Malika Reich spann ihre unsichtbaren Fäden, an denen sich das Gespräch der Therapiegruppe schleppend entlanghangelte. Heute hatte sie ihre liebe Not, die Männer aus der Reserve zu locken.
Georg bewunderte sie für die Fähigkeit, ihr theoretisches Wissen über die menschliche Psyche mit den kaputten Typen, die hier vor ihr saßen, zu verbinden.
Und niemals die Geduld zu verlieren.
Gleichzeitig lehnte alles in ihm diese Frau ab. Sie wollte aus ihm einen Klumpen Ton machen, den sie formen konnte, wie sie wollte. Denn längst war ihm klar, dass keine ihrer Fragen und Äußerungen so vordergründig war, wie es den Anschein hatte.
Oft kam es ihm vor, als säße er auf einer in absolute Dunkelheit getauchten Bühne und würde plötzlich vom Licht greller Scheinwerfer erfasst. Er erkannte erschrocken, dass er die ganze Zeit nur geglaubt hatte, allein im Raum zu sein. Dass in Wirklichkeit zahllose Augenpaare ihn beobachtet hatten.
Noch nicht Mittag, und die Hitze machte den meisten bereits zu schaffen.
Marek wischte sich immer wieder die Stirn. Ulf, schon im Normalzustand langsam und träge, hing erschöpft auf seinem Stuhl. Selbst Ilja, der an tägliche schweißtreibende Work-outs gewöhnt war, wirkte erschöpft.
Für Georg waren hohe Temperaturen nichts Besonderes. Als Saisonarbeiter war er bei jedem Wetter auf den Feldern gewesen. Was ihn jedoch fertigmachte, waren die Erinnerungen, die diese Hitze in ihm hochkochte.
Sie flüsterten einen Namen, den er nicht aussprechen, nicht einmal denken wollte, den er bislang vor allem während der Therapien nicht ein einziges Mal in den Mund genommen hatte. Wisperten von Liebe und Vertrauen. Von Glück.
Und von Verrat.
Sie hatte ihm alles genommen.
Sein Leben.
Seine Zukunft.
Hatte ihn hierhergebracht.
Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten, die er gleich wieder entspannte, denn Malika hatte Augen wie ein Adler. Nichts entging ihr und alles ordnete sie in ihre Schubladen ein.
Der Hass brach mit einer solchen Macht hervor, dass es Georg nur mit enormem Kraftaufwand gelang sitzen zu bleiben. Er hatte das Bedürfnis, seinen Stuhl an der Wand zu zertrümmern. Die Bücher aus dem Regal zu reißen. Malika ihren unvermeidlichen Stift aus der Hand zu schlagen und auf dem Boden zu zertreten.
So lange zu wüten, bis nur noch Leere in ihm wäre.
Er zwang sich, ruhig und tief zu atmen, obwohl alles in ihm entfesselt war. Es half nichts auszurasten. Es würde alles nur noch schlimmer machen.
Niemand ahnte etwas von dem Tumult, der in ihm tobte. Er war geübt darin, sich hinter seinen Masken zu verbergen. Das Gespräch plätscherte weiter dahin, ohne dass er auch nur ein Wort mitbekommen hätte.
Als er aufblickte, bemerkte er, dass Ezra ihn anstarrte. Sah die Wut in seinen Augen. Der schmuddelige Nasenverband eine einzige Anklage. Doch anscheinend hatte er dichtgehalten, und niemand wusste, wer ihm die Nase gebrochen hatte.
Gelassen hob Georg den Kopf und starrte zurück, bis Ezra seinem Blick auswich.
Georg betrachtete die andern, die alle nur den Wunsch hatten, diesen Raum so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Was ging in ihren Köpfen vor? Welche schmutzigen Geheimnisse behielten sie für sich, ängstlich darauf bedacht, dass die Therapeutin ihnen nicht auf die Schliche kam?
Träumten sie von Flucht? Von Rache?
Waren sie auch nur annähernd wie er?
Wussten sie, wie das war, gleichzeitig von Liebe und Hass verzehrt zu werden?
Als er Malikas Blick begegnete, hielt er ihm stand.
Er würde das Mädchen zerstören, das ihn verraten hatte. Und ebenso alle, an denen ihr Herz hing – mehr, als es je an ihm gehangen hatte.
Malika erriet seine Gedanken nicht. Und wenn sie ihn nicht durchschaute, würde es niemand können.
Georg fühlte sich stark. Stärker als je zuvor.
*
Es war früher Nachmittag geworden, als Bert durch die Wohnung schlenderte und erschöpft sein Werk betrachtete.
Endlich sahen die Zimmer bewohnt aus, sogar behaglich. Hauptsächlich waren die Bücher in den Regalen dafür verantwortlich, doch auch die Bilder an den Wänden, die bis jetzt sorgfältig verpackt im Keller ausgeharrt hatten, die bunte Bettwäsche im Schlafzimmer und die neuen Pflanzen auf den Fensterbänken.
Endlich hatten die Steine und die glänzenden Bernsteinklümpchen, die er mit den Kindern an der Ostsee gesammelt hatte, ihren Platz gefunden. Ebenso das Treibgut, kräftige Holzstücke, die das Meer zu Kunstwerken geformt und schließlich an den Strand gespült hatte.
Noch immer überwog der Eindruck von Leere, doch das gefiel Bert. Er hatte sich von fast allem getrennt, was er besessen hatte, nur behalten, was ihm wirklich wichtig war. Damit wollte er auskommen. Auf keinen Fall hatte er vor, gedankenlos neue Dinge anzuhäufen.
Er würde sich mit nichts Überflüssigem mehr belasten.
Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, machte er sich einen Tee und setzte sich damit an den Esstisch. Er hatte die Rollos nur so weit heruntergelassen, dass noch ein bisschen Licht durch die Ritzen fiel. Es lag in matten Streifen auf dem Fußboden und den Wänden, und Bert beobachtete fasziniert, wie sehr sich die Atmosphäre dadurch veränderte, wie sie geheimnisvoll wurde und auf einmal voller Versprechungen war.
Er verzehrte ein Stück von dem aufgebackenen, noch warmen Rhabarberkuchen, der seinen Duft in der ganzen Wohnung verteilte, und nahm sich sein Notizbuch vor.
Nicht lange, und er hatte alles wieder vor Augen. Die Erdbeerfelder. Das heiße Licht in den Straßen. Die Saisonarbeiter. Er erinnerte sich an den Erdbeerbauern. Die WG der Mädchen.
Und an eines von Caros Gedichten, das er sich damals notiert hatte.
und manchmal
brauch ich
mehr
als das bisschen
leben
manchmal
brauch ich
das feuer
unter
der haut
um zu wissen
ich bin
noch
da
Das bisschen Leben, hatte er darunter geschrieben. Als hätte sie ihr Ende erahnt.
Vielleicht hatte sie das.
Es sah ganz danach aus.
Ihn fröstelte, als sein Blick auf den kurzen Auszug aus ihrem Tagebuch fiel:
7. Juli: Als spielten wir unsere Liebe bloß. Für ein unsichtbares Publikum. Als hätte irgendwer den Ablauf des Drehbuchs schon lange im Voraus festgelegt.
Selbst diese wenigen Zeilen zogen Bert augenblicklich in ihren Bann. Er erinnerte sich daran, wie verzweifelt Caro versucht hatte zu verstehen, warum der Mann, den sie liebte, ihr verbot, über ihre Beziehung zu sprechen. Wieso er sich nicht von ihr berühren ließ. Aus welchem Grund er von einem Moment auf den andern zu einem Fremden werden konnte, der ihr Angst bereitete.
Georg Taban.
Auch am Ende hatte der Kerl keinen an sich herangelassen. Nicht bei den Verhören und nicht später vor Gericht. Niemanden hatte er in seinen Kopf blicken lassen. Selbst der psychologische Gutachter war fast an ihm gescheitert.
Georg Taban hatte ihm von seiner schwierigen Kindheit bei den Großeltern berichtet, von physischer und psychischer Misshandlung, jedoch zu allem Weiteren geschwiegen. Der Gutachter hatte aus dem, was er gehört und nicht gehört, jedoch beobachtet hatte, seine Schlüsse gezogen.
Volle Schuldfähigkeit, hatte seine Einschätzung gelautet, und das Gericht war ihr gefolgt.
Georg Taban.
War es denkbar, dass er aus der JVA heraus das Mädchen tyrannisierte, das er vergeblich zu töten versucht hatte? War er noch immer besessen von ihr?
Liebte er sie?
Oder hatte seine Liebe sich in Hass verwandelt?
Besaß er auch in der JVA noch Macht über irgendjemanden draußen, der als sein verlängerter Arm Rache nahm?
Nur einer konnte diese Fragen beantworten. Georg Taban selbst.
Doch dann tauchte das Gesicht eines Erntearbeiters in Berts Erinnerung auf, dessen Name ihm nicht einfallen wollte. Er blätterte in seinem Notizbuch, bis er ihn gefunden hatte.
Klestof. Malle Klestof.
Diener seines Herrn, hatte Bert notiert.
Hielt seine Ergebenheit Georg Taban gegenüber immer noch an?
Auch die Telefonnummer des Erdbeerbauern hatte Bert festgehalten. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Arno Kalmer.
*
Etwas Unausgesprochenes hatte im Raum geschwebt. Etwas, das von Georg Taban ausgegangen war. Obwohl er geschwiegen hatte. Oder gerade deswegen.
Für einen Augenblick war er nicht mehr der Häftling gewesen, als der er sich in den vergangenen Jahren gezeigt hatte. Etwas anderes war zum Vorschein gekommen und hatte sich über ihn gelegt wie eine zweite Haut.
Aggressivität.
Er hatte diese zweite Haut sofort wieder abgestreift, aber für einen Moment hatte Malika sie wahrgenommen, und nun konnte sie sie nicht mehr ignorieren.
Sie hatte bereits den leisen Verdacht gehegt, dass es Georg Taban gewesen war, der Ezra Calvao die Nase gebrochen hatte. Jetzt war sie sich sicher.
Da die Häftlinge die Täter nicht nannten, konnte man derartige Übergriffe nicht ahnden. Alle schwiegen eisern. Nie gab es Zeugen. Nicht jeder Winkel wurde von den Überwachungskameras erfasst.
Malika hatte keine Ahnung, was sich zwischen Ezra Calvao und Georg Taban abgespielt haben könnte. Sie arbeiteten beide in der Gärtnerei. Vielleicht hatte sich aus der Zusammenarbeit heraus ein Konflikt aufgebaut, der sich auf diese Weise entladen hatte.
So etwas kam immer häufiger vor. Die Gewaltbereitschaft der Häftlinge stieg zunehmend an. Manchmal reichte ein Wort, um die Situation eskalieren zu lassen.
Oder steckte in diesem Fall mehr dahinter?
Malika hatte Ezra Calvaos Unruhe bemerkt und beobachtet, dass er Georg Taban nicht aus den Augen ließ. Er war nicht der Hellste und konnte seine Empfindungen schlecht verbergen.
Sie räumte ihre Unterlagen zusammen. Es erwarteten sie heute Nachmittag noch Einzelsitzungen mit zwei besonders problematischen Häftlingen, auf die sie sich innerlich vorbereiten musste.
Die eigene Befindlichkeit durfte die Sitzungen auf gar keinen Fall beeinflussen. Erst wenn Malika alles abgelegt hatte, was sie beschäftigte, konnte sie sich ganz auf denjenigen einlassen, der da vor ihr saß.
Doch die Gedanken an die zweite Seite, die Georg Taban für einen winzigen Augenblick offenbart hatte, waren so elektrisierend, dass sie Mühe hatte, sie beiseitezuschieben.
Das war er, der erste kleine und doch so wichtige Schritt, um weiterzukommen mit diesem dunklen, schweigsamen Mann.
*
Ich stand vom Schreibtisch auf und rieb mir den Rücken. Nicht das Lernen machte mir Schwierigkeiten – es war das lange Sitzen. Luke hatte sich mit Kommilitonen in Köln verabredet. Auch sie bereiteten sich auf ihre Prüfungen vor, ersparten sich jedoch viel Arbeit, indem sie im Team lernten.
Das konnte spät werden. Manchmal arbeiteten sie die halbe Nacht durch.
Wegen meines Jobs bei Isa hatte ich immer weniger Zeit für meine eigene Arbeitsgruppe gefunden. Deshalb war ich auf den letzten Metern der Prüfungsvorbereitungen in Klausur gegangen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Doch jetzt brauchte ich Abstand zu den Büchern. Mein Gehirn war vollgestopft mit Informationen, die erst einmal sacken mussten. Ich füllte meine Sportflasche mit Wasser und zog die Laufschuhe an.
Eigentlich war es viel zu heiß zum Joggen, vor allem auf den Feldern, wo einem die Sonne ungefiltert auf den Kopf knallte. Trotzdem entschied ich mich gegen den Wald. Ich brauchte Weite, und das sofort.
Ich rieb mich mit Sonnenschutzcreme ein, schnallte mir die Lauftasche um, stopfte mein Smartphone und den Hausschlüssel hinein und suchte nach dem Pfefferspray, das Luke mir vor Kurzem aufgedrängt hatte. In einer schwachen Minute hatte ich ihm versprochen, es beim Joggen immer bei mir zu tragen, obwohl es mich nervös machte, die kleine schwarze Dose auch nur in die Hand zu nehmen.
Im Stillen rechnete ich bei jedem Schritt damit, dass das Ding explodieren und mich selbst außer Gefecht setzen könnte. Deshalb war ich froh darüber, dass ich es nicht fand. Ich zuckte mit den Schultern, setzte meine Kappe auf, schnappte mir die Wasserflasche, schloss die Haustür ab und lief los.
Die Hitze war unsäglich. Schon nach dem ersten Kilometer schien sie mir die Luft aus der Lunge zu saugen. Aber der Blick, der bis zum Horizont reichte, ließ mich die Anstrengung vergessen.
Nach dem zweiten Kilometer hatte ich meinen Rhythmus gefunden und merkte, wie mein Kopf den ganzen Müll auskippte, der ihn belastete.
Die Gedanken fingen an zu fließen.
Kein anderer Jogger war unterwegs, kein Fahrradfahrer und nicht ein einziger der sonst so rührigen Hundebesitzer. Ich war vollkommen allein mit der Hitze, der flirrenden Sonne und meinen Gedanken.
Ab und zu huschte eine Feldmaus vor mir über den Weg, und ich musste aufpassen, dass ich sie nicht zertrat. Es war das Jahr der Mäuse. Unsere Katzen schleppten täglich welche an, ob im lebendigen, halb toten oder toten Zustand. Erwischte ich eine von ihnen mit ihrer noch lebenden Beute im Maul, jagte ich sie ihr ab und setzte sie wieder aus, sobald die Katze sich protestierend verzogen hatte.
Ich lief an den langen Reihen der Erdbeerpflanzen entlang, die einen so verführerischen Duft verströmten, dass ich nicht widerstehen konnte und ein paar Früchte naschte. Mit klebrigen Fingern lief ich weiter bis zu den Folientunneln, von denen der Erdbeerbauer zwölf aufs Feld gestellt hatte.
Auch hier war niemand zu sehen.
Nicht mal ein ferner Traktor ratterte vorbei.
Die Hitze durchdrang mich bis in die letzte Zelle. Selbst meine Augen fühlten sich heiß und trocken an und begannen zu brennen. Ich trank einige Schlucke von dem mittlerweile lauwarmen Wasser und lief weiter.
Kurz vor dem Ende des Feldwegs, der zur Landstraße führte, bog ich links ab und lief eine Weile parallel zur Straße. Sie war auch sonst kaum befahren, doch heute ließ sich kein einziges Fahrzeug blicken.
Ich kam in das nächste Dorf, das in vollkommener Stille versunken war. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen. In den Vorgärten ließ die Hitze die Blüten erschlaffen. Ein magerer gelber Hund stromerte über den kleinen Friedhof und verschwand im Schatten einer Gruppe hoher Zypressen.
Auch hier begegnete ich keiner Menschenseele und allmählich wunderte mich das. Wo waren die Leute geblieben? Wieso spielte keines der Kinder draußen? Selbst die Bauernhöfe lagen wie verlassen da.
Als wären alle in einen Dornröschenschlaf gefallen.
Ich bog in den Feldweg, der mich wieder Richtung Birkenweiler führte.
Zwischen den Feldern fühlte ich mich immer wohl, doch plötzlich verwandelte sich der unbegrenzte Blick bis zu den ersten Hügeln der Eifel, den ich so liebte, in etwas Beängstigendes. Zum ersten Mal wurde ich mir der Tatsache wirklich bewusst, dass man mich von allen Seiten aus sehen konnte.
Weithin.
Jeder.
Auch er.
Ich kam aus dem Tritt und wäre beinah gestolpert. Das Herz pochte mir gegen die Rippen. Mein Atem ging ungleichmäßig. Ich bekam viel zu wenig Luft. Obwohl ich nach Wasser lechzte, trank ich nicht, sondern lief weiter, bis ich mich wieder halbwegs im Griff hatte.
Es gab keinen Grund für eine Panikattacke.
Ich hatte mich spontan zum Joggen entschlossen. Woher sollte der Typ das wissen? Das war unmöglich. Mein Leben verlief nicht nach einem festen Stundenplan. Er konnte nicht wissen, dass ich genau jetzt, um diese Zeit, an genau dieser Stelle laufen würde.
Es sei denn …
Was, wenn er mich nicht nur gestern beobachtet hatte, als ich zu Tilo gefahren war, meine Besorgungen gemacht und anschließend Merle besucht hatte? Was, wenn er mich tatsächlich rund um die Uhr beobachtete?
Wusste, wann ich allein zu Hause war.
Mir auf Schritt und Tritt folgte.
Meine Beine versagten mir den Dienst. Ich blieb stehen, stützte mich mit den Händen auf die Knie und versuchte, zu Atem zu kommen, bevor ich die Flasche hervorzog und an die Lippen setzte.
Es gelang mir, die Panik so weit zurückzudrängen, dass mein Gehirn wieder funktionierte.
Reg dich ab, befahl es mir. Du joggst fast täglich, und es hat dich nie gestört, dass man die gesamten Felder überblicken kann. Im Gegenteil. Du hast das immer geliebt. Und jetzt beruhige dich und lauf. Bald bis du zu Hause.
Meine Angst jedoch riet mir, zuallererst die Umgebung gründlich zu checken.
Ich folgte dem Rat meiner Angst.
Und entdeckte ihn sofort.
Den reglosen schwarzen Fleck jenseits des riesigen Feldes zu meiner Linken.
Ich kniff die Augen zusammen.
Es konnte ein Strauch sein oder eines dieser Schilder, die neuerdings hier und da aufgestellt wurden, um Jogger, Spaziergänger, Radfahrer und Bauern auf ihren Traktoren um ein freundliches, respektvolles Miteinander zu bitten. Oder war es ein neues Steinkreuz, das mir noch nicht aufgefallen war?
Das Steinkreuz hakte ich ab. Es gab genügend Kreuze und Marienaltäre hier überall. Auch ein Schild schien mir beim zweiten Hinsehen eher unwahrscheinlich zu sein. Sicherlich würde man es auf diese Entfernung gar nicht erkennen.
Ein Mensch also.
Aber wieso bewegte er sich nicht? Erdbeerpflücker waren immer in Bewegung und während der Saison ohnehin nie allein auf den Feldern. Sie arbeiteten in Gruppen. Erst später wurden sie weniger und lediglich Winter- und Frühjahrsarbeiten wurden von Einzelnen ausgeführt.
Im nächsten Moment wusste ich es.
Dennoch wollte ich mir das Gegenteil beweisen.
Ich steckte die Wasserflasche weg und lief ein Stück in gemäßigtem Tempo weiter.
Der Fleck bewegte sich in dieselbe Richtung und nun konnte ich auch die Beine erkennen.
Ich blieb stehen.
Er ebenfalls.
Ich nestelte das Smartphone aus der Lauftasche und wählte Lukes Nummer.
Hier spricht Lukas Tadikken. Ich kann Ihren Anruf im Augenblick nicht entgegennehmen, werde aber zurückrufen, wenn …
Jetzt erst fiel mir ein, dass er ja in Köln war und mir nicht zu Hilfe kommen konnte. Ich steckte das Smartphone wieder weg.
Keine Sekunde lang hatte ich den Typen aus den Augen gelassen.
Wie in Stein gehauen stand er am anderen Ende des Feldes, mir genau gegenüber.
Und wartete.
Es war wie beim Schach. Er zwang mich, den ersten Schritt zu tun.
Diesmal lief ich ein Stück zurück.
Er tat es mir nach.
»Was soll das?«
Es tat mir gut, meine Stimme zu hören, auch wenn es nur ein Flüstern war.
Fieberhaft überlegte ich.
Es gab eine einzige Stelle, an der ein holpriger, grasbewachsener Streifen die beiden asphaltierten Wege verband, auf denen wir uns bewegten.
Sie kam nach zwei Kilometern.
Bis dahin konnte mir nichts passieren, denn die Erde auf den Feldern war frisch gepflügt, vorbereitet für die neuen Erdbeerpflanzen. Sollte der Typ den Fehler begehen, über die lockere Erde abzukürzen, würde er bei jedem Schritt einsinken und viel zu lange brauchen, während ich auf meinem asphaltierten Weg schneller wäre.
Zwei Kilometer war ich demnach noch sicher.
Und dann?
Ich drehte mich um und sprintete los.
Während ich lief, hielt ich den Blick nach vorn gerichtet. Ich fand meinen Rhythmus so schnell, wie es mir sonst nie gelang, und auch mein Atem spielte mit. Ich flog nur so dahin, meine Füße berührten den Boden kaum.
Als ich einen vorsichtigen Blick riskierte, erschrak ich.
Er war genauso schnell wie ich.
Noch einen knappen Kilometer.
Es gab nur eine Hoffnung. Nämlich die, dass der Verfolger nicht so trainiert war wie ich. An der Verbindungsstelle der beiden asphaltierten Strecken war er gezwungen, den grasbewachsenen Weg zu nehmen, während ich weiter geradeaus laufen konnte.
Das war meine Chance und ich musste sie nutzen.