Mit letzter Kraft erreichte Abdel den Strand. Alle Insassen des völlig überfüllten kleinen Holzbootes, die noch dazu in der Lage waren, sprangen ins Wasser und wateten die letzten Meter ans Ufer, bevor das Boot selbst dort anlandete.
Neugierige Touristen kamen herbei, einige machten Fotos mit ihren Handykameras, andere reichten den Migranten Plastikflaschen mit Wasser. Er widerstand der Versuchung, sich eine Flasche Wasser zu greifen. Jetzt zählte jede Sekunde. In der Ferne hörte er bereits die Sirenen der Polizei. Abdel war Algerier, hatte quasi keine Chance auf ein Bleiberecht in Europa. Wenn die spanischen Behörden ihn schnappten, dann wäre alles umsonst gewesen. Sie würden ihn zurück nach Algerien schicken.
Er hastete über den Sand und flüchtete sich in das hinter dem offenen Strandabschnitt gelegene Gestrüpp und Unterholz. Auch hier war er noch nicht in Sicherheit. Die Polizei hatte den Strand erreicht und ließ ihre Spürhunde aus den Fahrzeugen. Das Bellen war weithin zu hören und versetzte die Flüchtenden, die sich in alle Winde zerstreuten, in Angst und Schrecken. Sie würden nicht nur am Strand, sondern auch im Hinterland nach ihnen suchen.
Einige waren zu schwach und schafften es nicht einmal mehr, das Boot zu verlassen. Sie wurden von der Polizei aus dem Boot geholt und in Gewahrsam genommen. Ihre Odyssee endete am Strand des gelobten Kontinents Europa.
Sein alter Freund Farid war nicht einmal so weit gekommen. Gemeinsam mit Djamal waren sie schon vor Wochen illegal von Algerien nach Marokko gereist. Häufig mussten sich die drei vor der Polizei mit ihren Spürhunden verstecken, und auch die einheimische Bevölkerung war ihnen nicht wohlgesinnt. Sie litten an Hunger und Durst, und ihre Körper waren völlig ausgezehrt, als sie in der vereinbarten Nacht das Boot der Schlepper erreichten. Obwohl sie diesen Kriminellen viel Geld bezahlt hatten, wurden sie von ihnen wie Vieh behandelt. Als sich Farid darüber beschwerte, wurde er von den Schleppern schwer misshandelt. Mit den Kolben ihrer Gewehre prügelten sie auf ihn ein und verletzten ihn am Kopf, Rücken und an den Armen. Djamal und Abdel mussten tatenlos zusehen, hingen sie doch vollkommen von ihren Schleppern ab. Außerdem waren ihre Peiniger bewaffnet und sie nicht.
Farid war so ausgezehrt, dass er die Überfahrt nicht überlebte. Er starb in Abdels Armen an Hunger, Durst und den Schlägen der Schlepper. Sie packten seinen Leichnam und warfen ihn einfach über Bord. Das kleine Schiff war völlig überfüllt, und die Schlepper waren froh um jeden Migranten, den sie tot über Bord werfen konnten. Das Geld hatten sie ohnehin bereits eingestrichen. Abdel ballte die Faust und weinte stumm, als er seinen toten Freund im dunklen Wasser verschwinden sah. Widerstand wäre zwecklos gewesen, sie hätten ihn erschossen und ebenfalls über Bord geworfen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Moment.
Djamal war mit ihm vom Boot gesprungen und über den Strand gehastet. Sie wussten, dass dies der kritische Punkt ihrer Reise werden würde, und hatten vorab vereinbart, sich hier zu trennen und später wieder zusammenzukommen. Am Hafen von Marbella hatten die drei Freunde einen Treffpunkt vereinbart; dort wollten sie sich beim Blick auf die Luxusjachten ausmalen, wer von ihnen es als Erster schaffen würde, ein Leben in Saus und Braus zu führen.
Abdel hastete durch das Gestrüpp, schürfte sich an vielen Stellen Arme und Beine auf, rannte, bis er nicht mehr konnte. In einer kleinen Holzhütte fand er Unterschlupf und wartete, bis es dämmerte. Von Ferne hörte er die Polizei mit ihren Hunden. Viele der Bootsflüchtlinge, die es nicht weit genug ins Hinterland geschafft hatten, wurden von der Polizei aufgegriffen. Ihnen drohte die Abschiebung. Die Chance auf Asyl in Spanien ging gegen null. Unter den Migranten war allgemein bekannt, dass die spanische Polizei nicht zimperlich mit ihnen umging. Keinesfalls durfte man sich von ihr erwischen lassen.
Erst in den frühen Morgenstunden war die Luft rein. Abdel schälte sich aus seinem Versteck und machte sich auf zu ihrem Treffpunkt nach Marbella.