sie standen sich immer noch nah. Ihr Tod musste ein Schock für ihn sein.

»Dank deiner Vermittlung habe ich mich, wie du weißt, heute Mittag mit ihr getroffen. Sie war nervös, hatte die Befürchtung, dass ihr etwas zustoßen könnte. Bevor sie ging, hat sie mir ein Tablet übergeben, auf dem sich ein Artikel von ihr befindet.«

Dieses Gespräch sollte nicht über eine ungesicherte Netzverbindung geführt werden. Zu leicht ließ es sich abhören. Er wusste es, aber er hatte keine andere Wahl, denn er war auf Cédrics Hilfe angewiesen – jetzt.

»Es handelt sich um eine Generalabrechnung mit der französischen Atompolitik, ihrem aktuellen Steckenpferd. Minutiös belegt sie, dass es einfach keinen Sinn mehr ergibt, an der Atomtechnologie festzuhalten, nicht nur aufgrund der Sicherheitsrisiken, sie ist einfach nicht rentabel. Jeder Punkt in dem Artikel ist mit Beweisen abgesichert, alles ist auf ihrem Rechner gespeichert. Zoé deckt die enge Vernetzung zwischen Industrie, Politik und den Aufsichtsbehörden schonungslos auf. Ein Karrierenetzwerk von Wirtschaftsgrößen und Spitzenbeamten schützt laut ihren Recherchen den ganzen Industriezweig, wohl wissend, dass sie damit Frankeich, ja ganz Europa in Gefahr bringen.«

Er spürte, wie Zeller am anderen Ende der Leitung um Fassung rang.

»Was hast du jetzt vor? Nachdem Zoé ermordet wurde, bist du wahrscheinlich der Einzige, der im Besitz ihres Materials ist?«

»Sie hat mich darum gebeten, dass ich dir die Unterlagen zukommen lasse, sollte ihr etwas zustoßen.«

»Wie genau ist sie gestorben?«

»Nach unserem Gespräch im Relais Plaza hat sie sich in ihren Ferrari gesetzt. In dem Moment explodierte eine Autobombe, wahrscheinlich aus der Ferne gezündet. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance. Ich bin geflüchtet, kurz bevor die Polizei eintraf. Zoé hat einige Anspielungen gemacht, dass sie nicht sicher ist, wem sie noch vertrauen kann. Mit ihrem Artikel greift sie alle an, den Staat, die Regierung – zumindest mittelbar –, hohe Beamte und Wirtschaftsgrößen, macht sie alle mitverantwortlich für die Machenschaften der Konzerne in Staatseigentum und gibt ihnen indirekt auch die Schuld an der Ermordung von Edouard Wanzecki. Das ist wirklich starker Tobak!«

»Ich brauche diesen Artikel, Antoine, schnell. Das bin ich Zoé schuldig. Ich muss dafür sorgen, dass ihre Arbeit und ihr Tod nicht umsonst waren. Bist du dir bewusst, dass du selbst in Lebensgefahr schwebst?«

Cédric Zeller hatte den Ernst der Lage sofort erkannt. Wie Le Coq war er ein investigativer Journalist, der nicht davor zurückschreckte, unbequeme Wahrheiten publik zu machen. Wie Le Coq war er berühmt und wohlhabend. Wenn jemand Zoés letzten Willen umsetzen konnte, dann er.

»Oui, oui, mach dir um mich keine Sorgen. Ich habe schon ganz andere Situationen durchgestanden. Wie gehen wir vor?«

Er wollte nicht, dass sein Freund sich um ihn sorgte, doch ihm zitterten die Knie, während er Cédric gegenüber den starken Mann gab.

»Wo bist du gerade?«

»Ich sitze im Jardin du Luxembourg auf einer Parkbank, habe mich nicht ins Büro zurückgetraut. Wenn stimmt, was Zoé befürchtete, dass eventuell staatliche Stellen und sogar hohe Entscheidungsträger in den Skandal mit verwickelt sind, dann laufe ich Gefahr, dass das iPad von der Polizei oder sogar vom Inlandsgeheimdienst konfisziert wird und der Artikel nie an die Öffentlichkeit gerät. Das darf auf keinen Fall geschehen. Du musst Zoés Artikel publik machen.«

Von der Polizei konfisziert? Wie bizarr das klang. Er war selbst Polizist, mit Haut und Haaren.

»Das war vernünftig. Du gehst jetzt in aller Ruhe durch den jardin in Richtung Quartier Latin. Im Univiertel, rund um die Sorbonne, wirst du mehrere Copyshops und Internetcafés finden.«

»Gibt es so was überhaupt noch?«

Wie ein Schuljunge ließ er sich Anweisungen von Cédric geben. Er war am Ende seiner Kräfte und froh, dass sein alter Freund das Steuer übernahm.

»Du gehst in einen der Läden. Hast du ein Kabel, mit dem du die Daten von dem Tablet auf einen anderen Rechner laden kannst?«

Selbst das hatte Zoé ihm in die Hand gedrückt. Sie hatte wirklich an alles gedacht. Er bestätigte.

»Bien! Du legst dir dort eine neue E-Mail-Adresse an. Selbstverständlich nicht unter deinem eigenen Namen! Das geht in Nullkommanix. Dann greifst du auf die Dateien auf dem iPad zu und schickst sie mir. Danach löst du die E-Mail-Adresse sofort wieder auf. Ich sichte die Unterlagen und kümmere mich um alles Weitere. Wir besprechen dann morgen, wie wir vorgehen. Ich muss erst wissen, was in den Dokumenten steht, bevor ich entscheiden kann, was zu tun ist.«

Sturni tat, wie ihm geheißen. Die Situation hatte etwas Surreales. Bei schönstem Wetter spazierte er durch den Park, während verliebte Paare die Sonne in der Stadt der Liebe genossen. Er trottete wie benebelt durchs Univiertel, vorbei an der école des mines, wo Wanzecki, Le Coq und viele der Spitzenkräfte ausgebildet worden waren, die heute die französische Atomindustrie am Laufen hielten. In der Nähe der Sorbonne fand er einen Copyshop und befolgte haarklein Zellers Anweisungen. Nachdem alle Dokumente versandt waren, löschte er die E-Mail-Adresse und stellte sicher, dass sich keine Daten auf dem Rechner des Internetshops befanden – ein Trick, den ihm Auguste Romain, Leiter ihrer IT-Abteilung in Straßburg, einmal gezeigt hatte. Er atmete tief durch. Nun lastete die Verantwortung nicht mehr allein auf seinen Schultern. Zeller war ein alter Fuchs; er würde wissen, was zu tun war.

 

Nachricht Zeller:

»Habe alles erhalten. Gönn dir erst einmal ein Bier oder ein gutes Glas Rotwein! Das hast du dir verdient. Wir sprechen morgen.«

Genau das hatte er jetzt vor, also machte er sich auf, den Sonnenuntergang an der Spitze der Île de la Cité am Pont Neuf bei einem guten Glas zu erleben. Er musste zur Ruhe kommen und verarbeiten, was heute alles passiert war. Zuvor wollte er noch das Tablet unter einer der morschen Dielen in seiner Absteige verstecken. Niemand würde es dort finden.

Er hatte Glück, selbst noch am Leben zu sein. Wäre die Detonation nur etwas stärker ausgefallen, dann wäre er jetzt mausetot. Die Erfahrung, so knapp dem Tod entronnen zu sein, hatte ihn grundlegend erschüttert und verändert. Nichts war mehr, wie es einmal war. All seine Probleme waren durch diese Erfahrung relativ geworden …

Er blinzelte in die Herbstsonne und musste zum ersten Mal an diesem Tag lächeln. Das Leben war ein Fest. Paris war ein Fest, fürs Leben! Er lebte, war gesund. Antoine nahm sich vor, jede Sekunde seines künftigen Lebens zu genießen. Selbst von seiner Mutter Clothilde würde er sich künftig nicht mehr die Laune verderben lassen.