24
La Bourgeoisie

»Tant pis pour toi – Pech für dich!«

Saba hatte seit fünf Uhr morgens die Büros in La Défence gereinigt, Toiletten geschrubbt und war gegen Mittag zu ihrem Zweitjob ins 16. Arrondissement gefahren. Dort lebte das alteingesessene Pariser Bürgertum – die bourgeoisie. Hundemüde kam sie dort an.

Die schwerreiche Familie Beaumont, die in einer dreihundert Quadratmeter großen Wohnung logierte, hatte sie eigentlich als nounou für ihre beiden Sprösslinge eingestellt. Neben der Kinderbetreuung durfte sie aber auch noch die Wohnung sauber halten, wenn eine ihrer Putzfrauen ausfiel, und kochen, wenn ihr Koch erkrankt oder mal wieder gefeuert wurde, weil madame nicht mit dem Dargereichten zufrieden war.

»Jean-Philippe, wie wäre es, wenn du mir ein wenig hilfst?«

Sie hatte normalerweise eine Engelsgeduld. Jean-Philippe, sieben Jahre alt, und Camille-Louise, neun Jahre alt, waren die verwöhntesten Gören, mit denen sie jemals zu tun hatte, und sie hatte schon bei vielen Familien in diesem Milieu gearbeitet. Einmal wurde ihr gekündigt, weil sie der Hausherrin zu hübsch war und diese die Konkurrenz im eigenen Haus fürchtete, ein anderes Mal wurde ihr vorgeworfen, sie habe sich am Portemonnaie eines der Kinder bedient; dabei hatte der verzogene Junior sein ganzes Taschengeld in Videospiele investiert und ihr einen Diebstahl unterstellt. Zweimal ging sie selbst, weil sie vom Hausherrn belästigt wurde. Von einer Strafanzeige sah sie ab, wie auch, ohne Papiere …

Jean-Philippe saß auf seinem Stockbett, schaute auf sie herab und machte sich über sie lustig, während sie sein Zimmer aufräumte. Wäre es ihr eigener Sohn gewesen, dann hätte sie ihm gehörig den Marsch geblasen.

»Hier, fang das!«

Als Jean-Philippe ihr eine seiner Ninjago-Figuren von Lego an den Kopf pfefferte, platzte ihr der Kragen. Sie zog ihn von seinem Stockbett herunter und wusch ihm gehörig den Kopf.

Dummerweise schaute just in diesem Moment seine Mutter, Bernadette Beaumont, verschlafen zur Tür herein. Es war früher Nachmittag, madame pflegte auszuschlafen, während Saba die Kinder, nachdem sie die Wohnung gereinigt hatte, von der Schule abholte, sie zu ihren Nachmittagsaktivitäten brachte oder anderweitig beschäftigen musste. Bernadette Beaumont hatte ein Alkoholproblem, trank bis spät in die Nacht und benötigte zum Einschlafen mehrere Schlaftabletten. Häufig kam sie erst am Nachmittag aus den Federn und war dann ziemlich gerädert. Saba versuchte nach Möglichkeit, nicht mehr in der Wohnung zu sein, wenn madame sich aus dem Bett schälte. Heute hatte es nicht geklappt – mit fatalen Konsequenzen.

»Mais qu'est-ce que tu fous là – was machst du da? Lass sofort meinen Sohn los!«

»Maman, Saba hat mich geschlagen!«

Wenn es darauf ankam, hielt Familie Beaumont zusammen wie Pech und Schwefel …

Auf die Idee, dass ihr verzogener Sohn eine höfliche Zurechtweisung mehr als verdient hatte, kam madame natürlich nicht.

»Das sage ich meinem Mann. Du bist die längste Zeit unsere nounou gewesen.«

Saba wusste, was nun kommen würde. Sie hatte es zuvor schon so viele Male erlebt, bei diesen degenerierten Familien des Pariser Großbürgertums. Da hörte sie plötzlich die Tür knarzen, und der Hausherr, Vincent Beaumont, betrat die palastartige Wohnung. Es war das erste Mal, dass sie ihren Brötchengeber zu Gesicht bekam; eingestellt worden war sie von Bernadette. Monsieur zog es vor, selten zu Hause zu sein. Sie konnte es ihm nicht verübeln, diese Familie war die Hölle. Vincent Beaumont war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der in der ganzen Welt umherreiste. Der größte Fehler seines Lebens war es gewesen, diese Frau geheiratet und mit ihr zwei verzogene Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Dieser zumindest in seinen Kreisen nicht reversiblen Entscheidung entzog er sich durch Flucht in Arbeit, Dienstreisen und Affären.

»Vincent, du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt. Unsere nounou – ich habe vergessen, wie sie heißt – hat unseren Sohn geschlagen! Wir müssen sie umgehend entlassen.«

»Papa, Saba hat mich vom Bett gezerrt und verprügelt!«

Da war er wieder, der enge familiäre Zusammenhalt der Beaumonts …

Vincent Beaumont hatte inzwischen seine Schuhe aus- und seine Fellpantoffeln angezogen. Man sah ihm an, dass er die Entscheidung, heute ausnahmsweise einmal nach Hause gekommen zu sein, bereits zutiefst bereute.

»Riechst du etwa nach einem Frauenparfüm?«

Es gab eine unverhoffte Wendung in der seltenen Familienzusammenkunft der Eheleute Beaumont.

»C’est qui, cette saloppe – um welches Flittchen handelt es sich diesmal?«

Saba konnte es dem armen Gatten nicht verübeln, dass er sich in Affären flüchtete, bei dieser Frau. Sofort war sie vergessen, und die Eheleute warfen sich wüste Beschimpfungen, Alkoholismus, Affären, Raffsucht, Karrieregeilheit und vieles mehr an den Kopf. Dass ihr siebenjähriger Sohn der Konversation beiwohnte, schien sie nicht zu stören, von ihrer nounou ganz zu schweigen – die zählte ja ohnehin nicht.

Als Jean-Philippe das Durcheinander nutzte und sie wieder mit Lego-Figuren bewarf, war ihr klar, dass ihr Engagement hier beendet war. Sie musste nicht darauf warten, bis sie gefeuert wurde. Leise schlich sie an den zankenden Eheleuten vorbei und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzusehen.

Saba hatte es so satt. Sie wünschte sich so sehr ein normales Leben, einen geregelten und sicheren Job, eine ordentliche Wohnung, einen festen Freund, Kinder – la vie normale, comme madame tout le monde. War denn das zu viel verlangt?

In Frankreich blieb sie eine Bürgerin zweiter Klasse, nein, nicht einmal das. Die viel gerühmten Rechte der citoyens blieben ihr komplett verwehrt, sie war niemand, existierte nicht. Saba war gut genug, um vierzehn Stunden am Tag zu schuften und Steuern zu zahlen, doch den Mund aufmachen durfte sie nicht, dann drohten ihr eine Anzeige und die Abschiebung.

Saba beschloss, das Beste aus der Situation zu machen und sich einen, ohnehin viel zu seltenen, freien Nachmittag zu gönnen. Sie musste sich dringend eine ordentliche Matratze kaufen, ihre Rückenschmerzen wurden so langsam unerträglich …