»Qu'est-ce qu'il veut cette fois – was will er denn diesmal schon wieder?«
Antoine Sturni stand gerade im Vorzimmer seines Direktors bei Elodie Lenz und nutzte die übliche lange Wartezeit für ein Schwätzchen, bevor er in die Höhle des Löwen gerufen wurde.
»Ich habe wirklich keine Ahnung. Er hat ein richtiges Staatsgeheimnis daraus gemacht. Aber ich muss Sie warnen. Seine Lippen umspielte immer ein süffisantes Lächeln, wenn er davon sprach, dass er demnächst mal ein ernstes Wörtchen mit Ihnen reden müsse.«
Das verhieß nichts Gutes. Besprechungen mit seinem direkten Vorgesetzten verhießen eigentlich nie etwas Gutes …
Wie immer ließ Bouget ihn ewig im Vorzimmer warten, obwohl er genau wusste, dass Sturni da war – ein Mittel, um ihm seine Macht zu demonstrieren. Gute Personalführung sah anders aus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es so weit. Direktor Bouget rief seine Vorzimmerdame an und teilte ihr mit, dass sein für Mord und Totschlag zuständiger commissaire nun zur Audienz zu ihm kommen könne.
Elodie zwinkerte Sturni verschwörerisch zu und kniff ihm leicht in die Seite, als sie die Tür zum Büro des Direktors öffnete, um ihn hineinzulassen.
»Mein lieber Sturni, da sind Sie ja endlich.«
Ich bin schon seit fast einer Stunde hier, und das weißt du auch ganz genau, dachte er bei sich, lächelte aber nur freundlich.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Direktor?«
»Nicht so förmlich, mein Bester. Es gibt eine wichtige Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen muss.«
Er fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Bouget war scheißfreundlich wie selten, und das konnte nur bedeuteten, dass er einen Anschlag auf ihn vorhatte.
»Wie ich Ihnen bereits sagte, war ich sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit bei der Lösung des Mordes an Dr. Hasselfeld.«
Das hatte sich während seiner Ermittlungen aber ganz anders angehört. Damals hatte Bouget gedroht, ihn von dem Fall abzuziehen. Nach der Lösung des Falls hatte Bouget sich dann vor die Presse gestellt und so getan, als habe er den Mord am Kabinettschef des Präsidenten der Europäischen Kommission im Alleingang aufgeklärt.
»Allerdings sind mir bei Ihrer Ermittlungsarbeit einige Defizite aufgefallen, die eine Führungskraft, zumindest innerhalb meiner Polizeidirektion, nicht haben darf.«
Defizite? Wo bitte hatte er Defizite? Er hatte den komplexen Fall bravourös gelöst und Europa vor seinem Untergang bewahrt. Was wollte sein Chef denn noch?
Bouget selbst war seiner Auffassung nach das personifizierte charakterliche Defizit. Das sollte also kein Karrierehindernis sein, im Gegenteil.
»Sie sind ein hervorragender Ermittler, mit dem richtigen Riecher. Sie verstehen doch, was ich meine.«
Der Direktor schnickste ihm kumpelhaft mit dem Zeigefinger gegen seine zugegebenermaßen etwas zu groß geratene Nase. Dabei hielt er ihm die Hand vor sein Riechorgan, drückte seinen Zeigefinger gegen seinen Daumen, setzte ihn so unter Spannung und ließ ihn dann schnalzen, sodass sein Zeigefinger mit voller Wucht gegen Sturnis Nasenspitze titschte.
So viel camaraderie hatte er bei seinem sonst so distanzierten Vorgesetzten noch nie erlebt. Den Nasenschnickser empfand er als direkten Eingriff in seine Intimsphäre, wollte aber mit einem Protest noch abwarten, bis er wusste, worauf Bouget mit seinem eigentümlichen Verhalten hinauswollte. Er rieb sich mit den Fingern über seine schmerzende Nasenspitze und wartete ab.
»Was Ihnen ein wenig fehlt, ist Weltläufigkeit, Esprit. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass Sie sich mit den Ermittlungen im Brüsseler Milieu etwas schwergetan haben.«
Das konnte man wohl sagen. Nicht zuletzt deshalb, weil sein Direktor ihm untersagt hatte, just in diesem Milieu zu ermitteln.
Zugegebenermaßen sprach Bouget mit seiner Kritik einen wunden Punkt an. Er war ein elsässisches Landei. Die Ermittlungen in der großen, weiten Welt, die ihn in diesem Mordfall nach Brüssel und Frankfurt führten, hatten ihm viel abverlangt. Antoine bekam Beklemmungen, wenn er das Elsass verlassen musste, und sein Direktor wusste um diese Schwäche.
»Deshalb habe ich mich dazu entschieden, Ihnen eine Personalentwicklungsmaßnahme angedeihen zu lassen.«
Personalentwicklungsmaßnahme? Angedeihen zu lassen? Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Befördern konnte man ihn nur noch zum Polizeidirektor, einem Posten, den Bouget selbst einnahm, und er wäre wirklich der Letzte, der ihn für seine eigene Nachfolge vorgeschlagen hätte. Hatte Bouget vor, ihn zu versetzen? Etwa in die IT-Abteilung, zu Auguste Romain? Der Gedanke trieb ihm Angstschweiß auf die Stirn.
»Ich habe mit dem Präfekten gesprochen, und er ist einverstanden. Wir werden Sie für einige Zeit abordnen, und zwar nach Paris.«
Erneut verpasste ihm sein Direktor einen kumpelhaften Schnickser, diesmal gegen seinen Bauch. Seit der Lösung seines letzten komplexen Mordfalls hatte er sich einige Pfunde abtrainiert, trotzdem war sein Bauchansatz immer noch eine sensible Schwachstelle, an der er nicht gerne angefasst wurde, schon gar nicht von seinem direkten supérieur! Das Verhalten seines Direktors war ihm entschieden zu privat und verunsicherte ihn. Er zuckte zusammen, zog den Bauch ein und nahm Haltung an. Vielleicht war es genau das, was sein Vorgesetzter erreichen wollte …
Bouget strahlte ihn an, als habe er ihm gerade mitgeteilt, dass er im Lotto gewonnen habe.
Sturni hingegen erstarrte vor Schreck, nachdem er den ersten Schock mit dem Bauchschnickser verdaut hatte. Hatte er richtig gehört? Paris? Das war Hunderte Kilometer vom Elsass entfernt. In Ordnung für einen Tagesausflug oder ein langes Wochenende, aber eine Versetzung, wenn auch auf Zeit …
Sein Vorgesetzter schien ihn missverstanden zu haben, grinste ihn weiter breit an. Oder grinste er etwa so dreist, weil er genau wusste, was das für Sturni bedeutete? Wochen, vielleicht Monate entfernt von seiner vertrauten Heimat.
»Sie haben richtig gehört, Paris! Die schönste Stadt der Welt und das Zentrum der Grande Nation, zu der, ob Sie es wollen oder nicht, auch das Elsass gehört.«
»Für wie lange muss ich denn nach Paris?«, fragte Sturni kleinlaut.
Er schwankte leicht, suchte Halt und fand ihn in einem von Bougets schweren Sesseln aus schwarzem Glattleder, in den er sich, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, einfach sinken ließ.
»Es ist alles für Sie organisiert. In drei Tagen geht es los. Sie werden für drei Monate zu einer Spezialeinheit der direction centrale de la police judiciaire – der Zentrale der französischen Kriminalpolizei – versetzt, die sich mit Steuerstrafsachen und Wirtschaftskriminalität beschäftigt. Die Ermittlergruppe wurde erst vor Kurzem eingerichtet und soll sich mit möglichen Ungereimtheiten bei französischen Atomkonzernen beschäftigen.«
Drei Monate? Steuerstrafsachen und Wirtschaftskriminalität? Atomkonzerne? Sturni wurde kreidebleich. Er befürchtete, die Fassung vollends zu verlieren, und klammerte sich verkrampft an seinen Sitzlehnen fest, als Bouget fortfuhr.
»Seit Monaten übt eine landesweit bekannte Journalistin öffentlich Druck auf die Regierung aus. Über einen Blog verbreitet sie unhaltbare Behauptungen, dass es bei unseren Atomkonzernen nicht mit rechten Dingen zugehe. Was erlaubt sich diese impertinente Person! Schließlich handelt es sich bei diesen Unternehmen um die Filetstücke unserer Wirtschaftsnation, um die weltweit bewunderte Ingenieurskunst der Grande Nation. Unsere Atomkraftwerke sind schließlich die besten und sichersten der Welt!«
Sturni war in seinem Sessel zu einem Häuflein Elend zusammengeschrumpft, bekam Bougets Monolog nur noch am Rande mit. Er, ganz allein, in Paris? Ohne Margaux, ohne Christian und weit weg von seinem geliebten Straßburg …
»Damit diese Frau die Öffentlichkeit nicht völlig verrückt macht, hat die Regierung kürzlich eine Sondereinheit aus verschiedenen Spezialisten eingesetzt, die den Vorwürfen nachgehen soll. Alle Anschuldigungen werden sich selbstverständlich als völlig haltlos erweisen. Sie dürfen für drei Monate ein Teil davon sein! Das Innenministerium hat mich nach meinem besten Mann für den Job gefragt, und ich habe gleich an Sie gedacht. Verstehen Sie es als Auszeichnung!«
Antoine Sturni, ein Fachmann für Steuerstrafsachen und Wirtschaftskriminalität? Was war das für ein Quatsch! Mit der flachen Hand wedelte er sich etwas frische Luft zu und versuchte, seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bekommen.
»Die kleine Ermittlertruppe untersteht direkt dem Generaldirektor der police judiciaire. Ihr neues Büro liegt auf der Île de la Cité, mitten im Herzen von Paris. Île de la Cité, Sturni, zentraler geht es in Paris nicht!« Bouget geriet ins Schwärmen.
Den Kriminalhauptkommissar überkam dagegen der Schwindel. Zum Glück lümmelte er auf Bougets gemütlichem Bürosessel, sonst hätte es ihm schon längst die Füße weggezogen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«
Selbst seinem egomanisch veranlagten Vorgesetzten war nun aufgefallen, dass sein ranghöchster Ermittler in Sachen Mord und Totschlag kurz vor dem Kreislaufkollaps stand. Er schenkte ihm ein Glas Mineralwasser ein und reichte es ihm. Sturni trank hastig und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Vor seinem Vorgesetzten wollte er sich nicht die Blöße eines Schwächeanfalls geben. Ruckartig stand er auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
»So gefallen Sie mir schon wieder viel besser. Ich wusste, dass ich Ihnen damit eine Freude mache.«
Bouget klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. Eine ebenfalls ungewohnte Geste von seinem geschniegelten, aalglatten und sonst stets auf Distanz bedachten Vorgesetzten. Wenigstens gab es keine weiteren peinlichen Schnicksereien mehr, die hätten ihm den Rest gegeben.
»Und was ist mit meinem Morddezernat in Straßburg?«
Sturni suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, das drohende Übel doch noch abzuwenden.
»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. François Straumann wird Sie während Ihrer Abwesenheit vertreten. Er ist ein erfahrener Beamter und genießt mein vollstes Vertrauen.«
Ein plötzlicher Hustenanfall überkam ihn. Straumann, ein erfahrener Beamter, der Bougets vollstes Vertrauen genoss? Was zum Teufel war hier los? Da konnte man nur hoffen, dass es in den nächsten drei Monaten in Straßburg ruhig bleiben würde. Straumann war ein netter Kerl, aber stinkfaul und als Ermittler wahrlich keine Leuchte. Allerdings war er nun mal sein dienstältester Inspektor und damit sein Stellvertreter. Immerhin hatte Bouget seine Stelle nicht mit einem jungen Emporkömmling nachbesetzt, was dafür sprach, dass er nach den drei Monaten auf seine alte Stelle zurückkehren durfte. Straumann konnte die Aufgabe unmöglich dauerhaft übernehmen, wollte es auch gar nicht.
»Ihre neue Dienststelle hat sich um alles gekümmert. Selbst eine Wohnung hat die police judiciaire für Sie angemietet. In Paris ist das ja schließlich nicht so einfach, bei den Mietpreisen dort. Sie werden sehen, dass diese Erfahrung Ihr Leben verändern wird. Ich selbst kenne Paris wie meine Westentasche, für mich ist es das kulturelle Zentrum der Welt. Die Zeit dort wird Ihren Horizont erweitern und, nehmen Sie es mir nicht übel, das ist bei Ihnen auch mal bitter nötig.«
Bouget komplimentierte ihn aus seinem großen stylischen Büro, wobei er ihn immer noch etwas stützen musste, und knallte die Tür hinter ihm zu. Die Audienz war beendet. Es war ausgemachte Sache, um die Entsendung nach Paris kam er nicht mehr herum.
Elodie Lenz schaute ihn besorgt an. Sie stützte ihn mit einem beherzten Griff unter seine Arme und platzierte ihn auf ihrem Bürostuhl, bevor sie ihm einen Marc de Gewürz in ein kleines Schnapsglas eingoss, den sie für solche Fälle immer in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrte. Bei den Allüren ihres Chefs war diese Form der Stärkung häufiger nötig und den Beamten der Polizeidirektion nach einer Audienz bei ihrem directeur sehr willkommen. Der elsässische Edelbrand tat schnell seine Wirkung, und Sturnis Lebensgeister kehrten zurück.
»Was hat er Ihnen angetan?«
Er schluckte, rang um Fassung und antwortete schließlich mit erstickter Stimme: »Er schickt mich fort. Nach Paris …«
»Mon dieu, das kann er doch nicht machen. Paris ist doch Lichtjahre vom Elsass entfernt.«
Mit der TGV-Direktverbindung waren es zwar nur noch eine Stunde und siebenundvierzig Minuten, aber was hatte das bei eingefleischten Elsässern schon zu bedeuten?
»Für drei Monate …«
Er ließ sich von Elodie ein weiteres Glas des hochprozentigen Tresterschnapses einschenken und kippte ihn in einem Zug hinunter.
»Wie kann er nur so herzlos sein. Nur weil er selbst Paris für den Nabel der Welt hält, muss das nicht automatisch auch für uns Elsässer gelten.«
Elodie konnte bestens nachvollziehen, wie er sich fühlte. Straßburg und das Elsass waren ihr Ein und Alles.
Immerhin hatte sie es – im Gegensatz zu Sturni, der das Elsass in seinem ganzen Leben kaum verlassen hatte – auch schon in die große, weite Welt hinausgezogen. Ihre Verlobungsreise führte sie nach Martinique in der Karibik und ihre Hochzeitsreise sogar nach La Réunion im Indischen Ozean. Da es sich bei beiden tropischen Inselparadiesen um französische Übersee-Départements handelte, musste sie zumindest Frankreich für ihre Ausflüge in die große, weite Welt nicht verlassen. Das wäre dann doch zu viel verlangt gewesen …
Es blieb offen, ob Bouget ihn mit der Entsendung in diese Spezialeinheit bestrafen oder belohnen wollte. Schließlich konnte sein Direktor es selbst kaum erwarten, seiner eigenen Versetzung in die elsässische Provinz ein Ende zu bereiten und möglichst bald einen attraktiven Posten in Paris zu ergattern, idealerweise in einem der Ministerien. Bouget war Karrierist durch und durch, und so hatte er sich dazu bereit erklärt, die Straßburger Polizeidirektion im fernen Elsass zu übernehmen, um auf der Karriereleiter voranzukommen. Glücklich war er hier nicht. Seine Versetzung nach Straßburg verglich er im trauten Kreis seiner Pariser Eliteabsolventen gerne mit einer Verbannung nach Sibirien.
Der Kommissar gab sich einen Ruck, leerte das letzte Tröpfchen Marc aus dem Schnapsglas und erhob sich schwungvoll aus Elodies gemütlichem Bürostuhl.
»Es hilft alles nichts, Elodie, da muss ich jetzt durch. Wir sehen uns in drei Monaten.«
Er drückte Bougets Sekretärin fest an sich, als sei es ein Abschied für immer, und stürmte dann aus ihrem Büro, bevor ihm vor lauter Selbstmitleid noch die Tränen kamen.