Manchmal überkam ihn das Bedürfnis, blind um sich zu schlagen, mit solcher Wucht, dass es ihn eine ungeheure Kraft kostete, sich zu beherrschen. Er konnte den Anblick der vergitterten Fenster nicht länger ertragen, nicht den der hohen Mauern oder den der schweren Zellentüren.
Zwar hatte er das Glück, in einem sogenannten sozialtherapeutischen Knast einzusitzen, in dem die Häftlinge sich tagsüber frei bewegen durften. Doch am Abend wurden die Türen auch hier verschlossen.
Und die Nächte dehnten sich mit ungebremster Grausamkeit aus.
Hätte Georg an einen Gott geglaubt, hätte er ihm auf Knien dafür gedankt, dass die Inhaftierten in Einzelzellen untergebracht waren. Das war überlebensnotwendig für ihn, der die Gegenwart anderer Menschen kaum ertrug. Schlimm genug, dass er sie tagsüber in seiner Nähe dulden musste.
Eine grauenvolle Vorstellung, nachts bei seinen Albträumen belauscht zu werden! Wenn sich herumspräche, was in seinem Kopf vor sich ging – die Mithäftlinge würden ihm die Hölle auf Erden bereiten.
Hierher schickte man hauptsächlich die harten Fälle. Vergewaltiger, Totschläger und Mörder. Wiederholungstäter. Unverbesserliche, die man dennoch zu bessern versuchte.
Bessern.
Was wollten sie denn bessern? Den Abschaum, der hinter diesen Mauern gestrandet war? All die gestörten Typen, die im Knast genauso weitermachten wie in der Vergangenheit?
Räuber? Dealer? Erpresser? Zuhälter?
Und was war mit ihm selbst?
Was wollten sie da bessern?
Seine Sehnsüchte? Seine Hoffnungen?
Die ganze verdammte Welt, mit der er sich im Clinch befand?
Er hatte für seine Taten bezahlt. Er hatte mit der furchtbaren Trauer um jedes Mädchen bezahlt, das er getötet hatte. Die ihm niemand glaubte, auch die Therapeutin nicht, die ihm in unzähligen Gruppen- und Einzelstunden auf die Pelle rückte.
Ausgerechnet eine Frau.
Eine ziemlich junge noch dazu. Sah aus wie frisch von der Uni. Um die dreißig, aber vom Leben keinen Plan.
Okay. Sollte sie nur immer wieder versuchen, seinen Panzer zu knacken. Es würde ihr nicht gelingen, in hundert Jahren nicht.
Es war ihr Job. Ihre Aufgabe in diesem Vorzeigeknast, auf den die Gutmenschen da draußen so stolz waren. Doch weder sie noch irgendwer oder irgendwas sonst würde zu ihm vordringen.
Er hatte zu lange daran gearbeitet, sein Innerstes zu verbergen, um es jetzt vor aller Welt preiszugeben.
Aus gutem Grund. Denn jedes Mal, wenn er sich in der Vergangenheit am Ziel geglaubt und einer Frau sein Herz geöffnet hatte, war er von ihr verraten worden.
Er hatte nichts als Liebe gewollt und sie hatten seine Gefühle in den Schmutz getreten. Das würde ihm nie wieder passieren.
Sie hatten ihren Tod verdient.
Alle.
*
Als ich in unsere Straße bog, war ich schweißgebadet. Das völlig durchweichte T-Shirt flappte mir an Rücken und Bauch. Ich hatte ein ziemliches Tempo vorgelegt und spürte meine Beine nicht mehr, als unser Bauernhof endlich in Sicht kam.
Die Wasserflasche war längst leer, und die Zunge klebte mir am Gaumen, sodass mein erster Weg mich in die Küche und zur Spüle führte. Ich hielt ein Glas unter den Wasserhahn, trank es in einem Zug aus und goss mir ein zweites ein.
Als mein Durst gestillt war, rief ich nach Mike, und als ich keine Antwort bekam, ging ich zu seiner Werkstatt. Mein nasses T-Shirt kühlte ab und schickte mir unangenehme Schauer über den Rücken.
Die Ruhe und vor allem das Fehlen von Musik verrieten mir, dass Mike nicht zu Hause war. Wahrscheinlich war er wieder zur Müllkippe gefahren, um eine weitere Fuhre Abfall zu entsorgen.
Er hatte ganze Arbeit geleistet. Die Schönheit des großen Raums war endlich wieder zu erkennen, weil nicht mehr so viel Zeug herumstand und die Sicht verbaute.
Ich öffnete die Tür zu Lukes Zimmer, das durch das Einziehen einer Trennwand im zweiten Stall entstanden war. Auf der Schwelle blieb ich stehen.
Luke sagte immer, er liebe Ordnung und klare Strukturen, und das erkannte man auf den ersten Blick. In diesem Raum war nichts zu viel. Er war sparsam und schlicht eingerichtet, ohne Schnörkel und Firlefanz. Die Bücher standen sorgsam aufgereiht im Regal, nichts lag herum, nicht mal ein Kugelschreiber oder ein Päckchen Kaugummi oder was sonst in Zimmern so zu finden ist.
Ich verstand inzwischen, dass Luke die äußere Leere brauchte, um Ruhe zu finden. Es zeigte mir einmal mehr, wie unterschiedlich Menschen waren, wie unterschiedlich wir alle in unserer WG sein durften, ohne dass wir irgendetwas erklären mussten.
Mein Abi war gut zwei Jahre her, aber erst allmählich schien ich erwachsen zu werden.
»Erwachsen«, hatte Merle mir verächtlich hingeworfen, als ich kürzlich mit ihr darüber gesprochen hatte. »Da gibt es doch wirklich bessere Ziele.«
»Reif?«, bot ich als Alternative an.
Daraufhin waren wir in Gelächter ausgebrochen und hatten das Thema nicht mehr berührt.
Ich ging ins Bad, streifte die nassen Sportklamotten ab und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser beruhigte meine Muskeln und entspannte mich. Mein Kopf, der beim Laufen angenehm leer geworden war, füllte sich zögernd wieder mit Gedanken. Ich versuchte, sie auf Isas Vortrag zu lenken.
Keinesfalls wollte ich dieses diffuse Gefühl von Bedrohung wieder hochkommen lassen.
Erst recht nicht die Erinnerungen, die mich auf die Felder getrieben hatten.
Es funktionierte so halbwegs. Ich trocknete mich ab und schlüpfte in eine bequeme weiße Leinenhose und mein rotes Lieblings-T-Shirt. Barfuß kehrte ich in die Küche zurück, um mir ein Brot zu schmieren, als mein Smartphone sich meldete.
»Stell dir vor, was mir passiert ist«, erzählte Merle mit einem komischen Lachen in der Stimme. »Mich hätte es fast erwischt.«
Ab und zu kam es vor, dass eine Katze die Krallen ausfuhr oder einer der Hunde zuschnappte. Tierheimmitarbeiter müssen hart im Nehmen sein.
»Eins der neuen Tiere?«, fragte ich.
»Nee. Ich wär fast von unserm Scheunentor erschlagen worden.«
Sie fing an zu erzählen und mit der Entspannung war es vorbei.
Eilig packte ich meine Tasche und setzte mich in meinen Peugeot. Obwohl das Bilderbuchwetter förmlich nach einer Fahrt mit offenem Verdeck schrie, verzichtete ich darauf. Wenn ich mich beeilte, konnte ich noch einen Abstecher ins Tierheim machen, bevor ich zur Polizei fuhr, um mich um meinen Nebenjob zu kümmern.
Der Weg war mir so vertraut, dass ich ihn im Schlaf gefunden hätte. Oft wusste ich am Ziel kaum noch, wie ich überhaupt dorthin gelangt war. Als wäre ich in Trance gefahren. Keine Erinnerungen an Situationen, Gebäude, Fahrzeuge, Menschen. Nichts.
Auch diesmal war es so. Auf einmal tauchte das Tierheim vor mir auf, und ich wunderte mich fast darüber, dass ich schon angekommen war.
Robbie machte mir das Gittertor auf und verschloss es wieder. Noch war keine Besuchszeit.
Die wenigen Hunde, die in den aufgeheizten Außengehegen gedöst hatten, veranstalteten das übliche Begrüßungsspektakel, worauf auch die andern herausgeschossen kamen.
Die meisten kannten mich und ich kannte sie. Doch heute war keine Zeit, um sie anständig zu begrüßen. Ich hörte Robbie zu, der mir genau berichtete, was vorgefallen war.
»Und dann ist – WHAM – das Rolltor runtergekracht.« Er überschlug sich beim Sprechen beinahe. »We’re still shocked.«
»Und Merle ist wirklich nichts passiert?«
»Nichts.« Er schüttelte zur Bekräftigung den Kopf. »Sie hat ein Riesenglück gehabt.«
Merle saß vor ihrem überladenen Schreibtisch am PC, als wär nichts gewesen.
»Da hab ich schon ganz andere Sachen erlebt«, begrüßte sie mich beiläufig, tippte seelenruhig den Satz zu Ende, den sie gerade schrieb, und lehnte sich dann in dem schäbigen Schreibtischsessel zurück, gespendet von irgendwem, wie vieles hier. »Hast du Durst?«
Vielleicht war sie noch ein bisschen blass um die Nase, aber sie tat alles, um mich davon abzulenken.
»Wie geht es dir?« Ich hatte nicht vor, mich von ihrer Guck-mal-wie-tough-ich-bin-Einlage hinters Licht führen zu lassen. »Bist du verletzt?«
»Nicht der Rede wert«, wiegelte sie ab. »Deswegen hättest du nicht herkommen müssen.« Sie sah mir forschend in die Augen. »Aber … das ist nicht der einzige Grund dafür, dass du hier bist, stimmt’s?«
»Mike hatte heute Morgen auch einen Unfall«, fiel ich mit der Tür ins Haus, statt die beiden schonend auf die Mitteilung vorzubereiten.
Meine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Sekundenlang war es so still, dass wir die Fliege hörten, die irgendwo hinten beim Regal umhersummte.
Merle, die sich schon halb von ihrem Sessel erhoben hatte, hielt mitten in der Bewegung inne, die Hände auf die Armlehnen gestützt, den Oberkörper über die Tastatur gebeugt.
»Was?«
»Stromschlag.« Ich setzte mich auf den einzigen Stuhl am Besprechungstisch, der nicht mit irgendwelchem Zeug vollgepackt war. »Es geht ihm aber wieder gut«, fügte ich schnell hinzu.
»Stromschlag?« Robbie war gerade dabei gewesen, sich einen Stuhl freizuräumen. Er stockte, bevor er den Stapel alter Zeitungen, den er aufgenommen hatte, zu dem übrigen Chaos auf den Tisch wuchtete. »Mike?«
Merle ließ sich wieder auf den Schreibtischsessel sinken und rollte zu uns an den Tisch. Ich sah jetzt, dass ihre Jeans und die Bluse schmutzig waren, offenbar von dem Sturz, mit dem sie sich gerettet hatte. An ihrem linken Handgelenk klebte ein Pflaster, bei dem das Blut durchgesickert war.
»Ich hab ihm hundert Mal gesagt, er soll sich vernünftiges Werkzeug anschaffen«, wetterte sie. »Und was macht er? Jagt Schnäppchen auf Flohmärkten und lässt sich von windigen Onlinehändlern übers Ohr hauen.«
»Nicht alle Onlinehändler sind …«
»Weiß ich, Robbie! Aber hast du mal einen Blick auf Mikes Elektrosägen, die Schleif- und Bohrmaschinen und den ganzen anderen Kram in seiner Werkstatt geworfen?«
»Das nicht …«
»Mike ist ein Tüftler, und er hat den bescheuerten Ehrgeiz, immer alles wieder hinzukriegen. Der kauft sogar kaputte Sachen. Und bingo! Das kommt dabei raus. Er ist so ein verdammter …«
Bevor sie sich in Rage reden konnte, wie es ihre Art war, wenn sie sich richtig aufregte, fasste ich sie am Arm.
»Was?«, fuhr sie mich an.
»Ihr hattet beide einen Unfall«, erinnerte ich sie.
»Was soll das denn jetzt?« Genervt sah sie mich an. »Wieso lenkst du immer ab, sobald ich bei Mike mal den Finger auf die Wun…«
»BEIDE, Merle. Mike und du.«
»Fuck!« Robbie hatte sofort verstanden. »Ein irrer Zufall.«
»Zufall? Das glaubst du wirklich?«
»Was denn sonst?« Merle schickte einen gereizten Blick an die Decke. »Schicksal etwa?«
Robbie ging zum Kühlschrank und spendierte eine Runde eisgekühlter Fruchtsmoothies, nach denen er neuerdings süchtig war. Ich erwischte Erdbeer-Rhabarber und merkte erst jetzt, wie ausgedörrt meine Kehle war.
»Und wenn es gar keine Unfälle gewesen sind?« Ich leckte mir den Saft von den Lippen, schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie auf einem Stapel Tierheimprospekte ab. »Wenn jemand sie inszeniert hat?«
»Hör auf!« Merle warf die Hände in die Luft. »Du bist so eine Dramaqueen, Jette. Die Tierheimgebäude sind über hundert Jahre alt und das Rolltor ist auch nicht wesentlich jünger. Da kann immer mal was passieren.«
»Und es ist ja auch glimpflich davongegangen«, sekundierte Robbie und widmete sich wieder seinem Banane-irgendwas-Smoothie.
»Abgegangen«, korrigierte ihn Merle.
Ihre Gleichgültigkeit brachte mich auf die Palme. Sahen sie denn wirklich nicht, dass meine Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren?
»Merle«, versuchte ich es noch einmal, »ich verstehe ja, dass der Schreck noch zu tief sitzt, um über diesen eigenartigen Unfall nachzudenken …«
Sie schraubte ihre Flasche auf, grinste mich entwaffnend an und prostete mir zu. »Seit du bei den Bullen arbeitest, witterst du hinter jeder Kleinigkeit ein Verbrechen, Schätzchen.«
Merle war nicht so abgebrüht, wie sie in diesem Augenblick tat. Sie meinte nur immer, sich in möglichst jeder Situation stark und unabhängig präsentieren zu müssen. Das lag wahrscheinlich an ihrer Arbeit für den Tierschutz. Mit Samthandschuhen und Sensibilität gewann man im Kampf gegen Massentierhaltung, Tierversuche und jegliche Art von Tierquälerei keinen Blumentopf.
Trotzdem verletzte mich ihre Kaltschnäuzigkeit.
Wir hatten gemeinsam so viele Gefahren überstanden, verließen uns in jeder Lage blind aufeinander, da konnte sie doch nicht ernsthaft an meinem Instinkt zweifeln.
Tut sie auch gar nicht, kam es mir in den Kopf. Sie will die Sache nur nicht an sich heranlassen.
Ich schaute sie mir genauer an und sie wich meinem Blick aus. Es hatte keinen Sinn, sie in diesem Moment zu fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, zur Polizei zu gehen. Der Abend war ein passenderer Zeitpunkt dafür.
»Wo du mich gerade daran erinnerst«, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück. »Ich hab noch zu tun. Die Bullen warten auf mich.«
Hoch aufgerichtet verließ ich das Büro, gefolgt von einem völlig zu Unrecht schuldbewusst wirkenden Robbie, der mich mit einer Umarmung verabschiedete und dann wieder das Tor mit einem metallischen Scheppern hinter mir schloss.
Es war Mittag, wie ich am Schlag der nahen Kirchturmuhr hören konnte.
Mittag.
Und ich hatte noch nichts zustande gebracht. Weder für meinen Job noch für die Klausuren, die sich unweigerlich näherten. Ich merkte, wie die ständig im Hintergrund lauernde Nervosität meinen Magen zusammenquetschte.
Dieser Montag war einfach nicht mein Tag. Er würde es auch nicht mehr werden. Dennoch biss ich die Zähne zusammen, setzte mich ins Auto und fuhr los. Ich wusste nicht, wann Mike zurückkommen würde, und auf gar keinen Fall wollte ich jetzt allein zu Hause sitzen. Dann lieber bei Isa im Büro, wo ich sowieso noch ein paar Sachen zu tun hatte.
Ich fuhr zu schnell, hörte zu laut Musik und konnte das Karussell meiner Gedanken doch nicht stoppen. Ein Fahrradfahrer schimpfte wild gestikulierend hinter mir her, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, wieso.
Ich schimpfte zurück, bis er zu einem winzigen Punkt im Rückspiegel geschrumpft war.
Doch auch danach fühlte ich mich nicht besser.
*
Als Merle am Abend nach Hause kam, war sie mit den Nerven am Ende.
Striker, ein betagter, hinreißender Staffordshire-Mix, war der Tierpatin, die ihn seit einigen Wochen regelmäßig ausführte, abhandengekommen, und sie hatten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn wiederzufinden.
Es hatte sich herausgestellt, dass er bis in die Innenstadt getrabt war, um dort eine gemütliche kleine Runde zu drehen. Eine Bekannte hatte ihn auf dem Marktplatz gesichtet, doch als es ihr endlich gelungen war, sich zu ihm durchzuschlängeln, hatte ihn die Menschenmenge wieder verschluckt.
Nach zwei Stunden war der Ausreißer von ganz allein zurückgekehrt, und fast hatte es so ausgesehen, als habe ein vergnügtes Lächeln auf seinem Gesicht gelegen. Friedfertig war er Robbie in sein Gehege gefolgt, hatte sich die Leine abnehmen lassen, seinen Durst gelöscht und war glückselig und erschöpft im Schatten eingeschlafen.
»Das Handy ist der Tierpatin hingefallen, und als sie sich danach bückte, muss sie die Leine losgelassen haben. Sie ist deswegen völlig durch den Wind.«
Das Tierheim konnte schlechte Presse nicht brauchen, erst recht nicht, wenn es um Listenhunde ging. Da half es auch nichts, dass es sich bei Striker um einen gutmütigen alten Schmuser handelte, der noch nie auffällig geworden war.
Merle hoffte sehnlichst, dass sie noch einmal mit einem blauen Auge davonkommen würden. Das Albert-Schweitzer-Tierheim besaß einen guten Ruf und es war kein Schaden entstanden. Mit ein bisschen Glück würde niemand Anzeige erstatten.
An diesem Abend kochten sie wieder einmal zusammen, was sie neuerdings viel zu selten taten. Und prompt kamen sie auf die Unfälle zurück.
Jette wollte einfach nicht lockerlassen.
»Wir sollten die Polizei informieren«, sagte sie beim Essen. »Die können sich das mal angucken.«
»Was sollen die sich denn angucken?«, fragte Mike gedehnt.
»Die Bohrmaschine und das Tor natürlich.«
»Den Bohrer hab ich heute Morgen entsorgt. Er war echt zu alt, um ihn noch mal zu reparieren.«
»Mike! Jetzt werden wir nie erfahren, ob er manipuliert worden ist.«
»Bitte, Jette, schalt einen Gang runter. Nur weil du neuerdings eine Bullette bist …« Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Okay, okay. Sollte ein Witz sein …«
»Stimmt aber doch irgendwie.« Merle schob ihren noch halb vollen Teller beiseite. »Wir meinen das ja nicht böse, Süße, aber du übertreibst wirklich.«
»Ihr findet es also nicht merkwürdig, dass ihr beide an ein und demselben Tag nur knapp dem Tod entkommt?«
»Also gut.« Mike legte seufzend die Gabel ab. »Nehmen wir mal an, du hättest recht und es wären keine Unfälle gewesen. Was ergäbe das denn für einen Sinn?«
»Genau.« Merle freute sich über Mikes Unterstützung. »Wieso sollte jemand, der Mike etwas antun will, es auch auf mich abgesehen haben?«
»Oder umgekehrt«, ergänzte Mike.
»Oder umgekehrt, richtig. Mike und mich verbindet doch nur die Tatsache, dass wir befreundet sind und zusammen in einer WG leben.«
»Das ist doch schon mal was.«
Eigentlich mochte Merle das an ihrer Freundin, diese sture Unbeirrbarkeit und ihre fast schon legendäre Hartnäckigkeit. Heute Abend jedoch hätte sie lieber in aller Ruhe gegessen und einfach eine Weile über Gott und die Welt gequatscht, um sich von dem anstrengenden Tag zu erholen. Ohne Probleme.
»Unsere Freundschaft? Die WG?«, fragte sie.
»Ja. Vielleicht will sich jemand rächen, der … zurückgewiesen worden ist. Denk doch mal nach, Merle. Gibt es in deinem Leben …«
»… jemanden, der noch eine Rechnung mit mir offen hat? Willst du mich auf den Arm nehmen, Jette? Da kann ich dir Dutzende nennen.«
»Na bitte.«
»Erstens wird man nicht so schnell zum Mörder. Zweitens gibt es einfachere Methoden, einen Mord zu begehen, als einen Unfall zu fingieren. Und drittens: Wo kommt da Mike ins Spiel?«
»Eine nicht erwiderte Liebe zum Beispiel?«
»Dann wär doch wohl eher Ilka als Rivalin gefährdet«, widersprach Mike.
»Sieh es doch ein.« Merle griff über den Tisch nach Jettes Hand. »Du verrennst dich da in was.«
»Und das Tor?«, fragte Jette, die offenbar absolut nicht überzeugt war. »Willst du das wirklich ignorieren?«
»Herr Kleine hat es schon wieder hingekriegt.«
»Nein! Er hat es schon repariert?«
»Es funktioniert wieder einwandfrei. Hör doch endlich auf, Jette.«
»Woran hat es gelegen? Warum ist es runtergekracht und hätte dich beinah erschlagen?«
»Irgend so ein Sicherungsdings war ausgeleiert oder so. Er hat es ausgetauscht.«
»Ein Sicherungsdings. Ausgeleiert. Oder so. Dann wissen wir ja jetzt genau Bescheid.«
»Es ist doch nichts passiert. Mike und ich leben noch.«
Jette zog kopfschüttelnd die Hand weg.
»Ihr hättet zum Arzt gehen müssen. Wenigstens du, Mike. Ich hab das mal gegoogelt. So ein Stromschlag kann deinen Herzschlag verändern und schlimme Nachwirkungen haben.«
»Wenn du wüsstest, wie oft ich mir schon einen gefangen habe.« Mike grinste sie stolz an, als wäre das eine Auszeichnung. »Du fühlst dich eine halbe Stunde lang ein bisschen lädiert und dann geht’s dir wieder prächtig. Nicht der Rede wert.«
»Okay. Eure Sache.« Jette lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und beschäftigte sich mit ihrem Smartphone. »Aber sagt hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«
Auch wenn ihre demonstrative Schweigsamkeit der reine Vorwurf war, empfand Merle Erleichterung. Sie hatte den Kopf voll genug. Auf weitere Probleme konnte sie gut verzichten.
Es hatte in der Vergangenheit etliche Angriffe auf die Tierschützer und speziell die Mitarbeiter des Tierheims gegeben. Sie selbst war vor einem guten Jahr einem Tierquäler, der sie töten wollte, nur knapp entkommen. Da geriet man nicht mehr beim kleinsten Vorfall in Panik.
Eine Verbindung zu Mike war unwahrscheinlich. Außerdem zeigte ihr das Leben Tag für Tag, dass die unglaublichsten Zufälle möglich waren.
Warum sollten sie nicht beide am selben Tag einen Unfall haben?
Sie holte eine Flasche Wein aus dem Keller und stellte drei Gläser auf den Tisch.
»Hey, Leute«, sagte sie, als sie den Korken aus dem Flaschenhals zog. »Lasst uns anstoßen. Immerhin sind Mike und ich ab heute Überlebende. Das kann nicht jeder von sich behaupten.«
Kein guter Scherz, dachte sie und hätte sich die Zunge abbeißen mögen, als Jette aufstand und wortlos die Küche verließ.
»Mann«, murmelte Mike. »War das jetzt nötig?«
Seine Stimme klang müde.
Sie hatten sich beide ein bisschen Ruhe verdient.