In der Mittagspause trug Georg sein Tablett zu dem Tisch, an dem Janus saß. Er setzte sich ihm gegenüber und fing an zu essen, als hätte er keinerlei Interesse an einer Unterhaltung.
Janus aß weiter, scheinbar ohne von ihm Notiz zu nehmen.
Die Verpflegung war recht gut. Es gab eine Normalkost, eine vegetarische und eine religiöse Kost, jede einzelne mit Wahlmöglichkeit. Daneben konnte der Arzt bei gesundheitlichen Beschwerden auch Schonkost verordnen, und es war kein Problem, lactose- oder glutenfreies Essen zu bekommen.
Manche Häftlinge ernährten sich hier deutlich besser, als sie es jemals draußen getan hatten. Georg vermutete, dass auch Janus zu ihnen gehörte. Dennoch fand der Mann ständig einen Grund zum Nörgeln.
»Scheißfraß«, brummte er vor sich hin und stocherte lustlos mit der Gabel im Reis herum. »Was willst du?«
»Wie weit bist du, Janus?«
»Warum auf einmal so eilig?«
»Meine Sache.«
»Meinetwegen kann es jederzeit losgehn. Mit ein paar Abstrichen.«
»Abstriche?«
»Unerhebliche.«
»Du bist sicher, dass ich mich auf dich verlassen kann, Janus?«
»Kann ich mich auf dich verlassen?«
Bis zu einem bestimmten Punkt mussten sie sich gegenseitig vertrauen. Bis zu einem gewissen Punkt saßen sie im selben Boot. Es kotzte Georg an.
»Das weißt du.«
»Weiß ich das?«
Janus hob den Blick. Das Blau seiner Augen war noch intensiver als sonst.
Georg nickte. Unmerklich. Aber Janus nahm es wahr.
»Sag mir einen Tag vorher Bescheid, dann ist alles vorbereitet.«
Er spießte mit seiner Gabel einzelne Erbsen auf und gab sich dabei wenig Mühe, vorsichtig zu sein. Zwei Erbsen hüpften ihm vom Teller und rollten über den Tisch wie winzige grüne Bowlingkugeln. Er zerquetschte sie mit seinem krummen Zeigefinger, den er danach ablutschte wie ein Kind.
Keine Fragen.
Das hatten sie abgemacht. Nichts wissen, was man später gegen sie selbst oder den andern verwenden konnte. Falls irgendwas schieflaufen sollte.
Georg schloss für einen Moment die Augen. Es durfte nichts schieflaufen und es würde nichts schieflaufen. Diese Möglichkeit durfte er nicht einmal in Erwägung ziehen.
Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend. Einer, der aussah wie ein Preisboxer, setzte sich zu ihnen an den Tisch, ein Neuer, der noch nicht wusste, wie das Beziehungsgeflecht hier im Knast gesponnen war.
Sie würdigten ihn keines Blickes und er sprach sie nicht an. Georg prägte sich sein Gesicht nicht ein, denn er würde es nicht mehr oft zu sehen bekommen.
*
Merle teilte Ann und Robbie mit, dass sie den Mittwoch freinehmen würde.
»Hast du was Schönes vor?«, erkundigte sich Ann.
Merle mochte gar nicht daran denken.
»Ich versuche, Jette moralisch zu unterstützen.«
»Oh …«
Ann bohrte nicht weiter. Sie hatte ein feines Gespür für Untertöne und respektierte es, wenn man nicht reden wollte.
»Ihr kommt doch ohne mich zurecht?«, fragte Merle.
»Klar«, antworteten beide wie aus einem Mund. »Mach dir keine Sorgen.«
Keine Sorgen, dachte Merle. Wenn ihr wüsstet.
Zumindest war das Tierheim am Mittwoch geschlossen. Das bedeutete, dass der Arbeitsaufwand für Robbie und Ann überschaubar war.
Nachdem Jette heute Morgen angerufen hatte, konnte Merle sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Ja, sie hatte von Jettes Brief gewusst. Aber sie hatte gehofft, dass Georg nicht reagieren und die Sache im Sande verlaufen würde.
Wieso wollte er sie sehen?
Aus Liebe doch bestimmt nicht. Immerhin war Jette der Grund für seine Verurteilung gewesen. Hätte sie es nicht geschafft, ihm zu entkommen, wäre er wahrscheinlich nicht verhaftet worden.
Und Jette wäre nicht mehr am Leben.
Wie Caro.
Merle kramte in der Schreibtischschublade nach den Taschentüchern. Nachdem sie die Freundin beerdigt hatten, waren sie durch die Hölle gegangen. Seitdem hatte sie alles getan, um den Namen Georg Taban aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
Doch um das zu erreichen, hätte sie auch Caro vergessen müssen. Sobald sie an ihre tote Freundin dachte, kamen automatisch die Gedanken an ihren Mörder in ihr hoch. Beide waren untrennbar miteinander verbunden.
Das war eine schreiende Ungerechtigkeit. Hatte der Mann Caro nicht genug angetan? Konnte man sich nicht von ihm befreien, ohne gleichzeitig die Erinnerung an Caro auszulöschen?
Warum hatte er Jettes Besuch zugestimmt?
Die Frage ließ Merle nicht los. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Georg etwas für einen andern tat, erst recht nicht für Jette, die ihn ans Messer geliefert hatte. Sie war sich sicher, dass er eine Absicht verfolgte.
Falls die Vorfälle der vergangenen Tage wirklich auf sein Konto gingen, dann wollte er Rache. Dann musste sein Hass gigantisch sein.
Wollte er Jette sehen, um ihr das ins Gesicht zu sagen? Was hatte er davon? Die Genugtuung, ihre Angst zu sehen, wenn er ihr seinen Hass entgegenschleuderte?
Er würde ihr gegenübersitzen und höhnisch die Lippen verziehen. Merle konnte es vor sich sehen. Sie konnte seine Kälte spüren und seine Unerbittlichkeit.
Wie schnell würde der Wachmann der JVA reagieren können, wenn Georg sich vorbeugte und Jette packte? Er könnte ein Werkzeug in den Besuchsraum einschmuggeln. Ein kleines Messer. Eine Scherbe.
Sagte man nicht, Psychopathen seien hochintelligent? Meister der Täuschung und Manipulation? Was war da eine Glasscherbe, die man an einem Beamten vorbeischleusen musste?
Merle, Jette und Caro hatten sich an ihren gemütlichen Videoabenden Dutzende von Filmen reingezogen, in denen genau gezeigt wurde, wie so etwas ging.
Und wenn er Jette als Geisel nahm?
»Scheiße«, murmelte Merle. »Scheiße, Scheiße.«
Sie konnte Jette nicht von ihrem verrückten Vorhaben abbringen. Sie konnte sie nur begleiten. Es war nicht viel, aber es war besser als nichts.
*
Bert hatte Arno Kalmer angerufen, um einen weiteren Termin zu vereinbaren.
»Vor allem möchte ich Malle Klestof sprechen«, hatte er gesagt.
Weiter war er nicht gekommen.
»Ich habe gehört, Sie arbeiten mittlerweile in Köln und sind überhaupt nicht mehr für diesen Bereich zuständig.«
Bert schwieg. Jedes Wort wäre jetzt das falsche gewesen.
»Und dann bringen Sie hier alles durcheinander und halten mich und meine Leute von der Arbeit ab.« Arno Kalmer schnaubte vor Wut. »Haben Sie eine Ahnung, was mich das kostet?«
Von der Auszeit schien er noch nichts zu wissen. Bert hatte nicht vor, ihn darüber aufzuklären.
»Einige Arbeiter sind tatsächlich abgereist, wie ich es prophezeit habe. Und wenn sich erst rumspricht, dass auf meinem Hof wieder ermittelt wird, dann gute Nacht.«
Bert gehörte zu den Menschen, denen häufig erst nach einer Auseinandersetzung einfiel, was sie hätten erwidern sollen. In diesem Augenblick fragte er sich vergeblich, wie er Arno Kalmer in ruhigeres Fahrwasser lotsen könnte.
Der tobte weiter.
»Ich hab mir überlegt, gegen Sie vorzugehen. Das ist Beamtenwillkür, und ich bin nicht bereit, mir das gefallen zu lassen.«
»Daran kann ich Sie nicht hindern«, entgegnete Bert ruhig.
Seltsamerweise wirkte das. Eine Weile sprach keiner von ihnen. Ab und zu knisterte es in der Verbindung.
»Warum das alles?«, fragte Arno Kalmer.
Mit dieser Frage überraschte er Bert.
»Sie erinnern sich, dass Georg Taban gefasst wurde, weil eines seiner Opfer entkam?«
»Sicher.«
»Jetzt wird diese junge Frau belästigt und verfolgt und ihren Freunden sind seltsame Unfälle zugestoßen.«
»Sie glauben …«
»Ich glaube gar nichts, Herr Kalmer. Ich ermittle nur in verschiedene Richtungen.«
»Und das ist Sache der Kölner Polizei? Lebt die junge Frau in Köln?«
»Nein. Sagen wir so: Noch gibt es keine Grundlage für intensive Ermittlungen.«
»Aha. Er muss sie erst halbtot prügeln, damit die Polizei eine Möglichkeit sieht, einzugreifen.«
Dazu äußerte Bert sich nicht.
»Und warum sehen Sie das anders?«, fragte Arno Kalmer.
»Sollte der Fall von damals mit den Geschehnissen von heute zu tun haben, kann ich die Gefahr nicht ignorieren. Es war mein Fall. Ich habe oft mit Georg Taban gesprochen. Ich habe gesehen, zu was er fähig ist.«
»Er sitzt im Knast.«
»Für manche Täter sind die Mauern nicht hoch genug.«
Arno Kalmer schwieg so lange, dass Bert schon glaubte, er sei aus dem Gespräch ausgestiegen.
»Okay«, sagte er dann. »Aber warten Sie ein, zwei Tage, bis Sie Klestof befragen. Die Wogen müssen sich erst glätten. Sonst ist der Mann schneller weg, als Sie sich vorstellen können.«
Arno Kalmer kannte seine Leute, deshalb beschloss Bert, auf ihn zu hören.
*
Nachdem ich ein paar Stunden gearbeitet hatte, setzte ich mich mit einem Eistee und meinem Notizbuch nach draußen. Ich besaß mehrere Notizbücher. Jedes war für einen anderen Zweck bestimmt.
Dieses hier war mein wertvollstes.
Caro hatte Gedichte geschrieben, was Merle und ich erst nach ihrem Tod herausgefunden hatten. Nachdem wir ihre Sachen von der Polizei zurückbekommen hatten (Caros Eltern und ihr Bruder wollten nichts davon haben), hatte ich einen Teil ihrer Gedichte in ein besonders schönes Notizbuch übertragen. Nur für mich.
Ab und zu, wenn ich mich stark genug fühlte, las ich darin. Heute fühlte ich mich absolut nicht stark, aber ich konnte dem Drang, das Buch aufzuschlagen, nicht widerstehen.
Schon beim ersten Wort war Caro da.
Das passierte oft und es erschreckte mich nicht. Es war sogar tröstlich zu wissen, dass sie nicht ganz verschwunden war.
FREUNDIN
gegenüber
still
neben mir
nah
nicht worte unbedingt
hände vielleicht
War es Zufall, dass ich ausgerechnet die Seite mit diesem Gedicht aufgeschlagen hatte? Natürlich. Aber ich hätte gern geglaubt, dass meine tote Freundin mich gelenkt hatte. Um mir zu zeigen, dass sie über mich wachte.
Es war gut, Caro zu spüren.
Doch dann kam, wie jedes Mal, das Entsetzen.
hallo
schwarzer mann
gehörst der dunkelheit
nicht mir
hallo
liebster
du
tauch
mit mir
ins licht
Die Härchen an meinen Unterarmen stellten sich auf. Mein Mund wurde trocken. Meine Augen brannten.
Caro hatte ihn beschrieben. Er war der schwarze Mann gewesen. Und ihr Liebster. Aber er war nicht mit ihr ins Licht getaucht. Stattdessen hatte er sie in die Dunkelheit gestoßen, als er sie tötete.
Und dann war er mein Liebster geworden, und ich hatte empfunden, was Caro empfunden haben musste, war nie wirklich zu ihm vorgedrungen, hatte nie begriffen, was in seinem Kopf auf der Lauer lag.
Vergiss das nicht, raunte etwas in mir. Vergiss es nicht.
Ich spürte Caro nicht mehr.
Der Zauber war vorüber.
Seufzend lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und sah Klecks dabei zu, wie er in einer hochgewachsenen Staude mit fedrigen Blättern und zarten gelben Blüten verschwand, um sich vor der grellen Nachmittagssonne zu schützen. Überall hatte er seine Verstecke. In diesem hier lag er besonders gern.
Im Augenblick ging es mir wie ihm. Am sichersten fühlte ich mich im Haus oder im abgeschirmten Innenhof. Obwohl das Gefühl von Geborgenheit Risse bekommen hatte.
Plötzlich zweifelte ich an meinem Vorhaben.
Sollte ich wirklich zur JVA fahren?
Ihm gegenübertreten?
Zu Merle hatte ich gesagt, ich würde die Wahrheit in seinen Augen erkennen. Wie konnte ich mir da so sicher sein? Ich hatte doch auch damals den Psychopathen in ihm nicht erkannt.
Seine Augen.
Vor ihnen fürchtete ich mich am meisten.