Die Morgenstunden waren ihm die liebsten. Die Luft war klar und roch nach Freiheit und ließ ihn einen Herzschlag lang daran glauben, dass er es wirklich schaffen konnte.

Nicht hier zu verrotten.

Ihm graute vor den Wintermonaten, in denen es draußen nichts zu tun gab. Deshalb wollte er versuchen, dann neben der Beschäftigung im Gewächshaus auch in der Bücherei eingesetzt zu werden. Er musste nur unter Beweis stellen, dass er für den Job geeignet war.

Im Augenblick wurde die Bücherei von Jeff Hegen betreut, der in seinem früheren Leben Busfahrer gewesen war, bevor er einen Kollegen aus Eifersucht erschlagen hatte. Mittlerweile hatte er seine Strafe abgesessen und würde bald entlassen werden und das Feld räumen.

Mit ihm verlor die JVA einen ihrer Vorzeige-Häftlinge, denn Jeff galt als Paradebeispiel erfolgreicher Resozialisation. Vor zwei Jahren war sogar ein Team eines Fernsehsenders hier gewesen, um Material für eine Reportage über ihn zu sammeln.

Die Arbeit in der Bücherei hatte enorme Vorteile. Man arbeitete mehr oder weniger allein, entschied selbst, was gerade zu tun war, und geriet nur selten in Auseinandersetzungen, denn die aggressiven Typen ließen sich dort so gut wie gar nicht blicken.

Georg wässerte den Kräutergarten. Er hatte die Schuhe ausgezogen und genoss es, die einfachen, rauen Steinfliesen unter den Fußsohlen zu fühlen, obwohl die Sonne sie an einigen Stellen so aufgeheizt hatte, dass er sie nur tänzelnd betreten konnte. Er richtete den kalten Wasserstrahl darauf und sah zu, wie das Wasser verdampfte.

Seine nackten Füße ließen ihn das Leben spüren. So war es immer schon gewesen. So lange er denken konnte.

Die Sonne brannte schon jetzt um halb acht gnadenlos von einem weiten türkisfarbenen Himmel.

Alles wiederholte sich.

Vor drei Jahren hatte eine ebensolche Hitzewelle das Blut der Menschen zum Kochen gebracht. Sie hatte das Unterste in ihnen zuoberst gekehrt, das Beste und das Schlechteste durcheinandergewirbelt und sie hilflos ihrem Schweiß und ihrer Schwäche überlassen.

Es waren die Sinneseindrücke, die einen mit dem alten Leben verbanden. Das, was man sah, hörte, schmeckte, roch, fühlte.

Hitze. Kälte. Wind. Farben. Das Knarren einer Tür. Ein Duft. Das Aroma einer Speise. Regentropfen auf dem Gesicht.

Seit Georg hier war, kehrten die Empfindungen von früher in ungeahnter Stärke zurück und erschütterten ihn.

Doch dies war nicht der Ort, an dem man ungestraft Emotionen zeigen durfte. Weder Wut noch Angst, Trauer oder Schmerz. Deshalb gab es Bereiche, zu denen Georg sich selbst den Zugang verboten hatte. Die er niemals betrat.

Außer im Traum.

Er konnte sich noch so sehr zusammenreißen – im Schlaf verlor er Nacht für Nacht die Kontrolle.

Da begegnete er ihr wieder, der Liebe.

Und fuhr keuchend hoch.

Wie oft hatte die Liebe sich als Illusion entpuppt.

Bis er ihr begegnet war.

Dem einen Mädchen, das er nicht aus seinem Gedächtnis löschen konnte. Das sich dem Vergessen hartnäckig widersetzte. Ihn selbst heute, selbst hier, an diesem Ort noch quälte.

Er weigerte sich, ihren Namen auszusprechen, dachte ihn nicht mal, selbst wenn er allein in seiner Zelle war.

Wirklich besessen hatte er sie nie, sonst hätte sie ihn nicht verraten können. Dann wären sie eins gewesen, für immer und ewig.

Er hatte ihr Herz nicht erreicht.

Ihm brach der Schweiß aus, wenn diese Gedanken sich ungebeten in seinen Kopf drängten. Sein Herzschlag raste, und ihm wurde schwindlig von den Gefühlen, die auf ihn einstürmten.

Er drehte den Wasserstrahl kräftiger und traf ungewollt einen großen schwarzen Käfer, der von der Einfassung des Beets fiel, auf dem Rücken landete und panisch mit den Beinen ruderte.

Georg sah ihm eine Weile zu, verfolgte fasziniert die vergeblichen Versuche des Tiers, sich wieder aufzurichten. So wollte er niemals sein, so hilflos und angreifbar. So war er nie gewesen. In jeder noch so aussichtslosen Lage hatte er sich schließlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen.

Und so würde er es auch diesmal machen.

Er würde hier rauskommen.

Dafür würde er Hilfe annehmen müssen und es war ihm egal. Er würde dafür bezahlen, nichts schuldig bleiben. Am Ende kam es nur darauf an, sein Leben zurückzugewinnen. Dafür war ihm jedes Mittel recht.

Er beugte sich zu dem Käfer hinunter und hielt ihm den Zeigefinger hin. Ohne zu zögern, krabbelte das Tier auf die rettende Hand.

Das Glücksgefühl, das Georg erfasste, war so stark, dass er taumelte. Er setzte den Käfer behutsam auf die Erde und beobachtete, wie er eilig davonkrabbelte.

Ja, dachte Georg. So würde es sein. Nur dass er erhobenen Hauptes gehen würde. Voller Stolz.

Ungebrochen.

*

Das Haus war an diesem Morgen sehr groß und sehr still. Das einzige Geräusch war das der Futterkugel, die Smoky in der Küche gemächlich hin und her rollte, um an die Leckerchen zu gelangen, mit denen ich sie gefüllt hatte.

Die Plastikkugel war Merles Idee gewesen. Sie hatte die Größe einer kleinen Apfelsine und war durchsichtig, um den Katzen einen Anreiz zu geben, sich ihr Futter zu erarbeiten. Hin und wieder fiel ein Stück Trockenfutter aus dem eingelassenen Loch, dessen Größe man variieren konnte.

Während Smoky sich gern und hingebungsvoll mit der Kugel beschäftigte, straften Donna und Julchen sie mit Verachtung. Was sie jedoch nicht davon abhielt, dem gutmütigen Smoky das eine oder andere herausgefallene Stückchen vor der Nase wegzuschnappen.

Ich saß an meinem Schreibtisch und zerbrach mir den Kopf, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Sollte ich mit Isa über die seltsamen Vorfälle der vergangenen Tage sprechen? Oder mich direkt an den Kommissar wenden?

Nach einer guten Stunde, Smoky hatte sich an dem, was die Kugel zu bieten hatte, längst satt gefressen, schlug ich die Bücher zu, ohne mir auch nur eine einzige Zeile eingeprägt zu haben. Ich schnappte mir meine Tasche und verließ das Haus. Zuvor hatte ich jedes einzelne Fenster kontrolliert und bei jeder Tür überprüft, ob sie abgeschlossen war.

Ich holte mein Auto aus der Scheune und fuhr los.

Die Bauernhöfe lagen wie schlafend da. Niemand war zu sehen. Nicht einmal eine Katze ließ sich blicken. Die Kühe auf den Weiden hatten sich in den Schatten der knorrigen Bäume zurückgezogen, die Schafe standen unbeweglich im trockenen Gras. Als hätte jemand sie dort abgestellt und dann vergessen. Lediglich ein paar Hühner staksten um einen einsamen Misthaufen herum.

Ich fuhr langsam. Viel zu oft hatte ich keinen Blick für die Umgebung, obwohl ich es liebte, hier zu leben. Heute war ich nicht in Eile. Wahrscheinlich kam das daher, dass ich immer noch nicht sicher war, ob Isa, zu der ich unterwegs war, für unser Problem die richtige Ansprechpartnerin war.

Nicht, weil ich ihr nicht zutraute, die Situation einzuschätzen. Aber wäre auch der Kollege dazu fähig, an den sie mich weiterreichen würde? Ich kannte mittlerweile die meisten von ihnen, hatte jedoch bisher lediglich das eine oder andere unverbindliche Wort mit ihnen gewechselt.

Ich wünschte mir, Bert Melzig würde noch hier arbeiten. Seit es ihn ins Kölner Polizeipräsidium verschlagen hatte, war er für unseren Bereich nicht mehr zuständig.

»Ja und? Der Kommissar ist nun wirklich keiner, der sich sklavisch an die Vorschriften hält«, hatte Merle mich heute Morgen erinnert. »Vielleicht kann er trotzdem was für uns tun. Zu ihm haben wir wenigstens Vertrauen.«

Merle, Polizei und Vertrauen?

Der Kommissar hatte ein echtes Wunder an ihr vollbracht.

Die Fensterläden der Bauernhäuser waren zugeklappt, die Rollos heruntergelassen. Die unbewegte Luft schien sich verdichtet zu haben. Ein unsichtbarer Schleier lag über der Landschaft. Vierunddreißig Grad, wenn ich der Außentemperaturanzeige glauben durfte. Dabei war noch nicht mal Mittag.

Ich hatte das Verdeck geöffnet, doch auch der Fahrtwind verschaffte mir keine Erleichterung. Der Schweiß rann mir an den Schläfen hinunter, mein T-Shirt klebte an mir wie eine zweite Haut, selbst in den Kniekehlen hatte sich Schweiß gesammelt.

Dummerweise hatte ich eine Abkürzung gewählt, die mich über unbefestigte Wege führte. Die Reifen meines Wagens wirbelten Staub auf, der durch sämtliche Ritzen drang. Fast meinte ich, ihn zwischen den Zähnen zu spüren. Ich schloss das Verdeck und öffnete nur das Fenster einen Spalt.

Dann hatte ich endlich wieder festen Boden unter mir. Der Asphalt war so heiß, dass ich ihn riechen konnte. Ich machte das Radio an, hörte jemanden behaupten, solche Phasen extremer Hitze habe es immer schon gegeben. Das sei definitiv kein Anzeichen eines Klimawandels.

Entnervt drehte ich dem Schwätzer den Ton ab.

Viele Bäume wirkten bereits schütter. Ihre Blätter waren dünn und trocken und würden lange vor der Zeit abfallen. Der eine oder andere Strauch hatte sich schon verfärbt. Auf den Obstwiesen und am Straßenrand sammelte sich leuchtend buntes Laub.

Und die Sonne knallte ohne Unterlass vom Himmel.

Kein Tropfen Regen, seit Wochen schon. Der Rhein führte so wenig Wasser, dass die Schifffahrt massiv eingeschränkt werden musste.

Die ersten Herbststürme des Jahres würden tonnenweise Regen auf die ausgetrocknete Erde schütten, bis die Städte entlang des Rheins im Hochwasser ertranken und die Feuerwehr tagelang damit beschäftigt war, die Keller leer zu pumpen.

Kein Anzeichen eines Klimawandels. Lächerlich.

Als ich meinen Wagen abgestellt hatte, pfiffen mir Arbeiter von einer benachbarten Baustelle aus zu. Ich erinnerte mich daran, was meine Freundin Merle in solchen Fällen tat, und streckte beide Mittelfinger in die Luft.

Danach ging es mir seltsamerweise besser und ich trat entspannt in den angenehm kühlen Eingangsbereich des Polizeigebäudes.

Ich grüßte den Beamten an der Pforte und überquerte den pechschwarzen Fliesenboden, in dessen Glanz ich mich spiegelte. Statt des Aufzugs nahm ich die Treppe und kam schnaufend ganz oben im sechsten Stock an. Dass auch Isa meistens die Treppe wählte, hatte sie mir noch sympathischer gemacht, als sie mir schon gewesen war, bevor sie mir die Hilfskraftstelle angeboten hatte.

Als ich an ihre Tür klopfte, kam keine Antwort. Ich schob sie auf und steckte den Kopf ins Büro.

Der Schreibtisch war aufgeräumt. Es sah nicht so aus, als hätte Isa eben noch hier gesessen und gearbeitet. Ich blickte zu den Garderobenhaken, an denen nichts hing, nicht mal ein Tuch oder ein Schirm.

Na toll.

Ich holte nach, was ich hätte tun müssen, bevor ich überhaupt losgefahren war: Ich nahm mein Smartphone und gab ihre Privatnummer ein.

An ihrer matten Stimme hörte ich gleich, dass sie krank war.

»Magen-Darm«, erklärte sie. »Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.«

Damit hatte sich die Frage, ob sie heute noch einmal ins Büro kommen würde, erledigt.

»Kann ich irgendwas für Sie tun?«, erkundigte sie sich.

»Nein. Das hat keine Eile«, antwortete ich. »Werden Sie erst mal gesund.«

Sie fragte nicht nach, war vermutlich heilfroh, sich wieder unter die Bettdecke verkriechen zu können. Mit der Magen-Darm-Infektion, die gerade grassierte, war nicht zu spaßen. Die Arztpraxen waren überfüllt. Sogar die Zeitungen berichteten schon darüber.

Ich verließ das Polizeigebäude und fuhr nach Birkenweiler zurück.

Die Entscheidung war gefallen. Ich würde den Kommissar anrufen.

*

Kriminalhauptkommissar Bert Melzig schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und beeilte sich, in die Küche zu kommen. Die Brötchen dufteten dermaßen köstlich, dass er schon unterwegs voller Heißhunger eines angebissen hatte. Doch dann hatte er sich beherrscht und es wieder in die Tüte gesteckt.

Er hatte Zeit, um in aller Ruhe zu frühstücken. Und das zu zelebrieren.

Zeit.

Das Zauberwort.

Zeit war ein Luxus, den er schon lange nicht mehr hatte genießen können. Menschen wurden nicht im Achtstundenfenster eines Kriminalbeamten ermordet.

Wie oft hatte ihn ein Anruf aus dem Schlaf gerissen und er war mechanisch in seine Kleidung geschlüpft und mit einem schnellen Kaffee zu irgendeinem Tatort gefahren.

Wie oft hatte er in den gläsernen Stunden der Nacht vor Leichen gestanden und sich woandershin gewünscht. Er hatte in gebrochene Augen geblickt und auf zerschmetterte Glieder, ohne jemals zu begreifen, wie derartige Gräueltaten möglich waren.

Nie hatte er sich an das Frösteln in solchen Augenblicken gewöhnt.

Er sah sie noch vor sich, die übernächtigten Gesichter der Kollegen und Kolleginnen. Hörte noch das Rascheln der Schutzkleidung, die sie überstreiften, um die Tatorte nicht zu verunreinigen. Nahm noch die absolute Lautlosigkeit des Todes wahr, die jedes Mal zu spüren war, selbst mitten in der Stadt, mitten am Tag und im dichtesten Straßenverkehr.

In den meisten seiner Erinnerungen war es Nacht, wenn er zu einem Tatort eilte. In der Nacht erreichte die Verletzlichkeit der Menschen ihren Höhepunkt. Da war die Konfrontation mit einem gewaltsam getöteten Menschen am schwersten zu ertragen.

Nachts konnten einem die gewohnten Abläufe der Polizeiarbeit, die einem in Fleisch und Blut übergegangen waren, plötzlich unter die Haut gehen.

So tief, dass man noch Jahre später ihren Stachel spürte.

Nach der Begutachtung von Leiche und Tat- oder Fundort folgte der absolute Horror: Sie mussten die Familienangehörigen vom Tod des Lebenspartners, des Vaters, der Mutter oder, was am schrecklichsten war, des Kindes unterrichten.

Bert hatte niemals eine routinierte Haltung zu diesen Dingen entwickeln können. Er hatte es auch gar nicht gewollt. Ihm war wichtig gewesen, den Toten einen Namen und eine Identität zu geben. Sie nicht als Körper zu sehen und nicht als Fall.

Er hatte immer darauf bestanden, sich an einem Tatort mit Anstand zu bewegen und die Würde des toten Menschen zu wahren. Kollegen, die das nicht taten, hatten seinen Zorn zu spüren bekommen.

Vorbei.

Irgendwann war seine Kraft verbraucht gewesen, sein Elan erschöpft. Irgendwann war er beim nächtlichen Klingeln des Telefons zusammengezuckt. Hatte er immer länger gebraucht, um seine Erschütterung zu verarbeiten.

Die Fälle waren ihm bis nach Hause gefolgt. Sie hatten sich nicht mehr abschütteln lassen, hatten mit ihm am Tisch gesessen und sich neben ihn ins Bett gelegt, um ihn Nacht für Nacht zu quälen.

Er war müde geworden, und etwas in ihm hatte sich auf eine Weise gegen die Arbeit gewehrt, dass er die Veränderung schließlich nicht mehr ignorieren konnte.

Am Ende fiel ihm die Entscheidung gar nicht schwer.

Ein Jahr Auszeit.

Um zu dem Menschen zurückzufinden, der er einmal gewesen war. Wieder der zu werden, der einen Sachverhalt mit dem nötigen Abstand betrachten und einen Fall lösen konnte, ohne dabei Federn zu lassen.

Falls das überhaupt möglich war.

Diese Skepsis war es unter anderem gewesen, die ihn dazu veranlasst hatte, gegen alle Widerstände seinen Schreibtisch zu räumen und sich in ein Jahr voller Unwägbarkeiten zu verabschieden.

Rick Holterbach, der nicht nur ein großartiger Kollege gewesen, sondern auch ein Freund geworden war, hatte bis zum letzten Moment alles versucht, um ihn zu halten. Doch dann hatte er ihn ziehen lassen, fest davon überzeugt, dass Bert nach dem vereinbarten Jahr zurückkehren werde.

Bert schaltete die Kaffeemaschine ein und setzte Wasser auf, um sich ein Ei zu kochen.

Zehn Uhr.

Und er hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen. Er würde die kommenden Wochen und Monate nutzen. Um sich zu erholen. Die Wohnung, in der er sich nie wohlgefühlt hatte, die immer nur eine Übergangslösung gewesen war, in einen behaglichen Ort zu verwandeln. Endlich einmal wieder etwas mit den Kindern zu unternehmen, die immer noch unter seiner Trennung von Margot litten.

Vielleicht würde er wieder anfangen, regelmäßig zu joggen, was seinen Freund, Arzt und Tennispartner Nathan begeistern würde, denn seit er mit dem Rauchen aufgehört hatte, musste er auf sein Gewicht achten.

Zeit.

Ein ganzes langes Jahr.

Und wer wusste denn, was nach den ersten Aufräumarbeiten in seinem Alltag noch alles auf ihn zukommen würde?

Vielleicht konnte er seine alte Neugier auf das Leben, die so lange verschüttet gewesen war, wieder ausbuddeln. Die Wunder neu entdecken, an die er irgendwann nicht mehr hatte glauben können. Mit allen Sinnen leben.

Er setzte sich an den Küchentisch, schenkte sich Kaffee ein, schnitt ein Brötchen auf und belegte es mit Käse. Dann zog er sich die Zeitung heran.

Ein weiterer Luxus – Zeitung lesen.

Die wichtigsten politischen Ereignisse hatte er längst aus den Nachrichten erfahren, doch dafür hatte er die Tageszeitung auch nicht abonniert. Ihn interessierten hauptsächlich die Meldungen auf den Lokalseiten.

Auch die hätte er online erfahren können, aber er liebte es, die Zeitung auseinanderzufalten, das Papier zwischen den Fingern zu fühlen, es zu riechen, das Rascheln zu hören.

Noch nie hatte er die Zeitung so ausführlich studiert. Er hatte immer nur einen kurzen Blick hineingeworfen, meist erst am Abend, nachdem er von der Arbeit gekommen war.

Ihm fiel auf, dass in dem Wort Zeitung der Begriff Zeit enthalten war. Er lächelte, denn er erlebte das oft: Sobald er sich mit etwas beschäftigte, wurde er ständig und überall mit der Nase darauf gestoßen.

Er hatte sich gerade in einen Artikel über die Chancen einer multikulturellen Gesellschaft vertieft, als er sein Handy hörte. Widerstrebend stand er auf und folgte dem Klingelton zur Garderobe, wo er es in der Tasche seines Sakkos fand.

Auch das war eine neue Erfahrung. Normalerweise lag sein Handy griffbereit.

Er lernte offenbar schnell.

»Melzig.«

»Jette Weingärtner. Guten Morgen, Herr Kommissar.«

»Jette! Das ist ja eine Überraschung.«

Wenn die junge Frau sich meldete, gab es einen triftigen Grund dafür. Augenblicklich war er auf der Hut.

Ohne Umschweife kam sie zur Sache.

»Sie haben uns Ihre Karte gegeben und gesagt, wir dürfen uns melden, wenn wir ein Problem haben.«

»Richtig. Haben Sie ein Problem?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich müsste da ein bisschen ausholen.«

»In Ordnung.« Bert seufzte im Stillen. »Schießen Sie los.«

Er war an den Esstisch zurückgekehrt, um wenigstens den Kaffee zu trinken, bevor er kalt wurde. Sehnsüchtig betrachtete er die Brötchen, den Käse, die Marmelade und das wunderschöne Ei, das nur darauf wartete, geköpft zu werden.

»Ich habe das Gefühl, dass jemand uns bedroht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Am Sonntag hat Mike einen heftigen Stromschlag abbekommen, als er eine Lampe reparieren wollte. Einen Tag darauf wäre Merle fast von einem Rolltor im Tierheim erschlagen worden.«

»Das tut mir sehr leid, aber Unfälle passieren hin und wieder und manchmal häufen sie sich auch. Was bringt Sie zu der Annahme, dass daran etwas merkwürdig war?«

»Das, was ich gestern erlebt habe.«

Bert merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Nicht schon wieder, dachte er. Jette hatte sich schon ein paarmal in Gefahr gebracht und ihm das Leben durch die Einmischung in seine Ermittlungsarbeit schwer gemacht.

Doch sie war eine ernsthafte Person, die nicht zu Übertreibungen neigte.

»Nämlich?«

»Jemand war in unserm Haus.«

»Ein Einbruch?«

»Nein. Das ist ja das Unheimliche. Er hat keinerlei Spuren hinterlassen. Es ist kein Fenster kaputt und keine Tür. Ich begreife nicht, wie er überhaupt reingekommen ist.«

»Und woher wissen Sie, dass jemand im Haus war? Wurde etwas entwendet?«

»Nein. Bis auf mein Tablet.«

»Ihr Tablet ist der einzige Gegenstand, der gestohlen worden ist?«

»Ja … und nein. Es ist wieder da.«

»Es war also nur verlegt?«

»Nein. Merle hat es draußen auf der Fußmatte gefunden.«

»Hört sich nach einem dummen Streich an.«

»Wer sollte mir so einen Streich spielen? Es hätte dabei ja verloren gehen können. Außerdem sind im Augenblick alle ausgeflogen. Mike und Ilka sind in Düsseldorf, Mina lebt noch in ihrer Wohngruppe, und Luke ist auch unterwegs. Er kommt erst heute Abend zurück. Wer also sollte mir …«

»Bleibt noch Merle.«

»Die würde mir so was nie antun. Sie weiß, dass ich mir wegen der Unfälle schon genug Sorgen mache.«

»Gibt es bei den Unfällen Anzeichen für Fremdeinwirkung?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sie haben das nicht untersuchen lassen?«

»Die andern haben meine Befürchtungen nicht ernst genommen.«

»Ich würde Ihnen zu einer Untersuchung raten.«

»Dafür ist es zu spät.«

»Wieso?«

»Mike schafft sich meistens gebrauchte Geräte für seine Werkstatt an. Die Bohrmaschine hatte ihre besten Jahre auch längst hinter sich. Und die Tierheimgebäude sind so alt, dass sie gut und gerne unter Denkmalschutz stehen könnten.«

»Das heißt?«

»Mike hat nichts Alarmierendes an der Bohrmaschine entdeckt und sie zusammen mit anderem Schrott aus seiner Werkstatt entsorgt. Das Rolltor ist von Herrn Kleine, dem Hausmeister des Tierheims, repariert worden, der offenbar ebenfalls nichts Auffälliges bemerkt hat.«

»Was genau hat er repariert?«

»Er hat irgendein ausgeleiertes Sicherungsteil getauscht.«

»Hat er das alte aufbewahrt?«

»Herr Kleine guckt häufig ein bisschen zu tief ins Glas. Sollte es etwas Belastendes gegeben haben, hat er es vermutlich weggeworfen, ohne sich noch daran erinnern zu können.«

Ideale Voraussetzungen, um der Sache auf den Grund zu gehen, dachte Bert. Sein Magen knurrte vorwurfsvoll.

»Dann kann man nichts mehr machen«, sagte er. »Haben Sie schon mit Isa Kornblum darüber gesprochen?«

»Nein. Sie ist für Ermittlungen ja nicht zuständig.«

»Sie würde Sie an einen Kollegen weiterreichen, der zuständig ist.«

»Ja …«

Bert hätte sich vielleicht geschmeichelt fühlen sollen, weil Jette so großes Vertrauen zu ihm hatte, aber seine Befürchtungen, wieder in etwas hineingezogen zu werden, überwogen.

»Ich kann Ihnen da nicht helfen«, erklärte er und fragte sich, warum, um alles in der Welt, sich das falsch anfühlte und ihm fast ein schlechtes Gewissen bereitete. »Ich habe gerade meinen Schreibtisch im Präsidium für eine längere Auszeit geräumt.«

»Oh. Das habe ich nicht gewusst.«

»Außerdem wäre ich für Birkenweiler sowieso nicht zuständig gewesen.«

»Natürlich. Ich hatte nur gedacht, Sie hätten vielleicht trotzdem … ich meine …«

Da hatte er sich einen schönen Ruf erworben.

Ein Hauptkommissar, der es mit den Vorschriften nicht so genau nahm? Der eine Weisung auch gern einmal auf seine eigene Art interpretierte? Dem es in manchen Fällen unmöglich war, Distanz zu wahren?

Wie zum Beispiel bei Jette.

Und ihrer Mutter, der Schriftstellerin Imke Thalheim.

Sein Herz schlug schneller, als er an ihr letztes, kurzes Telefongespräch dachte. Da war er im Präsidium gerade damit beschäftigt gewesen, seine Sachen zusammenzupacken.

Imkes Stimme hatte ihn tief getroffen.

Und ihm Hoffnungen gemacht, denen er nicht trauen durfte.

Ihre Geschichte würde aufhören, noch bevor sie richtig angefangen hatte. Vielleicht wollte sie mit ihm sprechen, um ihm genau das mitzuteilen. Sicherlich würde sein kurzer Höhenflug mit einer schmerzhaften Bruchlandung enden.

Es war eine schwache Stunde gewesen, als er während der Ermittlungen in seinem letzten Fall bei ihr angerufen und beim Klang ihrer Stimme auf der Mailbox wieder aufgelegt hatte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Dass sie ihn zurückgerufen hatte, war womöglich nur eine Frage der Höflichkeit gewesen.

»Herr Kommissar? Sind Sie noch dran?«

»Ja.« Bert räusperte sich. »Wie gesagt, ich kann da leider gar nichts für Sie tun. Sprechen Sie mit Isa. Allerdings fürchte ich, dass die Sachlage zu dürftig ist, um in irgendeiner Weise tätig zu werden.«

»Okay.« Jette klang niedergeschmettert. Doch sie fing sich schnell wieder. »Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben, Herr Kommissar. Ich überleg mir das.« Sie zögerte. »Darf ich fragen, was Sie in Ihrer Auszeit vorhaben? Werden Sie reisen?«

Wenn es sein muss, bis ans Ende der Welt. Ich will alles, wirklich alles tun, um wieder ich selbst zu werden.

So etwas konnte er schlecht sagen. Er hatte es nur seinem Freund Rick gegenüber angedeutet.

Vor allem sein Berufsbild wollte er überdenken. Herausfinden, ob er überhaupt noch dafür geeignet war, Polizeiarbeit zu verrichten. Er hatte zu viele Kollegen erlebt, die im Laufe der Jahre verroht waren. Die morgens ihre Empathie und ihr Gewissen an der Garderobe abgaben und dann ihren Job machten.

So hatte er nie werden wollen.

Die Fälle zu nah an sich heranzulassen, war aber auch kein Ausweg.

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, wich er aus. »Ich lasse das auf mich zukommen. Vor allem brauche ich mal ein bisschen Ruhe.«

»Ich wünsche Ihnen alles Gute und … entschuldigen Sie bitte die Störung.«

»Sie haben nicht gestört. Sie wissen, dass ich Ihnen gern helfe – wenn ich kann.«

Nachdem das Gespräch zu Ende war, fühlte er sich sonderbar leer. Er machte sich frischen Kaffee und lauschte dem Gefühl nach.

Zwei Unfälle. Ein Einbruch.

Das Bild des Tablets auf der Fußmatte ließ ihn nicht los. Sah das nicht nach einer Botschaft aus? Was hatte derjenige, der es entwendet hatte, damit gewollt?

Hatte er die Daten ausspioniert?

Eine Nachricht darin versteckt?

Bert frühstückte zu Ende. Er beschäftigte sich mit der Zeitung, doch es machte ihm keinen Spaß mehr. Nachdenklich faltete er sie zusammen und legte sie beiseite. Dann nahm er sein Handy und rief Jette zurück.

»Ja?«

Ihre Stimme klang atemlos. Als wäre sie gerannt.

»Haben Sie in Ihrem Tablet nachgeschaut, ob irgendwelche Daten gelöscht oder verändert worden sind? Haben Sie eine Nachricht gefunden?«

»Anscheinend ist nichts manipuliert worden.« Bert hörte den erwachenden Argwohn in ihrer Stimme. »Glauben Sie auch, dass …«

»Nein«, schnitt er ihre Überlegungen ab. »Vielleicht haben Sie das Tablet draußen liegen lassen und jemand, ein Nachbar vielleicht, hat es gefunden und vor Ihrer Haustür deponiert. Stehen Sie zurzeit unter Stress?«

»Ich stecke in Prüfungsvorbereitungen, aber ich glaube nicht …«

»Das wäre doch eine Erklärung«, fiel er ihr ins Wort. »In so belastenden Situationen kann es passieren, dass man seine Schuhe aus Versehen in den Kühlschrank stellt und sie später vergeblich sucht.«

Als er ihr Lächeln spürte, entspannte er sich. Zeiten, in denen man sich auf Prüfungen vorbereitete, waren tatsächlich Ausnahmesituationen. Da verloren Menschen gern mal ihre Zurechnungsfähigkeit.

»Aber wenn Sie sich immer noch Sorgen machen, sprechen Sie mit Isa«, riet er Jette noch einmal und verabschiedete sich dann endgültig.

Er hatte vor, heute zu Möbel Braucker zu fahren, um sich nach ein paar Sachen für die Wohnung umzusehen. Wenig später brauste er über die A555 Richtung Bonn, am helllichten Tag und ohne jeglichen ermittlungstechnischen Grund.

Ein ungewohntes Gefühl. Ein bisschen wie Urlaub und ein bisschen wie Schuleschwänzen.

Er machte das Radio an.

Highway to hell.

Er hätte gern Gas gegeben, um das Gefühl zu haben, tatsächlich über einen Highway zu brettern, doch kaum eine Autobahn hatte weniger Ähnlichkeit mit einem Highway als die A555. Deshalb begnügte Bert sich damit, laut mitzuschmettern.

Das tat er auch bei den folgenden Songs. Bis er sein Ziel erreicht und die Enttäuschung in Jettes Stimme vergessen hatte.