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Das Elsass in Gefahr

Er erwachte erst am späten Vormittag und war unschlüssig, was er nun tun sollte. Konnte er überhaupt noch in seinem Büro aufkreuzen? Würde er auf der Stelle verhaftet, wenn er dort erschien?

Andererseits war er immer noch französischer Polizeibeamter, der seinen Dienst verrichten musste. Über so viel Staatsvertrauen verfügte er noch. Er war sich keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, er war seiner Pflicht nachgekommen und hatte in Sachen Korruption und Sicherheitsrisiken bei der französischen Atomindustrie ermittelt – vielleicht mit mehr Erfolg, als seinen Vorgesetzten lieb war, aber dafür konnte man ihn ja schlecht zur Rechenschaft ziehen.

Er entschloss sich daher, wie jeden Morgen zu Fuß zu seinem Arbeitsplatz zu spazieren und seinen obligatorischen café mit Schokocroissant in einem der Cafés auf der Rue Saint-Jacques einzunehmen.

***

Im Büro erwartete ihn ein großes Tohuwabohu. Sein komplettes Zimmer war auf den Kopf gestellt worden, Akten lagen wahllos auf dem Boden herum, Blätter waren herausgerissen – teilweise zerrissen –, sein Computer fehlte. Schnell suchte er nach der Akte Wanzecki. Sie war verschwunden. Genau das hatte er erwartet. Was ging hier vor sich?

Er hatte nur wenige Minuten in seinem Zimmer verbracht, als sein Telefon klingelte. Sein Vorgesetzter, Iven Droumaguet, war am Apparat.

»Sturni, kommen Sie sofort in mein Büro!«

Er tat, wie ihm geheißen. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wer auch immer sein Arbeitszimmer auf den Kopf gestellt hatte, war enttäuscht worden. Die Akte von Wanzecki gab nicht viel her, und auf seinem Rechner befand sich rein gar nichts. Alles Wichtige hatte er auf dem kleinen iPad von Le Coq gespeichert, das er heute Morgen wieder hervorgekramt hatte und nun bei sich führte.

***

»Direction générale de la sécurité intérieure – französischer Inlandsgeheimdienst«, raunte ihm einer seiner Kollegen auf dem Flur zu, mit dem er sich immer gut verstanden hatte, und klopfte ihm dabei mitfühlend auf die Schulter.

Er hatte ein mulmiges Gefühl. Was würde nun passieren? Würde man ihn wegen Hochverrats anklagen? Mit einem Pulsschlag von hundertachtzig klopfte er an Droumaguets Tür.

»Entrez – treten Sie ein!«

Es war nicht die Stimme seines Chefs, die ihn aufforderte einzutreten. Sein Vorgesetzter war nicht allein. Droumaguet hatte einen hochroten Kopf, es ging ihm offensichtlich nicht gut. Zwei muskelbepackte Herren in grauen Anzügen standen links und rechts von ihm. Man hatte den Eindruck, dass sie ihn zuvor in die Mangel genommen hatten.

Die beiden Kleiderschränke kamen auf ihn zu, sahen bedrohlich aus.

»Commissaire Antoine Sturni, stellen Sie sich an die Wand! Arme und Beine auseinander!«

Kein Wort der Begrüßung, keine Vorstellung. Was zum Teufel war hier los? Hilfe suchend sah er Droumaguet an.

»Tun Sie, was von Ihnen verlangt wird. Wir haben keine Wahl!«

Er stellte sich an die Wand, hob die Hände über seinem Kopf und drückte sie gegen die Wand. Einer der beiden schob seine Beine auseinander, begann ihn abzutasten.

Sturni beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, Zoés iPad in seiner Schreibtischschublade gebunkert und nicht zur Unterredung mit seinem Chef mitgenommen zu haben. Sein Bürozimmer war schon durchwühlt worden, man würde es nicht noch einmal auf den Kopf stellen, so sein Kalkül. Ein cleverer Geistesblitz, der ihn nun vor großem Ungemach bewahrte.

»Nehmen Sie Platz! Wir haben einige Fragen an Sie.«

Gewaltsam zog der Mann ihn von der Wand und drückte ihn auf einen Stuhl. Was kam als Nächstes? Würde man ihn schlagen? Er befand sich in einer Polizeibehörde und wurde selbst rüde behandelt. Wäre er bei seinen eigenen Vernehmungen so grob vorgegangen, dann hätte er sich umgehend ein Disziplinarverfahren eingehandelt. Die allgemeinen Regeln im Polizeidienst schienen für die beiden finsteren Gesellen nicht zu gelten.

»Wo waren Sie gestern Mittag um zwölf Uhr dreißig?«

Es war sinnlos zu leugnen. Sie wussten alles, das war klar. Die Frage war nur, ob sie auch wussten oder in Erfahrung bringen konnten, dass er Zoés Artikel erhalten hatte.

»Im Restaurant Relais Plaza in der Avenue de Montaigne.«

»Mit wem haben Sie sich dort getroffen?«

Das Geplänkel konnten sie sich eigentlich sparen.

»Mit einer Journalistin.«

Die Herren wurden zunehmend ungemütlich.

»Wir wissen, mit wem Sie sich getroffen haben!«

War das noch ein Verhör oder schon eine körperliche Misshandlung? Einer seiner Peiniger stellte sich hinter ihn, legte die Hand auf seine Schulter und drückte fest zu. Es schmerzte. Diese Behandlung war absolut rechtswidrig, selbst für Geheimdienstmitarbeiter. Schließlich war er französischer Staatsbürger, selbst ein Diener dieses Staates.

»Warum fragen Sie dann?«

»Das wissen Sie ganz genau! Kurz nachdem sich Frau Le Coq mit Ihnen getroffen hat, wurde sie ermordet!«

»Werde ich verdächtigt?«

Die ganze Situation kam ihm einfach nur irrsinnig vor. Normalerweise war er es, der die Fragen stellte, und nun wurde er selbst mit haarsträubenden Verhörmethoden in die Mangel genommen.

»Sie waren der Letzte, der mit ihr gesprochen hat.«

»Das mag sein. Ich habe sie aber nicht in die Luft gejagt. Sie können mir gar nichts.«

Die beiden Geheimdienstmitarbeiter – er glaubte dem Hinweis seines Kollegen, dass sie vom Inlandsgeheimdienst waren, denn kein ordentlicher Polizist würde sich so verhalten – änderten ihre Taktik, machten auf guter und böser Cop.

»Was wollten Sie von Le Coq?«

Der gute Cop schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. Der böse löste seinen Zangengriff, verschränkte die Arme und baute sich bedrohlich vor ihm auf. Sturni zögerte, überlegte sich blitzschnell eine Strategie.

»Ich wollte sie zu ihrer Tätigkeit als investigative Journalistin im Bereich Atomenergie befragen. Das ist mein Job, Aufgabe unserer Spezialeinheit. Genau das habe ich gemacht, meine Arbeit, sonst nichts!«

Die Geheimdienstmitarbeiter sahen ihn verständnislos an. Droumaguet musste trotz der heiklen Situation schmunzeln. Sturni war nicht auf den Kopf gefallen, das musste er ihm lassen.

»Ah oui, richtig. Welche Informationen haben Sie von Frau Le Coq erhalten?«

Die beiden wurden plötzlich vorsichtiger. Wenn ihr unverschämtes Auftreten gegenüber einem gehobenen Polizeibeamten, der nur seiner Arbeit nachging, publik wurde, dann konnten sie und ihre Organisation ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Schließlich unterstanden sie alle dem gleichen Minister als oberstem Dienstherrn. Die Situation war vertrackt …

»Ich hatte mir von Frau Le Coq Informationen zu meinen Ermittlungen erhofft, wurde aber enttäuscht. Sie misstraute unserer Einheit, und ich konnte nichts in Erfahrung bringen.«

Wenn sie ihm nicht nachweisen konnten, dass er etwas von Zoé erhalten hatte, dann war er vorerst aus dem Schneider. Sie konnten ihn ja schlecht vor seinem Vorgesetzten foltern, in der Zentrale der französischen Kriminalpolizei. Das schien nun auch den beiden Geheimdienstmitarbeitern klar zu werden.

»Wenn Sie uns belogen haben und Frau Le Coq Ihnen vor ihrem Tod Informationen oder Dokumente zur Verfügung gestellt hat, dann müssen Sie mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen. Wir haben ein Auge auf Sie! Herr Droumaguet, Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

Wortlos verließen die beiden den Raum, das Verhör war zu Ende. Er hatte gesiegt, vorerst …

***

Fragend blickte er seinen Vorgesetzten an.

»Was sollte das? Könnten Sie mich bitte aufklären? Ich möchte eine formelle Beschwerde einlegen!«

Droumaguet zwirbelte nervös an seinem langen Schnauzbart. Die ganze Situation war ihm äußerst unangenehm. Er hüstelte und begann zu sprechen:

»Alors, wie erkläre ich es Ihnen am besten?«

Nach dem Anblick seines durchwühlten Büros und der Erfahrung mit den grauen Herren konnte er sich denken, was nun kommen würde. Man sah Droumaguet deutlich an, wie viel Überwindung ihn das Folgende kostete.

»Da Frau Le Coq ermordet wurde, besteht für unser Team keine Veranlassung mehr, noch weiter zu recherchieren.«

Wie bitte? Hatte er gerade richtig gehört? Keine Veranlassung mehr, zu ermitteln?

»Unsere Einheit wird in Kürze aufgelöst werden. Die Entscheidung ist auf höchster Ebene gefallen. Alle Mitarbeiter kehren zu ihren ursprünglichen Dienststellen zurück. Ich selbst gehe direkt nach Auflösung des Teams in den Ruhestand.«

Das war ja die Höhe! Zoé wurde eiskalt ermordet, und bereits am Tag darauf löste man sein Ermittlerteam auf? Wo kein Kläger, da kein Richter. Wer auch immer auf diese Idee gekommen war, würde sich warm anziehen müssen. Die Veröffentlichung von Le Coqs Artikel würde hohe Wellen schlagen, es würden Köpfe rollen. Zoé hatte in ihrem Artikel Ross und Reiter benannt und nicht davor zurückgeschreckt, die für die ganze Malaise Verantwortlichen namentlich zu benennen. Droumaguet zumindest schien froh darüber zu sein, bald in den Ruhestand gehen zu dürfen. Alles andere interessierte ihn nicht mehr.

»Für Sie gilt sogar eine Sonderregelung.«

Es war klar, dass Droumaguet nun zur entscheidenden Stelle seines kleinen Vortrags kam. Nervös nestelte er an seinem Hemdkragen herum. Fast tat er ihm leid. Er mochte Droumaguet, und ihm war klar, dass nicht er es war, der die Entscheidungen traf. Man hatte einen sympathischen, hochrangigen, aber der Aufgabe nicht gewachsenen Polizeibeamten ausgewählt, um diese vermeintliche Spezialeinheit zu leiten, und nun lief den Verantwortlichen die ganze Geschichte aus dem Ruder.

»Sie werden hiermit mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Selbstverständlich unter Beibehaltung Ihrer vollen Bezüge.«

Das zumindest war eine gute Nachricht. Es hätte auch schlimmer für ihn kommen können …

»In vierzehn Tagen kehren Sie zurück auf Ihre Stelle in Straßburg. Bis dahin sind Sie von jeglichen Dienstverpflichtungen freigestellt.«

Er hatte hier ohnehin nichts mehr verloren. Gemeinsam mit Zeller würde er die gesamte französische Atomindustrie hochgehen lassen, natürlich nur bildlich gesprochen. Da würde auch keine »Sonderermittlereinheit« die dafür Verantwortlichen vor den Konsequenzen bewahren können. Er erhob sich von seinem Sessel und begab sich in Richtung Tür. Droumaguet nahm ihn dabei freundschaftlich am Arm.

»Noch eine kleine Sache. Es ist Ihnen ab sofort untersagt, dieses Gebäude nochmals zu betreten. Sie müssen es sogar sofort verlassen und dürfen nichts mitnehmen. Außerdem müssen Sie sich zur Verfügung halten, dürfen Paris nicht verlassen. Anweisung der Organisation, mit deren Vertretern Sie gerade Bekanntschaft geschlossen haben. Die Typen sind nicht zimperlich. Für die gelten andere Spielregeln als für uns. Seien Sie vorsichtig, Sturni!«

Droumaguet hatte einen hochroten Kopf, ihm war die ganze Angelegenheit unheimlich peinlich.

»Mir sind die Hände gebunden. Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ich weiß, dass Sie ein hervorragender Polizist sind und dass diese Behandlung völlig unangemessen ist.«

»C’est n’est pas grave – das ist nicht schlimm, Sie können ja nichts dafür.«

»Sie sind in Straßburg besser aufgehoben. Paris ist ein Haifischbecken, und man sollte sich nicht zu lange darin aufhalten, wenn man seine Integrität bewahren will. Lassen Sie die Finger von dieser Geschichte! Vergessen Sie es einfach! Es ist besser so für Sie, glauben Sie mir!«

Der Ton seines supérieur hatte etwas Flehentliches. Er war in ernster Sorge um seinen Mitarbeiter. Sturni umarmte ihn herzlich und verabschiedete sich.

Sein Direktor hatte sich das Ende seiner Karriere bestimmt anders vorgestellt. Ein halbes Jahr bezahlten Urlaub in Paris, bevor er sich in einem bretonischen Fischerdorf dem wohlverdienten Ruhestand widmen und Kriminalromane lesen konnte. Nun war ihm durch den Mord an Le Coq und die damit verbundene Auflösung des Ermittlerteams klar geworden, dass er instrumentalisiert worden war. Er hatte seinen Namen und seinen guten Ruf für eine Alibiveranstaltung hergegeben, hatte sein ganzes Leben lang geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen, zu den Guten zu gehören, und wurde nun, in den letzten Wochen seines Dienstes, auf schmerzliche Weise eines Besseren belehrt.

Im Hinausgehen verabschiedete sich Sturni von seinen Kollegen. Einige waren schon dabei, ihren Schreibtisch aufzuräumen; das ganze Team befand sich in Auflösung. Zwar hatte er in den letzten Wochen keine engeren Beziehungen zu ihnen geknüpft, doch er empfand große Sympathie für das Kollegium, ehrenwerte Polizeibeamte, die im Rahmen ihrer Fähigkeiten ihr Bestes gegeben hatten. Bevor er endgültig hinauskomplimentiert wurde, stahl er sich nochmals in sein Büro und holte Zoés iPad aus seiner Schreibtischschublade …

***

Nachdem er das Gebäude verlassen hatte, überlegte Sturni, was er nun anstellen sollte. Alles hing von Cédric Zeller ab. Er war es, der Zoés Vermächtnis umsetzen und ihren Artikel veröffentlichen musste. Zeller war der Medienprofi, dagegen war er nur ein unbedeutender commissaire, der – schon wieder und rein zufällig – in eine große Geschichte gestolpert war.

Ziellos schlenderte er von der Île de la Cité auf die Île Saint-Louis und besorgte sich ein großes Eis bei Berthillon, wahrscheinlich sein letztes während seines Aufenthalts in Paris. Er hatte die Stadt, der er anfangs so kritisch gegenüberstand, mittlerweile lieb gewonnen. Natürlich freute er sich auf Straßburg, auf Margaux, Christian, doch er würde auch etwas zurücklassen – Saba Sané.

 

Nachricht Margaux:

»Weshalb meldest du dich nicht? Stimmt etwas nicht? Gibt es eine andere Frau?«

Er sollte Margaux anrufen, doch momentan war ihm nicht danach. Sturni wusste nicht, wo ihm der Kopf stand, und er wollte ihr nichts vormachen. Wie kam sie darauf, dass es eine andere Frau geben könnte? Verfügte sie über einen siebten Sinn? So, wie sie sich während ihres schiefgelaufenen Wochenendes mit grand-mère verhalten hatte, interessierte ihn vielmehr, ob es bei ihr einen anderen Mann gab …

Gedankenverloren trottete er vom Quai d’Anjou auf den Boulevard Henri IV, bis er am anderen Ende der Île Saint-Louis angekommen war. Das kleine Eckhaus zwischen den Straßen hatte es ihm besonders angetan. Sollte er es einmal zum Multimillionär bringen, dann würde er es als Feriendomizil erwerben; sein Erstwohnsitz bliebe selbstverständlich Straßburg.

Er überquerte den Pont de Sully und fand sich wieder vor dem Institut du Monde Arabe. Von dem Café auf der Dachterrasse sollte man den besten Blick auf die Kathedrale Notre-Dame haben. Außerdem würde man dort den besten marokkanischen Minztee der Stadt servieren, hatte Abdel ihm auf ihrer nächtlichen Dachparty erzählt. Es gab noch so vieles, was es in dieser Stadt zu entdecken galt und wozu er nun keine Zeit mehr haben würde.

Auf der Dachterrasse angekommen, bestellte er den von Abdel empfohlenen Tee und genoss die Aussicht auf die weltberühmte Kirche. Er zückte sein portable und wählte die Nummer von Gilbert Kleitz:

»Antoine, weshalb nur habe ich auf deinen Anruf gewartet?«

»Ich wollte mich erkundigen, wie du mit den Ermittlungen im Fall Wanzecki weiterkommst?«

Oberste Priorität hatte gerade die Veröffentlichung von Le Coqs Unterlagen. Abgesehen davon waren aber immer noch zwei Morde aufzuklären, und Gilbert Kleitz konnte ihm am ehesten weiterhelfen. Er war der ermittelnde commissaire.

»Es gibt keinen Fall Wanzecki mehr, zumindest nicht mehr für mich.«

»Raconte!«

»Mir wurde der Fall heute Morgen offiziell entzogen. Eine noch zu gründende Sondereinheit bei der Generaldirektion der police nationale wird sich um den Fall kümmern, Place Beauvau, 8. Arrondissement, höher geht es nicht.«

Nach dem heute Erlebten überraschte ihn diese Information überhaupt nicht mehr.

»Hast du vom Mord an Zoé Le Coq gehört?«

»Wie könnte ich nicht davon gehört haben. Die Medien überschlagen sich ja geradezu. Eine der bekanntesten Journalistinnen Frankreichs, und darüber hinaus noch stinkreiches Kind der französischen haute société, wird bei einem Sprengstoffanschlag auf der Avenue Montaigne vor dem luxuriösesten Hotel in Paris ermordet. Die Schlagzeile findest du in allen Gazetten auf der ersten Seite.«

»Seid ihr bei den Ermittlungen mit im Boot?«

Er hörte ein kehliges Lachen am anderen Ende der Leitung.

»Du machst Witze! Wir dürfen ja nicht mal im Fall Wanzecki weiterermitteln. Kaum war mein Team vor Ort, erschien ein hochrangiger Mitarbeiter der police nationale und teilte mit, dass er die Ermittlungen übernehmen werde. Seitens der Polizei dürfe keine Auskunft über das Attentat gegeben werden, die nicht vorab von ihm persönlich autorisiert wurde – ein totaler Maulkorb also.«

Wo war er da nur wieder reingeraten?

»Gibst du auf?«

»Du kennst mich. Ich gebe niemals auf, aber im Moment sind mir einfach die Hände gebunden.«

Sturni verabschiedete sich und legte auf. Er beglich die Rechnung, lehnte sich noch ein wenig über die Brüstung der Dachterrasse des Institut du Monde Arabe und genoss den Blick auf Notre-Dame. Was für ein Baudenkmal!

Wenige Minuten später befand er sich wieder auf der Straße, ließ sich treiben, spazierte an der Seine entlang in Richtung Jardin des Plantes. Direkt am Fluss erstreckten sich Tanzflächen, auf denen er mit Olivia an heißen Augustabenden Salsa geübt hatte. Bei dem Gedanken daran wurde er ganz nostalgisch.

*

Endlich kam der lang ersehnte Anruf von Cédric Zeller. Seiner Stimme konnte er entnehmen, wie sehr ihn der Tod seiner Ex-Freundin getroffen hatte. Trotzdem war er aufgekratzt wie selten.

»Antoine, die Operation läuft auf Hochtouren. Wir werden Zoés Mission erfüllen, koste es, was es wolle.«

Es sprudelte aus ihm heraus wie ein Wasserfall. Sturni kam gar nicht zu Wort, konnte keine Fragen stellen. Das war aber auch gar nicht notwendig. Zeller teilte ihm alles mit, was er wissen musste.

»Ich bin mit einem Verleger befreundet, der eine der größten belgischen Tageszeitungen herausgibt. Er bringt Zoés Artikel morgen auf den ersten vier Seiten, ungekürzt und mit ihrem Namen als Verfasserin. Leider konnte ich in Frankreich keine große Tageszeitung dazu bringen, den Artikel abzudrucken. Ihr Tod ist zu frisch, die Anschuldigungen klingen zu monströs, und die Verbindungen zwischen Politik und der Presse sind zu eng.«

Zeller redete sich in Rage.

»Macht aber nichts. Parallel zur Veröffentlichung ihres Artikels geht eine Zusammenfassung über alle Ticker der großen Nachrichtenagenturen: Reuters, dpa, Agence France-Presse. Innerhalb von Minuten werden sich ihr Artikel und die Aufdeckung des Skandals rund um den Globus verbreiten. Ich habe alle meine Kontakte spielen lassen.«

»Du bist einfach der Beste. Was würde ich ohne dich machen?«

»Ich mache das für Zoé. Ihre Abrechnung mit der französischen Atomindustrie ist so umfassend und fundiert, dass der Artikel Konsequenzen haben wird. Würde mich nicht wundern, wenn wir kurz nach der Veröffentlichung eine Ansprache des Präsidenten zur Lage der Nation aus aktuellem Anlass hören würden …«

»Merci, pour tout – danke, für alles …«

Er wollte gerade auflegen, als Zeller noch etwas einfiel.

»Hast du eigentlich auch Zoés Kapitel über das elsässische Atomkraftwerk gelesen?«

Sturni hatte gestern im Jardin du Luxembourg den Artikel und die weiteren Unterlagen nur überflogen. Das hatte gereicht, um bei ihm alle Alarmglocken läuten zu lassen. Ein Abschnitt über den maroden Atommeiler im Elsass war ihm dabei wohl entgangen.

»Non, was hat es denn mit dem alten Schrottmeiler auf sich?«

Er war überrascht, zu erfahren, dass dieser alte Kasten überhaupt noch am Netz war. Das älteste Atomkraftwerk Frankreichs stand dummerweise nur etwa zwanzig Kilometer von seinem Heimatdorf Ribeauvillé entfernt. Schon zigmal hatte die Politik versprochen, das Pannenkraftwerk endlich abzuschalten, und den Termin dann doch immer wieder verschoben. Offensichtlich war das bis heute noch nicht geschehen.

»Solltest du unbedingt noch lesen, und zwar heute und nicht erst morgen in der Zeitung. Kein Wunder, dass du noch in Paris sitzt. Hättest du ihn gelesen, dann hättest du dich schon längst aufs Pferd oder zumindest in den nächsten TGV gesetzt, um dein geliebtes Elsass zu retten.«

»Spann mich nicht länger auf die Folter!«

»Wenn alle Aussagen in Zoés Artikel stimmen, wovon ich ausgehe, dann ist der Meiler so marode, dass es jederzeit zu einem Super-GAU kommen könnte. Es ist grob fahrlässig, das Ding noch weiterlaufen zu lassen, und jedermann weiß es. Er wurde nur aus einem Grund noch nicht abgeschaltet, weil er den Konzernen nach wie vor schöne Gewinne einbringt und schon längst abgeschrieben ist.«

Sturni war gespannt wie ein Flitzebogen. Er musste unbedingt das Kapitel lesen, das ihm bei der gestrigen Lektüre entgangen war. Was für ein grober Fauxpas! Er beendete das Gespräch, und beide verabredeten sich zu einem gediegenen dîner in Paris, wenn alles vorbei war.

Inzwischen war er im Jardin des Plantes angekommen. Er setzte sich auf eine Parkbank, holte Zoés iPad heraus, schaltete es ein und suchte fieberhaft nach den Unterlagen, die das elsässische Atomkraftwerk betrafen. Mit stockendem Atem begann er zu lesen.

Es war genauso, wie Zeller es ihm angekündigt hatte. Von allen Atomkraftwerken in Frankreich war das elsässische mit Abstand am stärksten risikobehaftet. Schon längst hätte es stillgelegt werden müssen. Dass es pannenanfällig war, war allgemein bekannt. Was er jedoch hier zu lesen bekam, setzte dem Ganzen die Krone auf.

Neben den bekannten Störfällen gab es noch eine Vielzahl von Zwischenfällen, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Selbst die Aufsichtsbehörden hatten trotz der ungesunden Nähe zu den Konzernen, die sie eigentlich überwachen sollten, in internen Papieren wieder und wieder die sofortige Abschaltung des Hochrisikoreaktors gefordert – ohne Erfolg. Die Atomlobby war stärker. Wirtschaftsinteressen gingen vor der Sicherheit der citoyens – der Bürgerinnen und Bürger –, mal wieder. Le Coq kam zu dem Schluss, dass im Elsass jeden Moment eine Katastrophe passieren konnte, welche die Region für Jahrhunderte unbewohnbar machen würde.

In ihren Quellen fand er auf einem internen Aktenvermerk, der niemals hätte an die Öffentlichkeit gelangen sollen, handschriftliche Notizen. Nach Auffassung des anonymen Verfassers müsse man es mit der Sicherheit in diesem Kraftwerk nicht ganz so genau nehmen. Schließlich stehe es direkt an der französischen Ostgrenze, und der Wind wehe hier verlässlich gen Osten, das heißt Richtung Deutschland. Ein atomarer Zwischenfall würde Frankreich demnach kaum belasten, sondern nur die Nachbarn in Freiburg, Stuttgart, München. Waren wir nicht mit denen seit vielen Jahrzehnten befreundet, schoss es Sturni durch den Kopf?

Weiter wurde in der handschriftlichen Notiz ausgeführt, dass im Falle eines atomaren Zwischenfalls auf französischer Seite lediglich ein Radius von etwa fünfundzwanzig Kilometern um das Kraftwerk akut betroffen sei: Colmar, Kaysersberg, Ribeauvillé, das müsse man dann eben als Kollateralschaden in Kauf nehmen. Sturni ließ vor Schreck das iPad fallen. Hatte er richtig gelesen? Ribeauvillé, ein Kollateralschaden?

Das Elsass war in Gefahr. Bei seiner Heimat hörte der Spaß endgültig auf. Er musste sofort nach Hause und nach dem Rechten sehen. Zur Not würde er den Pannenreaktor eigenhändig abschalten. Auf seinem portable suchte er die nächste TGV-Verbindung von Paris nach Straßburg. Zut – Mist – alle Verbindungen zwischen Paris und Straßburg waren für heute ausgebucht, und im TGV bestand eine Reservierungspflicht für Sitzplätze, man konnte nicht einfach so mitfahren. Die nächste Möglichkeit gab es erst wieder morgen gegen Mittag, das war viel zu spät. Bis dahin konnte der Reaktor schon längst in die Luft geflogen sein!

Plötzlich fiel ihm Olivia ein. Sie hatte ein eigenes Auto, das immer in der Nähe ihres chambre de bonne parkte; es handelte sich zwar nur um einen alten Citroën 2CV, aber immerhin. Schnell wählte er ihre Nummer.

»Antoine, wo steckst du? Ich sitze gerade mit Saba und Abdel auf unserer neu entdeckten Dachterrasse, und wir genießen den Himmel über den Dächern von Paris. Wir sollten hier eine illegale Cocktailbar eröffnen, was meinst du? Ist doch eine super Geschäftsidee. Du hängst einfach deinen Beamtenjob an den Nagel und ziehst nach Paris …«

Sturni hatte keine Zeit für solche Fantastereien. Noch war der Himmel über Paris nicht verstrahlt, aber das konnte jederzeit passieren. Jede Minute zählte.

»Olivia, ich habe nicht viel Zeit. Kannst du mich mit deinem Auto ins Elsass bringen, vorerst nach Straßburg? Die Sicherheit Frankreichs steht auf dem Spiel!«

Olivia musste herzhaft lachen. Ihm wurde bewusst, wie abwegig ihr seine Aussage vorkommen musste. Andererseits war sie immer für ein Abenteuer zu haben, in jeder Hinsicht …

»Wenn die Sicherheit Frankreichs auf dem Spiel steht, dann kann ich dich ja nicht hängen lassen. Ihr Franzosen konntet euch schon immer auf uns Amerikaner verlassen, wenn es drauf ankam. Selbst unser Präsident wird daran nichts ändern. Klar bringe ich dich in die Heimat. Wochenlang bist du mir in den Ohren gelegen, wie schön es dort ist. Jetzt will ich es auch mal mit eigenen Augen sehen, Straßburg und das Elsass.«

Ein Stein fiel ihm vom Herzen.

»Abdel und Saba haben heute und morgen übrigens ausnahmsweise frei. Sie kommen bestimmt auch mit. Das wird doch lustig, ein richtiges Abenteuer. Wir könnten ein road-movie drehen: »Ein commissaire, eine durchgeknallte Amerikanerin und zwei illegale Afrikaner in einem 2CV von Paris nach Straßburg« – das wird bestimmt ein Hit!«

Antoine war nicht nach Lachen zumute.

»Ich bin in wenigen Minuten bei euch. Packt schon mal einige Sachen zusammen. Ich habe auch noch Proviant in meinem Zimmer. Den sollten wir mitnehmen, für Notfälle.«

»Dein elsässisches Sauerkraut in Dosen? Das müssen wir unbedingt in unser road-movie einbauen …«

Selbst die Perspektive einer nächtlichen Sauerkrautverkostung auf einer französischen Autobahnraststätte konnte Olivia nicht den Spaß verderben. Sie war Feuer und Flamme für ihr neues Abenteuer und hatte noch keine Ahnung vom Ernst der Lage.

Er hetzte zu Fuß vom Jardin des Plantes über die Rue Mouffetard, wo er ebenfalls schöne Abende mit Olivia verbracht hatte, Richtung seiner Wohnung. Schon Ernest Hemingway – so seine Reiseführerin Olivia – verbrachte hier in den legendären Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine gute Zeit. Inzwischen war das nette Gässchen überschwemmt von Touristen und hatte viel vom Charme vergangener Tage verloren.

Am Place de la Contrescarpe passierte er ein Gebäude, dessen Fassade ein aus der Zeit gefallenes Gemälde zierte. Bei dem Bild mit dem Titel »AU NÈGRE JOYEUX« – zum fröhlichen Neger – hatte er sich immer gefragt, ob diese Überschrift in der heutigen Zeit auf so einem belebten Platz noch politiquement correct – politisch korrekt – war.

Bei Gelegenheit würde er nachforschen, was es damit auf sich hatte; jetzt war keine Zeit dafür. Vielleicht sollte sich der Stadtrat mal mit der Thematik befassen. Zumindest wäre mal eine Infotafel mit einer Erklärung über dieses Relikt aus vergangenen Zeiten angebracht. Er bog ein in die Rue Blainville und hatte es fast geschafft.