Die Fischerträge waren seit Jahren zurückgegangen. Für Amadou lohnte es sich kaum noch, jeden Tag aufs Meer hinauszufahren; der Fang reichte nicht mehr aus, um das Benzin für die kleine Piroge und die zwei weiteren Fischer, die bei ihm angestellt waren, zu bezahlen.
Die großen Fischtrawler aus Europa, Russland und China hatten das Meer vor der Südküste Senegals leer gefischt, und die Fischbestände erholten sich nicht mehr, auch wenn die Regierung nun versuchte, den Raubbau vor ihrer Küste einzudämmen, um den lokalen Fischern ihre Lebensgrundlage nicht gänzlich zu entziehen. Leider ohne Erfolg – die großen Konzerne in den Industriestaaten waren einfach stärker als das kleine und arme Senegal.
Zu schaffen machten seiner Familie auch die immer gewaltigeren Stürme und der kontinuierlich ansteigende Meeresspiegel. Schon zweimal war ihr kleines Haus, das direkt an der Küste stand, überflutet worden, und sie hatten einen großen Teil ihres Hab und Guts verloren. Amadou wusste nicht, wie lange er auf dieser Basis noch durchhalten konnte.
Zunächst entließ er einen seiner Fischer. Als auch das nicht reichte und er immer häufiger nach Hause kam, ohne zu wissen, was seine Frau am Abend zubereiten sollte, sah er die Zeit gekommen, die Großfamilie zusammenzurufen. Sie war das soziale Netz in Notfällen, vom Staat hatten sie nichts zu erwarten. Alle folgten seinem Ruf; sie saßen auf dem Boden seiner bescheidenen Behausung, um ein ausführliches Palaver abzuhalten:
»Meine Lebensgrundlage ist zerstört. Ich kann meine Familie nicht mehr ernähren. Bevor ich komplett bankrott bin, werde ich meine Piroge verkaufen.«
»Ihr könntet zu uns nach Dakar kommen. Für einige Zeit könnt ihr bei uns wohnen, bis du eine neue Arbeit gefunden hast. Ich werde dir dabei helfen.«
Einer seiner Cousins war als Händler in Dakar zu bescheidenem Wohlstand gelangt. Gäbe es ihn nicht, wären schon viele Familienmitglieder nicht mehr aus einem finanziellen Engpass herausgekommen und auf der Straße gelandet. Nun drohte Amadou und seiner Familie dieses Schicksal. Er hatte auf das Wohlwollen seines wohlhabenden Verwandten gehofft, dem Oberhaupt der Großfamilie.
»Ich danke dir und nehme dein Angebot gerne an. Um meine Frau und mich mache ich mir keine Sorgen, wir werden auch in Dakar irgendwie über die Runden kommen. Meine Sorge gilt meinem einzigen Kind, meiner Tochter Saba. Ich sehe keine Perspektive für sie in unserem Land.«
Im Gegensatz zu den meisten Familien im Senegal hatten Amadou und seine Frau nur ein Kind. Es war Gottes Entscheidung gewesen, die er demütig akzeptierte, obwohl seine Frau und er sich so sehr weitere Kinder gewünscht hatten. Amadou war dennoch ein glücklicher Mann. Er liebte seine Tochter über alles. Saba war ein selbstbewusstes und ungestümes Kind. Nun aber machte er sich ernste Sorgen um ihre Zukunft. Er würde ihr nicht bieten können, was er für sie geplant hatte: eine solide Ausbildung, ein besseres Leben, was man sich eben so wünscht für sein einziges Kind.
»Ich kann euch nicht alle unterbringen. Wir müssen für Saba eine andere Lösung finden. Warum schicken wir sie nicht nach Europa? Dort könnte sie Arbeit finden und euch finanziell unterstützen. Ihr werdet nicht jünger. Früher oder später werdet ihr auf finanzielle Hilfe angewiesen sein. Wie soll das im Senegal funktionieren, mit nur einem Kind, und dann auch noch einem Mädchen?«
Daran hatte Amadou auch schon gedacht. Er würde seine Piroge und sein Haus verkaufen und hätte somit zum ersten Mal in seinem Leben eine etwas größere Summe Bargeld zur Verfügung. Sein Cousin würde etwas dazugeben, das würde reichen, um die Schlepper zu bezahlen. Dennoch zögerte Amadou. Saba war sein einziges Kind, und er wollte sie nicht verlieren. Er wusste um die Gefahren, die eine Überfahrt nach Europa mit sich bringen würde. Seine Tochter würde ihr Leben riskieren, um ihre Familie später einmal von Europa aus unterstützen zu können.
»Die spanische Regierung verhandelt bereits mit unserer Regierung. Schon bald werden Boote der spanischen Küstenwache direkt vor unseren Küsten patrouillieren. Dann gibt es für uns nur noch den Weg über Land, durch Mauretanien und Algerien oder Marokko; das ist viel zu gefährlich für eine junge Frau. Das würde sie nicht überleben. Wenn Saba in Europa ihr Glück finden soll, dann muss es schnell geschehen. Ich werde mich an den Kosten beteiligen und verlange keine Gegenleistung dafür.«
Amadou bat sich einige Tage Bedenkzeit aus. Es war die schwerste Entscheidung, die er in seinem Leben zu treffen hatte. Er wusste, dass Saba ihren eigenen Weg gehen wollte. Auf keinen Fall würde sie früh heiraten, Kinder bekommen und vom Wohlwollen eines Ehemanns abhängig sein wollen, wie es in seiner Generation üblich gewesen war. Er sprach mit ihr und wog die Chancen und Risiken gemeinsam mit ihr ab.
Saba hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Sie wollte weg von hier, weg aus dem Senegal, am liebsten nach Frankreich. Paris war das Ziel ihrer Träume. Sie kannte die Stadt aus dem Fernsehen, hatte Bilder von der Avenue des Champs-Élysées gesehen. Die Models der Pariser Modewoche waren ihre großen Vorbilder. Sie wusste, dass sie eine Naturschönheit war und von den Modemachern entdeckt werden würde, wenn sie erst einmal in Paris wäre.
Schweren Herzens willigte Amadou ein. Er verkaufte seine Piroge und sein dem Untergang geweihtes Haus für einen viel zu geringen Preis, und die Familie zog nach Dakar. Sein Cousin hatte bereits alles für Saba in die Wege geleitet. Sie war gerade einmal sechzehn Jahre alt …