Die Telefongespräche mit Jette hatten Bert nicht losgelassen. Immer wieder waren sie am Rand seines Bewusstseins aufgetaucht, bis er sie nicht länger ignorieren konnte.
Natürlich hätte er die alten Kollegen darauf ansprechen können, und hätte es sich bei ihnen um Rick gehandelt, hätte er das auch getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch die vergangenen Monate in seiner neuen Dienststelle in Köln fühlten sich mittlerweile an wie Jahre und hatten eine deutliche Distanz zu der Zeit damals geschaffen.
Vielleicht lag es an der lebendigen, bunten, verrückten Stadt, die ihn immer mehr gefangen nahm. Vielleicht an der Intensität der Fälle, die er hier bereits bearbeitet hatte. Oder an dem neuen Alltag, der noch ungewohnt und unstrukturiert war.
Jedenfalls entschloss er sich, den direkten Weg zu nehmen.
Er erwischte Jette im Auto. Das war an den Hintergrundgeräuschen deutlich zu erkennen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Kennen Sie den Kuss von Gustav Klimt, Herr Kommissar?«
Wer nicht? Es war eines der bekanntesten Jugendstilgemälde der Welt, ein Traum in Gold, der insbesondere Frauen anzusprechen schien.
Mittlerweile war dieses Kunstwerk so gnadenlos vermarktet worden, dass man ihm auf Schritt und Tritt begegnete. Es verzierte Schirme, Taschen, Kleiderstoffe und Geschirr und war so allgegenwärtig, dass Bert sich innerlich mehr und mehr davon entfernt hatte.
»Ja«, beantwortete er Jettes Frage abwartend.
»Er hat mir einen Druck davon unter den Scheibenwischer geklemmt.«
Bert wusste natürlich, wen sie meinte. Er fragte sich, ob ihre Stimme jemals so hart geklungen hatte, so endgültig erwachsen geworden.
»Wann?«
»Heute Nacht.«
»Haben Sie etwas beobachtet?«
»Nein. Luke hat es zufällig gefunden.«
»Haben Sie sich an die Polizei gewandt?«
»Ja. Ein Kommissar Scheuermann war bei uns und hat sich umgesehen.«
Der Name sagte Bert nichts. Alles verändert sich, dachte er. Kaum hast du irgendwo eine Spur hinterlassen, wird sie von der eines andern wieder zugedeckt.
»Gut.«
»Er hat uns aber lediglich den Rat gegeben, die Schlösser auszutauschen. Das mit dem Kuss weiß er noch gar nicht. Die erste Nachricht ist in seinen Augen keine eindeutige Drohung. Er meint, sie könnte ebenso gut von einem Verehrer stammen.«
An der Überlegung des Kollegen war etwas dran. Jeder Polizist hätte so reagiert. Auch Bert hatte nur dieses mulmige Gefühl, das ihn nachdenklich machte. Und an einen Stalker denken ließ.
Der Kuss von Klimt.
Das sah tatsächlich nach dem Geschenk eines heimlich Verliebten aus. Nach Schüchternheit und versteckten Empfindungen. Allerdings nicht gerade die eleganteste Art, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, erst recht nicht, wenn man dazu ein fremdes Grundstück betreten und in die Scheune der Angebeteten eindringen musste.
Und wie passte die Geschichte mit dem verschwundenen und auf so merkwürdige Art und Weise wieder aufgetauchten Tablet dazu?
»Wer macht so was?«, schimpfte Jette. »Wer schneidet eine Liebesbotschaft aus einer Zeitschrift aus? BALD. Was soll das heißen, BALD? Das kann doch nur eine Drohung sein. Und der Kuss? Da tobt sich ein Wahnsinniger aus. Das tut doch keiner aus Liebe.«
Ein Psychopath durchaus, dachte Bert.
Die Fahrgeräusche waren verstummt. Jettes Stimme klang jetzt viel deutlicher.
»Sie sollten sich wirklich überlegen, die Schlösser auszutauschen«, sagte Bert.
»Haben wir schon in die Wege geleitet. Heute war ein Sicherheitstechniker bei uns. Er will das morgen erledigen.«
An einem Samstag.
Anscheinend hatte Jette sein Herz erweicht. Bert schmunzelte. Er konnte ein Lied davon singen.
»Wir werden auch neue Außentüren bekommen. Der Mann hat uns eine Firma empfohlen. Es wird allerdings eine Weile dauern.«
»Das war die richtige Entscheidung«, sagte Bert. »Sie werden sehen, jetzt haben Sie Ruhe.«
Erleichtert schob er nach dem Gespräch eine Tiefkühlpizza in den Backofen und schnitt ein paar Tomaten auf. Er hatte sich vorgenommen, endlich die Bücherkisten auszupacken, die sich im Keller noch bis zur Decke stapelten.
Er war voller Energie. Und er hatte Zeit.
Bereits als das erste Regalbrett mit Büchern gefüllt war, fühlte er sich gleich ein bisschen mehr zu Hause. Aber er bekam den Kopf nicht frei, solange er nicht die Fragen beantworten konnte, die ihn beschäftigten:
Wieso war das Tablet verschwunden?
Warum war es wieder aufgetaucht?
Hatte jemand es manipuliert?
Daten ausspioniert?
Was bedeutete BALD?
Hing Klimts Bild mit dem BALD zusammen?
Aus welchem Grund hatte der Mann keine Einbruchspuren hinterlassen?
Falls er überhaupt im Haus gewesen war.
Besaß er einen Schlüssel? Oder waren die Mitglieder der WG nachlässig gewesen?
Wer war er?
Handelte es sich überhaupt um einen Mann?
Bei der letzten Frage war Bert sich sicher. Hier ging es um einen Mann. Es war auch klar, dass er sich in Jettes Umgebung und ihrem Alltag auskannte. Er wusste beispielsweise, welches Fahrzeug sie fuhr und dass sie es in der Scheune parkte.
Daraus ergaben sich weitere Fragen:
War es jemand aus Jettes Freundes- oder Bekanntenkreis?
Oder aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis eines ihrer Freunde?
Hing er mit Jettes Familie oder der eines ihrer Freunde zusammen?
Kam er aus dem früheren Umfeld Lukas Tadikkens?
Oder aus dem Umfeld eines der anderen WG-Mitglieder?
Hatte jemand Jettes Freund in seinem neuen Leben aufgespürt?
Bert fluchte vor sich hin, als er daran dachte, dass Luke darauf verzichtet hatte, ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden.
Wenn ja, wieso galten die Botschaften dann Jette?
Wollte man damit im Grunde Luke treffen, weil er die Organisation verraten hatte?
Die letzte Frage verneinte Bert nach längerem Nachdenken. Die Organisation war zerschlagen. Sollte es dennoch einen Racheakt geben, wäre der mit Sicherheit brutal und direkt. Man würde Luke nicht quälen wollen, sondern schlicht und einfach ausschalten, damit er nicht vor Gericht aussagen konnte.
Nein. Hier ging es um Jette, und während sich Regalbrett um Regalbrett mit den wunderbaren Büchern füllte, die er schon schmerzlich vermisst hatte, keimte in Bert ein Verdacht.
*
Ich blieb noch eine Weile im Auto sitzen und ließ das Gespräch mit dem Kommissar nachklingen. Allein seine Stimme zu hören, hatte mich wieder aufgebaut. Trotzdem kehrte ich nicht um, startete den Motor und fuhr weiter.
Zu einem der wenigen Menschen, denen ich hundertprozentig vertraute. Tilo, dem Lebensgefährten meiner Mutter.
Er teilte eine wesentliche Fähigkeit mit dem Kommissar.
Vielleicht waren es ihre Berufe, die ihnen diese Fähigkeit vermittelt hatten, oder sie hatten ihre Berufe aufgrund dieser Fähigkeit gewählt, der eine Kripobeamter, der andere Psychotherapeut: Beide waren daran gewöhnt zuzuhören.
Tilo unangemeldet zu überfallen, war nicht meine Art. Er hatte mir aber versichert, seine Tür stehe jederzeit für mich offen, und Tilo war nicht der Mensch, der leere Versprechungen machte.
Ich hatte schon seit einigen Tagen Fachbücher im Kofferraum liegen, die er mir ausgeliehen hatte und die ich ihm längst hätte zurückgeben müssen.
Heute war die Gelegenheit dazu.
Seine Praxis befand sich im schäbigsten Viertel der Stadt, in dem die Häuser gezeichnet waren von der Armut ihrer Bewohner und den Abgasen der zahllosen Fahrzeuge, die sich im Stop-and-go über die lange Hauptstraße quälten.
Alles wirkte heruntergekommen, die Änderungsschneiderei, der Elektroladen, die Reinigung, der Kiosk.
Sogar die Menschen.
Zwischen vollgestopften, zum Teil aufgerissenen gelben Abfallsäcken, die auf den Bürgersteigen auf die Müllabfuhr warteten, spielten unbeaufsichtigt kleine Kinder. Sie tobten mit einem bellenden Hund herum und bewegten sich gefährlich nah am Straßenrand.
Ich drosselte das Tempo und ließ mich auch vom verärgerten Hupen des Sportwagenfahrers hinter mir nicht hetzen.
Die Fensterscheiben waren stumpf von Staub und Schmutz. Die wenigen Bäume und Sträucher, die bisher überlebt hatten, sahen aus wie ausgemergelte Gespenster. Vor dem kleinen Eiscafé, das sich irgendwann hierher verirrt hatte, stand eine gelangweilte magere Kellnerin in Jeans und langer Schürze und rauchte.
Tilos Räume waren in dieser Umgebung wie eine andere Welt. Und genau das sollten sie wohl auch sein – eine Zuflucht für die Menschen, denen der Alltag Stück für Stück Würde und Lebensfreude genommen hatte.
Meine Mutter hätte es gern gesehen, wenn Tilo mit seiner Praxis umgezogen wäre. Sie fürchtete diese Gegend, die als kriminell und gefährlich gebrandmarkt war und in der Tilo Menschen behandelte, denen sie nicht über den Weg traute.
Doch das war einer der wenigen Wünsche, die er ihr nicht erfüllte.
»Ich gehöre hierher«, antwortete er achselzuckend, wenn man ihn fragte, warum er sich ausgerechnet in einem sozialen Brennpunkt niedergelassen hatte. »Ich bin nicht Psychiater geworden, um die Problemchen gelangweilter Wohlstandsbürger zu therapieren.«
Einer der Gründe dafür, dass ich ihn liebte.
Der Vorgarten des Hauses, in dem er seine Praxis eingerichtet hatte, lag im Schatten eines Ahorns. Sanfte Mooskissen zwischen bildschönen Findlingen und kräftigen Stauden vermittelten den Eindruck von Ruhe und angenehmer Kühle.
Automatisch atmete ich tiefer.
Tilo selbst öffnete mir.
»Jette! So eine Überraschung!« Voller Freude schloss er mich in die Arme. »Du kommst gerade richtig. Mein letzter Patient für heute ist vor fünf Minuten gegangen. Ruth hat sich auch schon ins Wochenende verabschiedet.«
»Ich wollte dir die Bücher zurückbringen«, sagte ich und hielt ihm den vollgepackten Leinenbeutel hin.
»Haben sie dir weitergeholfen?«
Wir gingen in das Behandlungszimmer, vorbei an Ruths Schreibtisch mit dem großen, fröhlichen Wiesenstrauß und dem roten Stein, der als Briefbeschwerer diente.
»Ja. Besonders deine Artikel über die Arbeit mit Mina. Geht es ihr gut?«
»Sie macht große Fortschritte und die Beziehung zwischen ihr und Raoul ist etwas ganz Besonderes. Mehr darf ich dir …«
»Schweigepflicht, ich weiß.«
»Was möchtest du trinken?«, fragte Tilo. »Wasser, Kaffee, Tee?«
»Wasser«, bat ich und merkte auf einmal, wie durstig ich war.
Tilo ging zu der kleinen Küchenzeile im Vorzimmer, brachte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser mit und schenkte uns ein. Ich nahm einen Schluck und entspannte mich.
Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen, spürte aber sofort wieder, wie beruhigend die Klarheit der Einrichtung mit ihren harmonischen Linien auf mich wirkte. In jedem Detail war Tilo spürbar.
Er hatte mich zu dem Sofa geführt und für sich selbst seinen Schreibtischsessel herangezogen, sodass wir dasaßen wie Therapeut und Patientin. Dabei wäre er der Letzte, der mich therapieren könnte. Dazu kannte er mich viel zu gut.
»Okay«, sagte er.
Das hieß so viel wie: Da wären wir. Worum geht es?
Tilo hätte sich jedoch lieber die Zunge abgebissen, als mich so direkt zu fragen. Es war klar, dass ich ihm nicht nur Bücher zurückbringen wollte. Dazu hätte ich ihn nicht in der Praxis aufsuchen müssen.
Ich fing bei den Unfällen an und erzählte ihm alles.
Tilo hörte zu, ohne mich zu unterbrechen.
Als ich fertig war, zog ich den Klimt aus meiner Tasche.
Tilo betrachtete ihn, beugte sich zu seinem Schreibtisch hinüber und legte ihn dort ab. Das Papier rollte sich wieder zusammen. Wie ein Igel, der Gefahr wittert. Abwartend sah Tilo mich an.
»Eigentlich wollte ich das alles nur mal loswerden«, sagte ich. »Aber jetzt wüsste ich doch gerne, was du davon hältst.«
»Wie geht es dir?«, fragte Tilo sanft.
»Luke und ich haben Streit. Er hat mir den Klimt gerade erst gegeben, obwohl er ihn schon in der Nacht gefunden hat.«
»Hat er dir erklärt, warum?«
»Er sagt, er wollte mich nicht noch mehr beunruhigen.«
»Aber du nimmst ihm übel, dass er dir das Bild zu spät gegeben hat.«
Ein einziger Satz und mir war alles klar. Luke hatte mir den Klimt ja gegeben. Nur eben nicht direkt, nachdem er ihn gefunden hatte. Statt mir jedoch seine Gründe durch den Kopf gehen zu lassen, war ich verärgert abgerauscht und nahm übel.
Tolles Verhalten.
Tilo hatte mich mein Problem von ganz allein erkennen lassen. Ich fragte mich, ob ich in meinem Beruf jemals auch nur halb so gut werden würde, wie er es in seinem war.
»Hast du eine Ahnung, wer hinter diesen seltsamen Dingen stecken könnte?«, fragte er.
»Nicht die leiseste. Ich kenne niemanden, dem ich zutrauen würde, mich so in Angst und Schrecken zu versetzen.«
»Möglicherweise ist ihm überhaupt nicht bewusst, dass er dir Angst einjagt«, sagte Tilo. »Vielleicht ist das Bild wirklich die Liebeserklärung eines gestörten Verehrers und das BALD so etwas wie ein Versprechen. Gibt es jemanden, der heimlich in dich verliebt sein könnte?«
Ich hob die Schultern.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Hast du irgendwann einmal jemanden abgewiesen, der mehr als Freundschaft von dir wollte? In der Schule oder an der Uni?«
»Darüber zerbreche ich mir ständig den Kopf. Wenn, dann nicht bewusst.«
»Was ist mit den Beziehungen, die du beendet hast?«
Mein Blick wanderte in den kleinen Garten hinaus, in dem ein Brunnen plätscherte und mir das Paradies vorgaukelte. Der Schmerz hatte mich ohne Vorwarnung gepackt. Meine dummen Hände fingen an zu zittern.
»Entschuldige, Jette. Das war gedankenlos.«
Tilo beugte sich zu mir vor und berührte sacht meine Hand.
Ich bemerkte es kaum. Dieser Schmerz. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gespürt. Langsam löste ich meinen Blick von dem Garten.
»Das kann nicht sein«, sagte ich leise. »Er sitzt im Gefängnis und kommt wahrscheinlich nie wieder raus.«
Besondere Schwere der Schuld, hatte die Richterin damals befunden und Lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung angeordnet.
Ich war bei der Urteilsverkündung nicht im Gerichtssaal gewesen. Und vorher, als ich aussagen musste, hatte ich ihn nicht ein einziges Mal angeschaut.
Den Mann, der sich Gorg genannt hatte, nur für mich.
Der für jeden anders geheißen hatte.
Meine große Liebe.
Draußen verausgabten sich die Vögel mit ihrem Sommergesang. Ein leichter Wind war aufgekommen und strich zart durch das sattgrüne Blattwerk der Bäume und Sträucher.
»Und wenn die Botschaften gar nicht dir gelten?«, fragte Tilo nach einer Weile. »Sie können doch jeden von euch meinen.«
»Es war mein Tablet, das verschwunden ist. Die Botschaften klemmten unter meinem Scheibenwischer. Und die Unfälle haben, glaub ich, auch irgendwie mit mir zu tun. Vielleicht will er mich isolieren und mir Schmerzen zufügen, indem er mir meine Freunde nimmt. Egal ob aus Liebe oder aus Hass.«
Konnte es wirklich so sein?
»Du als Psychotherapeut«, sagte ich, und Tilo schmunzelte, als wäre das der komischste Satzanfang, den er sich vorstellen konnte, »denkst du, die Botschaften sind Drohungen oder Liebesversprechen?«
Liebesversprechen. Was für ein verrückter Begriff. Was für eine verrückte Situation, in der ich da steckte.
»Sie können das eine wie das andere sein.« Tilo schenkte mir Wasser nach. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich mein Glas leer getrunken hatte. »Aber mir scheint beides zusammenzugehören. Menschen, die so etwas tun, sind oftmals zerrissen. Kann sein, dass dieser Mann dich gleichzeitig hasst und liebt.«
»Hältst du ihn für einen Psychopathen?«
»Sein Verhalten ist auf jeden Fall nicht gesund.«
Es tat mir so gut, dass er nicht einmal den Versuch machte, mir meine Angst auszureden.
»Hast du mit Isa darüber gesprochen?«, fragte er.
Isa und Tilo kannten und schätzten einander.
»Sie ist krank. Ich wollte sie nicht mit meinen Problemen behelligen.«
Tilo sah mich nachdenklich an.
»Wenn du der Einschätzung der Polizei nicht vertraust und dich in einer anderen Umgebung sicherer fühlen würdest – ich überlasse dir jederzeit meine Wohnung.«
Tilo lebte mit meiner Mutter in ihrer alten Mühle. In seine eigene Wohnung ging er nur noch, um dann und wann nach dem Rechten zu sehen. Trotzdem fand ich sein Angebot sehr großzügig.
»Gerne auch mit Luke«, fügte er augenzwinkernd hinzu, »dem du hoffentlich nicht länger böse bist.«
Ich stand auf und umarmte ihn.
»Danke, Tilo. Aber noch hat der Typ mich nicht kleingekriegt.«
Erst als wir an der Tür standen, stellte er mir die unvermeidliche Frage.
»Weiß deine Mutter davon?«
»Nein. Aber du darfst es ihr ruhig erzählen. Spiel die Sache nur bitte ein bisschen runter.«
Er streckte den Daumen in die Luft und lächelte sein jungenhaftes Lächeln. Mir fiel auf, dass er ein paar graue Haare mehr bekommen hatte. Sie standen ihm gut. Meine Mutter hatte großes Glück gehabt, diesem Mann zu begegnen.
Ich entdeckte es schon von Weitem.
Das zusammengefaltete Blatt Papier an meiner Windschutzscheibe.
Neongrün.
Rasch blickte ich mich um, konnte jedoch niemanden entdecken, der verdächtig wirkte. Ich überwand meinen Widerwillen und meine Beklommenheit, zog den Zettel unter dem Scheibenwischer hervor und faltete ihn auseinander.
Ein überdimensionales Auge starrte mich an.
Blau. Kühl. Mit einem Stich ins Violette.
Sauber aus einer Illustrierten ausgeschnitten.
Ich konnte den Blick nicht davon abwenden, wurde hineingesogen in dieses kalte Blau, das wie ein See war, in dem ich ertrinken würde.
Und das Auge sah direkt in mich hinein.