Es dauerte zehn Minuten, bis Sturni sein schweres Gepäck in den wenigen noch freien Gepäckfächern verstaut und seinen Sitzplatz eingenommen hatte. Der Zug war voll bis auf den letzten Platz.
Aus den beiden Weinkisten hatte er sich eine Flasche Pinot blanc vom Weingut seines Bruders Philippe mit an seinen Platz genommen, um mit dem guten Tropfen seine Nerven zu beruhigen. Lauwarm schmeckte der Wein zwar nicht besonders, aber etwas Besseres war nun mal nicht zur Hand.
Das Weingut der Familie lag im Herzen von Ribeauvillé und hatte eine lange Tradition. Als Sturni klein war, hatte sein Vater noch Massenweine zu billigen Preisen hergestellt. Es blieb nicht viel dabei hängen. Sein Bruder hatte nach Übernahme des Unternehmens den Ausbau der Weine grundlegend geändert. Jetzt produzierte die Familie geringere Mengen, dafür von hoher Qualität. Das zahlte sich aus. Während Sturnis Kindheit noch von eher ärmlichen Verhältnissen geprägt war, so hatte es Philippe inzwischen zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Da von Anfang an klar war, dass sein Bruder den Betrieb übernehmen würde, entschied er sich für den Polizeidienst. Er neidete Philippe den hart erarbeiteten Erfolg nicht, denn schließlich war er es, der mit seinen Eltern – beziehungsweise seit dem Tod seines Vaters nur noch mit seiner Mutter – im gleichen Dorf leben musste. Sturni wollte um nichts in der Welt mit ihm tauschen …
Aus dem Fresspaket seiner Inspektoren nahm er sich noch einen großen kouglof alsacien traditionnel mit, einen nach traditionell Elsässer Art gebackenen Gugelhupf. Wie immer, wenn er im Stress war, beruhigte er sich mit großen Mengen Süßigkeiten, ein Grund für sein leichtes Übergewicht, dem er schon seit einiger Zeit mit überschaubarem Erfolg den Kampf angesagt hatte. Gerne hätte er sich jetzt eine seiner filterlosen Gauloises angezündet, doch Rauchen war im TGV leider nicht erlaubt.
Zum Glück hatte er einen Vierersitz mit einem kleinen Tischchen in der Mitte bekommen. Er würde die Unterlagen der direction centrale de la police judiciaire also in aller Ruhe durcharbeiten können. Seine Sitznachbarn begrüßte er mit einem freundlichen bonjour und wunderte sich darüber, dass diese indigniert von ihm wegrückten, gerade so, als habe er eine ansteckende Krankheit. Sturni war es egal, er musste sich auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren.
Mit einem Korkenzieher, den er seit Studienzeiten immer bei sich führte, öffnete er den Pinot blanc und schwatzte einem der Getränke und Süßigkeiten anbietenden Servicemitarbeiter einen Pappbecher ab, in den er seinen Wein goss. Gekonnt schnitt er mit einem kleinen Taschenmesser den Gugelhupf auf und bediente sich reichlich.
Nachdem er sich einigermaßen gestärkt hatte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und öffnete den Briefumschlag mit dem Schreiben seiner neuen Dienststelle. Zwei seiner Sitznachbarn erhoben sich derweil, vermutlich, um auf die Toilette zu gehen oder um sich ebenfalls ein gutes Glas Wein im Bordbistro zu gönnen. Hätten sie ihn gefragt, dann hätte er ihnen auch gerne ein Gläschen beziehungsweise einen Pappbecher mit Pinot blanc abgegeben. Der dritte Sitznachbar kauerte sich in seiner Sitzecke zusammen. Sturni war versucht, ihn zu fragen, ob es ihm nicht gut gehe und ob er ihm eine kleine Stärkung anbieten könne.
Das Schreiben enthielt zunächst nicht viel Neues. Von Direktor Bouget wusste er bereits, dass man ihn für eine Spezialeinheit der direction centrale de la police judiciaire vorgesehen hatte, die direkt dem Direktor der police judiciaire unterstand. Er würde also ganz nah am Zentrum der Macht arbeiten. Darüber gab es nur noch die Generaldirektion der police nationale. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, gemeinsam mit Spezialisten aus ganz Frankreich, eventuelle Unregelmäßigkeiten bei Konzernen der französischen Atomindustrie zu untersuchen, die sich überwiegend in Staatsbesitz befanden. Aus dem Schreiben ging hervor, dass die von Teilen der Presse aufgestellten Behauptungen vermutlich jeder Grundlage entbehrten, dass aber dennoch ein unabhängiges Ermittlerteam der Sache auf den Grund gehen müsse. Wie von Bouget angekündigt, würde sich sein neues Büro tatsächlich auf der Île de la Cité am Quai des Orfèvres befinden – zentraler ging es in Paris wirklich nicht.
Es musste sich also um eine ernste Angelegenheit handeln, sonst wäre das Ermittlerteam nicht so hoch angesiedelt worden. Sturni wunderte sich nur darüber, dass man ausgerechnet ihn für diese Spezialeinheit ausgewählt hatte. Er hatte keine Ahnung von Steuerbetrug und Wirtschaftskriminalität, von der französischen Atomindustrie schon zweimal nicht. Er bezog seinen Strom zu Spottpreisen, und mehr wollte er darüber auch gar nicht wissen. Was also sollte er dort? Es handelte sich um milliardenschwere Konzerne, und die Sachverhalte, die es zu untersuchen galt, waren bestimmt hochkomplex. Er war Experte für Mordermittlungen, etwaige Tricksereien und Bilanzfälschungen großer Konzerne interessierten ihn nicht die Bohne.
Inzwischen hatte sich auch sein letzter Sitznachbar Hals über Kopf verabschiedet, wobei er sich die Hand vor den Mund hielt. Es schien ihm wirklich nicht gut zu gehen …
Nun kam der interessante Teil des Briefes. Bisher hatte er noch keine Ahnung, wo er in Paris überhaupt wohnen sollte. Er ging einfach in bester französischer Beamtenmanier davon aus, dass Vater Staat schon alles für ihn organisiert hätte.
Die Verwaltung der police judiciaire informierte ihn darüber, dass das Polizeiwohnheim, in dem man ihn ursprünglich unterbringen wollte, leider kurzfristig verkauft worden war. Der französische Staat sparte derzeit an allen Ecken und Enden, und die horrenden Immobilienpreise in Paris hatten ihn wohl dazu bewogen, eine weitere millionenschwere Immobilie aus dem Staatsbesitz im Herzen von Paris zu verkaufen.
Man habe aber in aller Eile Ersatz gefunden und ein Apartment auf dem privaten Wohnungsmarkt für ihn angemietet. Angegeben wurde eine Adresse in der Rue Saint-Jacques im 5. Arrondissement. Dort möge er bitte bei Stevenson klingeln. Eine Dame werde ihm öffnen und ihm seine Wohnung zuweisen.
Sturni ging zu einem seiner Koffer und kramte den Stadtplan von Paris hervor, den er vor der Abreise noch bei seiner Lieblingsbuchhandlung – Librairie Internationale Kléber – in Straßburg besorgt hatte. Dabei stellte er fest, dass nicht nur sein Vierersitz, sondern auch die Sitzplätze um ihn herum inzwischen leer waren. Das ganze Abteil kam ihm nun seltsam verwaist vor. Komisch, dabei war es doch noch voll wie eine gestopfte elsässische Gans, als er den Zug betreten hatte.
Auf dem Stadtplan suchte er nach seiner neuen Wohnung. Die Generaldirektion der police judiciaire hatte sich wirklich nicht lumpen lassen. Die Wohnung befand sich in einem der teuersten Stadtteile von Paris, dem 5. Arrondissement, und der Jardin du Luxembourg, Sehnsuchtsort der meisten Pariserinnen und Pariser, war nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Er nahm sich vor, jeden Morgen im Park joggen zu gehen, bevor er zur Arbeit ging, um endlich wieder in Form zu kommen. Als Polizeibeamter hatte er sich schließlich fit zu halten; das war seine Pflicht, die er im letzten Jahr nach seiner Trennung von Caroline sträflich vernachlässigt hatte. Auch sein Arbeitsplatz lag so nah, dass er ihn bequem von seiner Wohnung aus zu Fuß erreichen konnte. Das gefiel ihm. Im Herzen war er immer ein Dorfmensch geblieben, der es schätzte, seine Wege zu Fuß zurückzulegen. Daher hatte er sich in Straßburg für den Stadtteil Krutenau als Wohnort entschieden, ein altes Dorf im Herzen der Stadt, nur wenige Gehminuten vom berühmten Straßburger Münster entfernt.
Um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, stand er auf und beugte sich interessiert über den Pariser Stadtplan, wobei ein kleines Päckchen aus seiner Hemdentasche auf den Plan fiel.
Straumanns Munsterkäse!!! Wegen des emotionalen Stresses der letzten Tage hatte er sich einen Schnupfen zugezogen, der seinen Geruchssinn beeinträchtigte. Außerdem war er ob des anstehenden Abenteuers so aufgeregt, dass er Straumanns olfaktorische Atombombe ganz vergessen hatte …
Nun wurde ihm schlagartig klar, weshalb das halbe Abteil leer war. Das kleine Päckchen stank einfach bestialisch. Sturni wurde rot vor Scham. Wie konnte er dieses Wunderwerk elsässischer Käseherstellung am besten loswerden? Bei dreihundert Sachen, die der TGV fuhr, konnte er es ja schlecht aus dem Fenster werfen … Es hätte auch nichts gebracht, den Käse in den Müll zu werfen, der explosive Geruch hätte sich nicht einmal mit einer Vakuumverpackung eindämmen lassen.
Es half alles nichts. Sturni wickelte den Käse aus seiner Papierverpackung und schnitt ihn tatkräftig mit seinem kleinen Taschenmesser auf. Er belegte das letzte Stück seines Gugelhupfs mit dicken Scheiben Käse und biss herzhaft hinein.
Das würde er François Straumann heimzahlen, ihn in eine so peinliche Situation zu bringen … Allerdings musste er seinem Inspektor in der Hinsicht recht geben, dass es sich um eine der besten Sorten Munsterkäse handelte, die er jemals gegessen hatte. Auch seine neue Kreation in Kombination mit dem feinen Gugelhupf gefiel ihm bestens. Er goss sich den letzten Schluck Pinot blanc in seinen Pappbecher der SNCF, der französischen Bahn. Nachdem die Flasche leer und der letzte Krümel seines neuen Leibgerichts »Munsterkäse auf Gugelhupf« vertilgt war, hatte er sich genug Mut angetrunken und fühlte sich hinreichend gestärkt für die Herausforderungen, die nun auf ihn zukamen.
Aus dem Fenster sah er bereits die ersten Vororte von Paris an sich vorbeirauschen – kein besonders schöner Anblick. Der TGV bremste langsam ab, in wenigen Minuten würde er an der Gare de l’Est ankommen. Sturni versuchte, sich noch einen Moment zu entspannen, bevor er sich in den Trubel der Großstadt stürzen würde.