Sturni wartete, bis alle Passagiere den Zug verlassen hatten. Einige Sitznachbarn waren in das Abteil zurückgekehrt, nachdem er François’ Abschiedsgeschenk verspeist hatte. Dann atmete er tief durch, zählte bis zehn, gab sich einen Ruck und wuchtete sein ganzes Hab und Gut aus dem TGV.
Da stand er nun mit seinen Unmengen an Gepäck, die er irgendwie ins südlich der Seine gelegene 5. Arrondissement bringen musste. Der Bahnsteig war inzwischen leer; er stand dort mutterseelenallein, und so fühlte er sich auch.
Die Gare de l’Est, der Pariser Fernbahnhof mit den Zugverbindungen in den Osten Frankreichs, war in den letzten Jahren umfassend renoviert worden. Er sah bei Weitem nicht so schön aus wie manch anderer Bahnhof in Paris, doch immerhin konnte man sich auf dem Bahnhofsgelände inzwischen einigermaßen sicher fühlen. Wiederwillig hatte er früher mit Caroline, die Paris für die romantischste Stadt der Welt hielt, ab und an Tagesausflüge oder verlängerte Wochenenden hierher unternommen und kannte sich daher ein wenig aus.
Für ein Taxi war Sturni zu geizig, blieben also nur die Pariser Metro und das Reseau Express Regional, kurz RER, das Netz der Pariser Regionalzüge. Bereits der Weg zum nächsten Ticketautomaten, bei dem er sich eine Zehnerkarte – un carnet de dix – für die Pariser Metro kaufen konnte, verlangte ihm einiges ab. Hätte ihm seine Dienststelle ein Erste-Klasse-Ticket spendiert, dann hätte er die Metrotickets auch direkt im TGV kaufen können. Paris im August war drückend heiß, und der Schweiß rann ihm aus allen Poren.
Zumindest diese Hürde nahm er mit Bravour, und kurz darauf hielt er die zehn Tickets für die Pariser U-Bahn in den Händen. Ein erstes Erfolgserlebnis …
Schon im Zug hatte er sich auf seinem Stadtplan – bei Munsterkäse auf Gugelhupf – mit der Pariser Metro beschäftigt. Linie vier würde ihn von der Gare de l’Est nach Les Halles bringen. Dort musste er umsteigen. Ab Châtelet Les Halles konnte er den RER bis zur Haltestelle Luxembourg nehmen. Von dort aus wäre es nur noch ein Katzensprung bis in seine komfortable Wohnung …
Um an das Gleis der Metro zu gelangen, musste er zunächst eine Schleuse passieren. Das Ticket wurde dabei in einen kleinen Schlitz gesteckt, eingezogen, entwertet und dann wieder ausgespuckt. Danach öffnete sich die Schleuse, durch die man schnell hindurchgehen musste, bevor sie sich wieder schloss. Zuvor war noch das entwertete Ticket wieder entgegenzunehmen. Für den ganzen Vorgang blieb nicht viel Zeit …
Sturni beobachtete gebannt einige Passanten, die gekonnt ihr Ticket einführten, es wieder entnahmen und schnell durch die sich öffnende Absperrung huschten. Junge Burschen ohne Tickets sprangen einfach über die etwa hüfthohe Sperre und sparten sich so das Ticket. So weit, so gut. Die Frage war nur, wie er mit seinem Seesack, zwei schweren Koffern, einem großen Fresskorb und zwei zugegebenermaßen bereits angebrochenen Kisten Wein diesen engen Durchgang passieren sollte.
Er wuchtete seinen prall gefüllten Seesack und die beiden Koffer über das Hindernis. Hinter ihm bildete sich eine Schlange ungeduldiger Touristen, die möglichst schnell zu ihrem Hotel gelangen wollten. Mit den beiden Weinkisten und dem Fresspaket sollte es ihm eigentlich gelingen, den engen Durchgang zu passieren. Schließlich hatte er seit dem Mordfall an Dr. Hasselfeld einiges abgenommen. Mit einer Weinkiste unter dem Arm schob er das Metroticket in die dafür vorgesehene Öffnung. Es wurde eingezogen, abgestempelt und kam nach kurzer Zeit zurück. Ruckartig öffnete sich die Schleuse vor ihm. Nun musste jede Bewegung sitzen, es kam auf die Sekunde an.
Zwischen Zeige- und Mittelfinger nahm er das Ticket wieder in Empfang, stürmte los und … blieb mitten im Durchgang stecken. Er hatte sich verschätzt. Fresskorb, Sturni und Weinkisten passten einfach nicht durch den engen Spalt. Außerdem bremsten ihn Seesack und Koffer aus, die nicht weit genug hinter der Schleuse standen. Er konnte sich drehen und wenden, wie er wollte, es gab kein Durchkommen für ihn. Da halfen auch die abgespeckten Kilos nichts … Die Touristengruppe hinter ihm, vermutlich Deutsche, begann lauthals zu lachen und sich über ihn lustig zu machen, anstatt ihm zu helfen.
Plötzlich eilte ihm ein freundlicher Engel zu Hilfe.
»Puis-je vous aider? – Kann ich Ihnen helfen?«
Eine junge Frau, die sich hinter der Schleuse befand, nahm ihm die Weinkisten ab. Das war seine Rettung. Mit dem Fresskorb passte er locker durch die enge Passage. Er kletterte über Seesack und Koffer, und eine Minute später hatte er es tatsächlich mit seinem ganzen Gepäck in den Innenbereich der Metrostation geschafft, dank seiner hübschen Helferin.
Sturni war einigermaßen sprachlos. Er hatte immer gedacht, die Pariserinnen seien allesamt zickig und arrogant. Dem Mythos, dass es sich bei ihnen um die perfekten weiblichen Geschöpfe handele, war er nie auf den Leim gegangen. Er hatte keine Ahnung, wie sich dieses völlig falsche Bild der Pariserinnen im Ausland hatte durchsetzen können. Im Elsass jedenfalls galt »die Pariserin« als Inkarnation der connasse, der blöden Zicke.
Diese junge Frau hingegen war bildhübsch – okay, das waren zugegebenermaßen viele Pariserinnen. Sie trug ein leichtes Kleid mit Blümchenmuster und lächelte ihn auch noch freundlich an. Das passte so überhaupt nicht in sein Pariser Frauenbild. Vielleicht doch eher eine ausländische Studentin?
»Mais …, merci …«
Sturni suchte nach einer Möglichkeit, sich erkenntlich zu zeigen. Aus seinem Fresskorb kramte er eine Dose mit feinster Gänsestopfleber und reichte sie der jungen Frau.
»C’est rien – keine Ursache …«
Die hübsche Gestalt winkte dankend ab, schenkte ihm ein weiteres Lächeln und verschwand in Richtung Metro.
Plötzlich schoss es ihm siedend heiß durch den Kopf. Vielleicht war das alles nur eine üble Masche, und er hatte sich von dem schönen Gesicht blenden lassen wie ein blauäugiger deutscher Tourist? Schließlich war er in Paris … hier gab es Taschendiebstähle und sonstige Abzocken an jeder Ecke. Das hier war nicht die heile Welt des Elsass.
Schnell fasste er an seinen Bauch. Im Au Vieux Campeur an der Rue du 22 Novembre in Straßburg hatte er sich vor seiner Abreise noch eingehend beraten lassen und verschiedene Gegenstände für den Großstadtdschungel eingekauft. Eine ultrahelle Taschenlampe, einen Gaskocher, Campingbesteck und – ganz wichtig – einen Bauchgurt, um seine Wertsachen sicher zu verwahren. Er atmete auf, als er den Gurt samt Inhalt fühlte. Vielleicht war er doch etwas zu voreingenommen gegenüber den Pariserinnen, nicht alle schienen schlecht und durchtrieben zu sein.
Das Umsteigen an der Station Les Halles klappte schon etwas besser. Zwar musste er eine gefühlt endlose Strecke zurücklegen, um von der Metrostation zum RER zu gelangen, doch blieb ihm die Sicherheitsschleuse diesmal erspart. Als er in Luxembourg ankam, hatte er bereits dazugelernt. Er bat einen älteren und seriös aussehenden Herrn um Unterstützung, und mit vereinten Kräften beförderten sie sein Gepäck sicher zum Ausgang.
Belustigt nahm der ältere Herr eine Dose Sauerkraut als Dankeschön entgegen, die Gänsestopfleber wollte Sturni nun doch lieber für zu erwartende schwere Stunden aufbewahren.
Wieder an der Erdoberfläche angelangt, blickte er direkt auf den Jardin du Luxembourg. Der Anblick erinnerte ihn an den Parc de l’Orangerie in Straßburg. Hier würde er sich wohlfühlen.
Das Schlimmste war geschafft, nur noch wenige Minuten Fußweg trennten ihn von seiner Wohnung, wo er sich erst einmal von den erlittenen Strapazen erholen wollte. Er ging den Boulevard Saint-Michel ein kleines Stück in Richtung Seine, bog in die Rue Roller-Collard ein, wandte sich auf der Rue Saint-Jacques nach links, und schon stand er vor seiner neuen Wohnung. Sturni traute seinen Augen nicht. Vor ihm erhob sich ein großbürgerliches, außen reichlich mit Stuck verziertes Gebäude. Vor jedem Fenster gab es einen kleinen Austritt, der mit einem gusseisernen Gitter gesichert war.
Er hatte eine grobe Ahnung von den Immobilienpreisen in Paris. Das 5. Arrondissement um den Jardin du Luxembourg gehörte zu den teuersten Wohngegenden in einer der teuersten Städte der Welt. Die Miete für diese Wohnung musste ein Vermögen kosten und sein Gehalt um ein Vielfaches übersteigen. Keine Frage, die direction centrale de la police judiciaire ließ sich seinen Aufenthalt hier einiges kosten. Aber gut, man hatte ihn schließlich einer elitären Spezialeinheit zugeteilt, deshalb durfte er wohl auch einige Privilegien genießen. Er fragte sich, ob Bouget ihm vielleicht tatsächlich etwas Gutes tun wollte. Hatte er ihm etwa unrecht getan? Gab es eine menschliche Seite seines Direktors, die ihm – und dem gesamten Kollegium der Straßburger Polizei – bisher entgangen war?
Ein wenig verdutzt war er, als er den in dem Schreiben der direction centrale angegebenen Namen nicht auf Anhieb unter den Klingelschildern fand. Nach einigem Suchen wurde er jedoch fündig. Etwas abgesetzt von den anderen Namen, die auf den gold glänzenden Messingschildern eingraviert waren, fanden sich vier kleinere Klingelknöpfe. Daneben standen auf kleinen Plastikschildern die Namen Stevenson, Sané und Menad. Eine Klingel hatte keinen beigefügten Namen, das musste also sein Apartment sein. Stevenson, das war der Name in dem Schreiben. Olivia Stevenson wartete auf ihn, würde ihn in Empfang nehmen und ihm seine schöne Wohnung zeigen. Beherzt klingelte er an der Tür.
Eine sympathische Stimme antwortete auf Französisch mit starkem amerikanischem Akzent.
»Monsieur Sturni?«
»In Person!«
Das lief ja wie am Schnürchen.
»Kommen Sie rein. Ich freue mich!«
Es summte, und die große, schwere Tür aus Gusseisen, verziert mit Belle-Époque-Ornamenten, öffnete sich. Sturni trat ein. Der Eingangsbereich war komplett mit weißem Marmor ausgekleidet. Es gab einen Aufzug und eine Treppe, deren Zugang allerdings verschlossen war. Pas de problème – kein Problem –, er bevorzugte ohnehin den Aufzug. Er drückte auf den Knopf, damit sich die Tür öffnete. Doch anstatt ihm Einlass zu gewähren, fragte das moderne Gerät nach einem Passwort. Das hätte ihm die liebe Olivia Stevenson auch gleich sagen können …
Er ging noch einmal hinaus und klingelte erneut.
»Oui?«
»Ich benötige noch einen Code für den Aufzug.«
Am anderen Ende der Sprechfunkanlage ertönte ein schallendes Lachen.
»Den hätte ich auch gerne. Ihr Zimmer befindet sich in der obersten Etage, in einem chambre de bonne, einer kleinen Dachkammer, die früher den Dienstmädchen vorbehalten war. Sie gehen noch einmal in die Eingangshalle. Im hinteren Teil befindet sich eine kleine Holztür. Keine Sorge, sie ist nicht verschlossen, und man benötigt keinen Code. Über sie gelangen Sie in den Hinterhof. Von dort führt eine Wendeltreppe in das oberste Stockwerk, das von den anderen streng abgetrennt ist. Dort warte ich auf Sie. À tout à l’heure – bis gleich!«
Die Tür öffnete sich erneut. Sturni tat, wie ihm geheißen.
Der Hinterhof, in den er nun gelangte, bildete einen krassen Gegensatz zur schicken Eingangshalle. Anstatt blank poliertem Gestein, wie an der Straßenseite des Gebäudes, gab es hier nur schmutzigen, rußgeschwärzten Backstein. In einer Ecke des Innenhofs führte eine schmale Wendeltreppe im Freien bis zum obersten Stockwerk. Niemals würde er sein ganzes Gepäck auf einmal diese Treppe hinaufschleppen können. Da er am Ende seiner Kräfte war, beschloss er, lediglich das Fresspaket mitzunehmen und den Rest später hochzubringen. Todesmutig wagte er sich die steilen Stufen hinauf. Er war nicht ganz schwindelfrei, und beim Blick in den Hof wurde ihm ab dem vierten Stockwerk übel. Irgendwann hatte er es endlich geschafft.
Oben angekommen, wartete eine bestens gelaunte Olivia Stevenson auf ihn.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen, ein Korb mit elsässischen Köstlichkeiten, merci beaucoup, oder sollte ich besser sagen merci vielmals? Sie kommen doch aus dem Elsass, n'est-ce pas – nicht wahr?«
Was war das denn für ein komischer Vogel? So war das nicht gemeint gewesen. Sturni war jedoch zu stolz, um sein Fresspaket von Olivia Stevenson zurückzufordern. Außerdem wollte er es sich nicht gleich zu Beginn mit seiner neuen Nachbarin verscherzen.
»Bon, aber gerne doch. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie auf mich gewartet haben.«
»Das ist doch selbstverständlich. Schließlich werden wir die nächsten drei Monate in einer WG zusammenleben. Wollen wir uns nicht duzen? Ich bin Olivia.«
Hatte er richtig gehört? WG? Er war einundvierzig Jahre alt und Hauptkommissar der Straßburger Kriminalpolizei. Hatte die direction centrale allen Ernstes ein WG-Zimmer für ihn angemietet?
Wenigstens machte Olivia einen sympathischen Eindruck. Eigentlich hätte er ihr das »du« anbieten müssen. Die junge Frau vor ihm war allenfalls Anfang dreißig, aber Amerikaner konnten mit solchen kontinentaleuropäischen Unterscheidungen wie »du« und »Sie«, beziehungsweise »tu« und »vous«, ja ohnehin nichts anfangen, geschweige denn mit den ungeschriebenen Gesetzen, wer wem das vertrauliche »tu« zuerst anbieten durfte.
»Wenn es dir nichts ausmacht, dann würde ich mir jetzt gerne meine Wohnung anschauen.«
Wieder musste Olivia herzhaft lachen.
»Wenn du ein chambre de bonne in Paris als Wohnung bezeichnen willst … Ihr Elsässer scheint mir ja humorvolle Gesellen zu sein.«
Sturni war etwas irritiert. Die Frau verunsicherte ihn. Immerhin hatte sie schon gehört, dass es sich bei Elsässern um ein fröhliches Volk handelte, das war immerhin ein Anfang. Olivia führte ihn einen schmalen, dunklen Gang entlang, die Holzdielen knarzten.
»Das ist übrigens unsere gemeinsame Toilette.«
Comment? Gemeinsame Toilette? Das wurde ja immer schöner …
Dahinter kamen vier weitere, ziemlich morsche Holztüren zum Vorschein. Olivia öffnete eine der Türen und ließ ihn ein. Sein Zimmerchen war winzig. Der alte Holzboden bestand aus abgetretenen Dielen. Anstatt eines vernünftigen Betts hatte er lediglich ein Drahtgestell, auf dem eine alte Matratze lag. Richtig, im Schreiben der direction central hatte ja gestanden, dass es sich um eine voll möblierte Wohnung handele … Darunter hatte er sich etwas anderes vorgestellt. Es gab einen kleinen Schreibtisch und eine winzige Kochecke mit zwei Herdplatten, seine Küche. Den Gipfel der tristesse – des Trauerspiels – bildete jedoch die Dusche. Sie befand sich direkt neben der kleinen Küchenzeile. Die Nasszelle war eine winzige knallgrüne Plastikbox, bei der er nicht wusste, wie er seinen Körper dort hineinzwängen sollte. Das letzte Mal hatte er so ein Ding gesehen, als er in seiner Jugend bei einem Interrail-Urlaub in einer Absteige der billigsten französischen Hotelkette übernachtet hatte.
Olivia bemerkte, wie Sturni die Kinnlade herunterfiel, und versuchte, ihn etwas aufzuheitern.
»Es ist nicht das Hotel Plaza Athénée, aber man kann es hier schon aushalten. In Paris gibt es noch viel schlimmere Löcher. Wenigstens leben wir in einer guten Wohngegend, und billig sind selbst diese Kämmerchen nicht.«
»Ich habe noch Gepäck unten. Würde es dir etwas ausmachen, mir zu helfen?«
Wenn Olivia sich schon seinen kostbaren Fresskorb einverleibte, dann konnte sie ruhig etwas dafür tun.
»Mit dem größten Vergnügen!«
Auf Anhieb hatte er einen Draht zu seiner Mitbewohnerin, und das Missverständnis mit seinen Fressalien war schnell verziehen. Sie hatte langes braunes Haar, ein schönes Gesicht und war beileibe kein Hungerhaken. Ohne sie hätte er es wohl nicht mehr geschafft, sein Gepäck bis in den siebten Stock hochzuwuchten. Nach der Odyssee von Straßburg bis hierher fühlte er sich ziemlich erledigt.
Als endlich alles in seinem kleinen Kabuff verstaut war, lud er Olivia noch zum Abendessen ein. Da sie sich einen großen Teil seiner eisernen Reserve unter den Nagel gerissen hatte, musste er mit den übrigen elsässischen Leckereien haushalten.
Gleich um die Ecke gab es einen netten libanesischen Imbiss, der ihn an das Tarbouche in Straßburg erinnerte. Das half ein wenig gegen sein Heimweh. Er bestellte mehrere Platten, nach den erlittenen Strapazen hatte er mächtig Hunger.
»Was macht eine junge, intelligente Frau wie du in solch einer Absteige in Paris?«
»Ich promoviere in Kunstgeschichte und lebe von meinem Stipendium, da kann man hier keine großen Sprünge machen.«
Er hatte ihr gleich angesehen, dass sie ziemlich clever war.
»Dann bist du ja die perfekte Reiseführerin für mich. Ich war schon lange nicht mehr in Paris.«
»Avec beaucoup de plaisir – aber gerne doch. Ich freue mich immer, wenn ich netten Menschen die Kunstgeschichte der schönsten Stadt der Welt näherbringen kann.«
Die schönste Stadt der Welt war immer noch Straßburg, aber er war müde vom Wein und nicht in der Stimmung, um ein Streitgespräch darüber anzufangen, wer von ihnen beiden mit seiner Ansicht recht hatte.
»Wer wohnt denn noch in unserer colocation, unserer WG?«
»Ich kenne die anderen beiden kaum, ein Mann und eine Frau, viel mehr weiß ich auch nicht über sie. Die Frau sehe ich ab und zu. Manchmal treffe ich sie auf der Wendeltreppe. Sie arbeitet als Putzfrau und nounou, Kindermädchen. Sie geht immer sehr früh zur Arbeit. Wenn ich abends nach Hause komme, schläft sie bereits.«
»Und der vierte im Bunde?«
»Das ist ein Phantom. Er arbeitet immer abends und nachts. Manchmal höre ich ihn nachts nach Hause kommen, und morgens schläft er dann aus. Ich habe ihn, seit ich hier wohne, noch keine dreimal gesehen.«
Nach seinem dritten pichet, einem kleinen Krug, der mit einem Viertelliter Wein gefüllt war, hatte er seinen Frieden mit seiner neuen Lebenssituation geschlossen. Die Zeit war überschaubar. Er würde das Beste aus seiner Situation machen. Außerdem gab es wahrlich schlimmere Städte als Paris, auch wenn er das gegenüber seinen beiden Inspektoren niemals zugeben würde. Er rief den Kellner und bezahlte die Rechnung. Zum Glück war ihre Wohnung gleich nebenan.
Sturni schwankte leicht, und Olivia musste ihn die letzten Stufen der endlosen Wendeltreppe hochschieben. Sie verstanden sich blendend, lachten viel, und er hatte den Eindruck, schon nach dem ersten Abend eine neue Freundschaft geschlossen zu haben. Vor ihren Zimmern verabschiedeten sie sich mit bises, und Olivia bot ihm nochmals an, ihm Paris zu zeigen und ihre Geheimtipps zu verraten.
Hundemüde legte er sich auf seine spartanische Pritsche, schrieb Margaux noch eine kurze Nachricht und schlief ein. Gleich morgen würde er sich bei seiner neuen Arbeitsstelle melden müssen.