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Banges Warten

Die Karawane fuhr mit Blaulicht, Vollgas und einem Hochgefühl im Bauch zurück nach Straßburg. Für seinen Sohn Christian war er mal wieder der Held, auch wenn ihm nicht zu hundert Prozent klar war, was da gerade vor sich gegangen war.

Sturni selbst war etwas mulmig zumute. Ihm war durchaus bewusst, was er gerade angestellt hatte. Vor seinem inneren Auge listete er die Dienstvergehen und sogar Straftaten auf, die er soeben begangen hatte, Amtsanmaßung und einiges mehr – er stand mit einem Bein im Gefängnis.

Zurück im hôtel de police entließ er zunächst die uniformierten Polizisten. Anschließend lud er seine beiden Teams noch auf ein gemeinsames Mittagessen ein, bevor Olivia, Abdel und Saba sich wieder auf den Weg nach Paris machen würden. Auf Olivia wartete ihre Arbeit im Louvre, und auch Abdel und Saba mussten wieder ihre Frondienste verrichten.

Sturni selbst wusste nicht so recht, was er nun anstellen sollte. Er beschloss, den Ball flach zu halten und einfach mal abzuwarten. Offiziell war er beurlaubt und sollte erst übernächste Woche wieder seinen Dienst als Leiter der Mordkommission in Straßburg antreten. Solange er nicht verhaftet wurde oder anderweitige Anweisungen erhielt, hatte er also zwei Wochen bezahlten Urlaub …

Wie selbstverständlich steuerte er vom Polizeipräsidium aus im Gefolge seiner Getreuen das Corde à Linge an, sein Lieblingsrestaurant in Straßburg. Der Blick von der Terrasse des Restaurants auf die an der Ill liegenden Fachwerkhäuser, die kleinen Fußgängerbrücken und die Schleusen, durch die die Touristenboote – wie am Canal Saint-Martin – nach oben beziehungsweise unten bewegt wurden, war für ihn einer der schönsten Straßburgs. Er atmete tief durch und war froh, wieder zu Hause zu sein; schließlich war das Corde à Linge so etwas wie sein zweites Zuhause.

Olivia war begeistert von Straßburg und löcherte ihn mit Fragen zur Geschichte der Stadt. Sturni kam in Bedrängnis; auf einmal wurde ihm bewusst, wie wenig er im Grunde genommen über seine Wahlheimat wusste. Er nahm sich vor, sich bei Gelegenheit einmal intensiv mit der Stadtgeschichte zu beschäftigen. Abdel und Saba waren ebenfalls hochzufrieden und genossen es, dem Pariser Großstadtdschungel und ihren harten Jobs für kurze Zeit entfliehen und einige unbeschwerte Moment erleben zu dürfen – schließlich standen sie gerade unter »Polizeischutz«, eine Abschiebung war damit nicht zu erwarten.

Sturni war gerührt, wie froh Straumann und Isinger darüber waren, dass ihr alter Chef wieder an Bord war. Sie mussten sich aber noch etwas gedulden. Er würde erst in zwei Wochen wieder im hôtel de police erscheinen.

Christian überschlug sich mit Fragen, was soeben im Atomkraftwerk eigentlich vorgefallen war und was das überhaupt ist – Atomkraft.

Nur Margaux blickte sauertöpfisch drein. Sie schien die Affäre zwischen Antoine und Saba zu spüren, konnte aber nichts beweisen und ihm daher keine Vorhaltungen machen. Er beschloss, es dabei zu belassen, da er sein junges Glück nicht durch die Beichte eines One-Night-Stands unnötig belasten wollte. Sie würde sich schon beruhigen, sobald er wieder dauerhaft in Straßburg war.

***

Nachdem er Olivia, Saba, Abdel und den treuen 2CV verabschiedet hatte, verbrachte er den restlichen Tag mit Margaux und Christian im Parc de l'Orangerie. Es war noch kein endgültiger Abschied von seinen Pariser Freunden. Er würde noch einmal zurückkehren, um seine restlichen Sachen abzuholen. Außerdem gab es noch etwas, das er unbedingt erledigen wollte.

Die nächsten Tage verbrachte er gespannt wie ein Flitzebogen. Täglich studierte er nicht nur die Dernières Nouvelles d'Alsace, sondern auch ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten die überregionalen Zeitungen. Jeden Vormittag stürmte er zum Briefkasten, seine endgültige Suspendierung vom Dienst befürchtend, doch es geschah – nichts.

In den Medien wurde sein Freund Cédric Zeller als der große Held gefeiert, der den letzten Willen seiner ehemaligen Liebe Zoé Le Coq vollstreckt und das Kartenhaus der französischen Atomindustrie zum Einsturz gebracht hatte. Es war völlig konsequent und logisch, dass Le Coq ihm das brisante Papier vor ihrer Ermordung hatte zukommen lassen, damit er es veröffentlichen konnte, falls ihr selbst etwas zustoßen sollte. Schließlich waren die beiden einmal ein Paar und gehörten zur crème de la crème der unabhängigen Journalisten. Zeller spielte mit und verheimlichte – natürlich in Absprache mit seinem alten Freund – Sturnis Rolle bei der ganzen Geschichte.

Nach einigen Tagen war Sturni klar, dass er damit durchkommen würde. Seine eigenmächtige Aktion im elsässischen Atomkraftwerk war nicht von Belang. Das Kraftwerk wurde auf Anordnung des Präsidenten der französischen Republik abgeschaltet, die heldenhafte Rolle von commissaire Antoine Sturni interessierte keinen. Sein Glück ging sogar so weit, dass niemand – nicht einmal die Uniformierten, von denen er nicht wusste, wie gut sie auf ihn zu sprechen waren – den Vorfall gegenüber Bouget erwähnte. Direktor Bouget war im Präsidium so verhasst, dass keiner auf die Idee gekommen wäre, ihn zu verpetzen.

Für ihn würde also alles beim Alten bleiben, und das war genau das, was er sich sehnlichst wünschte. Selbst Margaux’ Wut war nach einigen Tagen verraucht. Sie war nicht der Typ, der dauerhaft eingeschnappt und eifersüchtig sein konnte, schließlich war sie selbst auch kein Kind von Traurigkeit. Was in Paris auch immer geschehen sein mochte, blieb in Paris; sie hatte ihren Antoine zurück, und das war das Entscheidende für sie.

Bevor er seinen Dienst in Straßburg wieder antrat, konnte er sich demnach in aller Ruhe dem Anliegen widmen, das er unbedingt noch umsetzen wollte. Er führte mehrere Telefonate mit Gilbert Kleitz und Cédric Zeller, bevor er sich noch einmal nach Paris begab.