»Malle Klestof? Ja, der arbeitet diesen Sommer wieder bei uns. Wieso? Ist er in irgendwas verwickelt?«

»Ich möchte mich einfach mit ihm unterhalten.«

»Wegen der alten Sache?«

Bauer Kalmer bohrte hartnäckig nach. Bert erinnerte sich gut an seine dominante, schroffe Art. Er war ein Mann, der sich nicht gern die Zügel aus der Hand nehmen ließ. Schon während der Ermittlungen vor drei Jahren war er Bert unsympathisch gewesen.

»In gewisser Weise ja.«

»Wird die ganze Geschichte etwa wieder aufgerollt? Das ist doch Schnee von gestern.«

»Es handelt sich um einen aktuellen Fall, der möglicherweise Berührungspunkte mit dem alten haben könnte.«

»Aber Sie beabsichtigen nicht, mir alles wieder durcheinanderzubringen? Keine Verhöre, bloß ein Gespräch mit Klestof?«

Allmählich ging der Typ Bert mächtig auf den Wecker. Trotzdem bemühte er sich um einen gleichbleibend freundlichen Tonfall.

»Richtig.«

»Na gut. Wenn’s unbedingt sein muss. So gegen vier. Da fahren die wieder aufs Feld und packen vorher hier ihr Zeug zusammen. Bei dieser Hitze müssen wir Pausen einlegen, damit die uns nicht reihenweise zusammenklappen. Kann sein, dass Klestof bis dahin irgendwo rumschwirrt. Der hat an der Sache noch ziemlich zu knapsen. Still rumsitzen ist echt nicht mehr sein Ding.«

Bert warf einen Blick auf seine Uhr. Wenn er die Autobahn nahm, konnte er es schaffen. Montags war zwar immer viel Verkehr, aber er würde Malle Klestof notfalls auch auf dem Feld aufsuchen.

»Sind noch andere Saisonarbeiter von damals wieder bei Ihnen?«, erkundigte er sich.

»Es gibt welche, die regelmäßig wiederkommen«, antwortete Kalmer. »Auch in diesem Jahr. Sagen Sie aber jetzt nicht, Sie brauchen sämtliche Namen.«

»Das wäre sehr hilfreich.«

»Super. Ich hab ja auch nichts Besseres zu tun.«

Kalmer verabschiedete sich nicht, sondern legte einfach auf. Er war offenbar stinksauer. Wie sauer wäre er erst, wenn er von der Auszeit wüsste, fragte sich Bert. Und dass ich, selbst wenn es etwas zu ermitteln gäbe, gar nicht ermitteln dürfte?

Er schnappte sich Brieftasche, Notizbuch und Schlüsselbund und verließ die Wohnung. Es war wie in alten Zeiten, nur dass er nicht unter Druck stand. Und als er in seinem Wagen saß und den Zündschlüssel drehte, fing er doch tatsächlich an, eine Melodie zu summen, die ihm gerade in den Kopf gekommen war.

Das Navi brauchte er nicht. Er kannte den Weg.

*

Wir kamen beide gleichzeitig an dem Grasweg an, er am einen, ich am andern Ende. Ich beschleunigte das Tempo und rannte, wie ich noch nie gerannt war.

Ein Blick über die Schulter zeigte mir, dass er auf den Weg eingebogen war. Das verschaffte mir einen kleinen Vorsprung. Ebenso die Panik, die mich schwerelos zu machen schien und immer schneller vorantrieb.

Ich schaute mich nicht mehr um, damit die Panik nicht umkippte und das absolute Gegenteil auslöste – meinen Körper lähmte und erstarren ließ.

Jeden Moment rechnete ich damit, seine Schritte hinter mir auf dem Asphalt zu hören.

Seine Hand auf meiner Schulter zu spüren.

Den harten Griff, mit dem er mich zu Boden warf.

In meinem Kopf war kein Raum mehr für Gedanken. Es gab nur noch meinen Körper, der die Höchstleistung seines Lebens vollbrachte. Selbst die Schmerzen in den Beinen und das Stechen in der Lunge spürte ich nicht mehr.

Die ersten Dächer von Birkenweiler waren bereits in der Ferne zu erkennen, als mir eine große Maus vor die Füße lief. Ich stolperte und geriet kurz aus dem Takt, fing mich jedoch rasch wieder.

Jetzt hörte ich seine Schritte.

Meine Gedanken setzten wieder ein. Mein rechter Fuß schmerzte. Wahrscheinlich war ich nicht nur gestolpert, sondern umgeknickt.

Ich gönnte dem Knöchel keine Entlastung. Er musste durchhalten. Es war nicht mehr weit. Sobald ich in Hörweite der Häuser war, konnte ich um Hilfe rufen. Dann würden alle Rollos wie auf Kommando hochfahren.

Hoffte ich.

Ich betete, dass Frau Sümmer wie immer in ihrem Vorgarten werkelte, die Fenster putzte oder mit sonst einer Arbeit draußen beschäftigt war.

Diese Vorstellung gab mir wieder Auftrieb.

Ja. Ich würde so laut schreien, wie ich nur konnte.

Falls ich noch eine Stimme hatte.

Die Schritte hinter mir kamen näher. Sie klangen fest und entschlossen. Und kein bisschen müde.

Ich versuchte, das Tempo noch einmal zu steigern, aber es gelang mir nicht. Mein Körper war ausgepowert. Er gab nicht mehr her.

Dennoch lief ich weiter. Freiwillig würde ich nicht aufgeben.

Mein Keuchen erinnerte mich an das Schnaufen einer Lokomotive. Mein Mund war ausgetrocknet. In meinem Kopf hatte sich ein Schmerz festgesetzt, der mir Übelkeit verursachte.

Vielleicht war es aber einfach nur die Angst.

Ich versprach mir selbst, mich nicht widerstandslos zu ergeben. Ich würde kämpfen wie eine Katze. Vielleicht sollte ich mich einfach umdrehen und ihn erwarten. Ein letztes bisschen Kraft sparen, das ich gegen ihn verwenden konnte.

Luke hatte mir ein paar Griffe zur Selbstverteidigung gezeigt. Vielleicht konnte ich einen oder zwei davon anwenden.

Beinahe hatte ich mich schon entschlossen, mich dem Typen zu stellen, als ich es hörte: die typischen, herrlichen, unvergleichlichen Geräusche eines Traktors.

Und dann konnte ich ihn sehen.

Ich riss die Arme hoch und winkte, um den Fahrer auf mich aufmerksam zu machen. Kam ein weiteres Mal kurz aus dem Tritt, schaffte es jedoch, meinen Rhythmus wieder zu finden.

Lief, lief und lief.

Erst als der Traktor mich schon fast erreicht hatte, wagte ich es, mich umzusehen.

Mein Verfolger war über den Grasweg geflüchtet. Eine schwarze Gestalt, schon so weit entfernt, dass man sie nicht mehr scharf erkennen konnte.

Der Erdbeerpflücker hielt den Traktor auf meiner Höhe an und beugte sich zu mir heraus. Er war nicht älter als ich.

»Brauchst du Hilfe?«

»Jetzt nicht mehr«, keuchte ich. »Der Typ da hinten …«

Ich wies über meine Schulter.

»Wo?«

Angestrengt starrte er in die Richtung, in die ich zeigte.

Die schwarze Gestalt war kaum noch zu sehen.

»Hat sich erledigt.« Meine Stimme hörte sich dünn und flattrig an. »Aber vielen Dank, dass du angehalten hast.«

Er nickte mir zu und fuhr weiter, während ich die Zähne zusammenbiss und in einen leichten Trab verfiel. Auf die Proteste meines Knöchels achtete ich nicht. Er war mittlerweile angeschwollen und fühlte sich heiß an.

Wir brauchten beide Ruhe.

Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals so über den Anblick unseres Dorfs gefreut zu haben. Endlich wagte ich es stehen zu bleiben, um zu verschnaufen und zu trinken. Selten hatte lauwarmes Wasser so köstlich geschmeckt.

Frau Sümmer war damit beschäftigt, ihre Hortensien zu gießen, deren Blüten sich zusammengezogen hatten wie verletzte Spinnen. Sie winkte mir freundlich zu, und ich musste mich zusammenreißen, um ihr nicht um den Hals zu fallen.

Wahrscheinlich hätte ich sie damit komplett aus der Fassung gebracht. Man war freundlich und hilfsbereit, aber man wahrte höflichen Abstand.

»Schönen Tag noch!«, rief sie mir zu.

»Ihnen auch!«, rief ich zurück.

Für einen Moment fühlte ich mich wieder vollkommen sicher.

*

Als Bert sich Arno Kalmers Hof näherte, kamen ihm bereits die ersten Erdbeerpflücker und Erdbeerpflückerinnen auf ihren Rädern entgegen. Sie schwärmten grundsätzlich in Gruppen aus. Man konnte sie weithin rufen hören.

Die meisten Frauen schützten die Haare mit einem Tuch vor der Sonne. Auch viele der braungebrannten Männer trugen schwarze oder bunte Tücher und ähnelten Statisten in einem Piratenfilm.

Bert stellte seinen Wagen ab und stieg aus. Augenblicklich hüllte die Hitze ihn in ihre erstickenden Tücher. Er wischte sich die Stirn und sehnte sich nach seiner Klimaanlage.

Arno Kalmer erwartete ihn in seinem abgetakelten Büro, das nach einer Grundüberholung förmlich schrie. Er besaß jedoch den Ruf, an seinem Geld zu kleben und es nicht für unnötige Dinge aus dem Fenster zu werfen. Das kurzärmlige Hemd spannte über seinem Bauch und ließ die kräftigen, stark behaarten Arme sehen.

Bert hatte nichts vergessen, nicht die schäbigen Möbel, den Geruch nach altem Staub, den fiebrigen, rastlosen Glanz in den dunklen Augen des Bauern. Und er erinnerte sich daran, wie rasch die zur Schau getragene Gelassenheit des Mannes ins Wanken geriet.

»Ihr Besuch ist schlecht fürs Geschäft«, begrüßte er Bert und reichte ihm die Hand, die erstaunlich trocken und kühl war. Er wies auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Wasser?«

»Gern.«

Bert sah ihm dabei zu, wie er dem mit bunten Stickern vollgepappten Kühlschrank zwei kleine Wasserflaschen entnahm.

»Brauchen Sie ein Glas?«

Bert verneinte.

Ächzend ließ Arno Kalmer sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen.

»Schlecht fürs Geschäft?«, sagte Bert. »Sie übertreiben. Es wird sich kaum einer Ihrer Leute an mich erinnern.«

Der Bauer ließ ein dröhnendes Lachen hören.

»Selbst wenn nicht. Einen Bullen erkennen die auf den ersten Blick. Genau wie ich.«

»Tatsächlich.«

»Können Sie mir glauben. Ich wette, heute Abend hat sich Ihr Besuch herumgesprochen und einige packen in Windeseile ihre Siebensachen und verschwinden.«

»Das täte mir leid.«

Gereizt lehnte Kalmer sich zurück.

»Davon kann ich mir nichts kaufen. Bin gespannt, um was es diesmal geht.«

Bert nahm einen Schluck von dem köstlich kalten Wasser und fühlte sich gleich erfrischt.

»Nur um einige Informationen.«

»Geht es darum nicht immer?« Kalmer sah auf seine Uhr. »Ich muss übrigens gleich los.«

»Kein Problem. Von Ihnen brauche ich nur die Liste der Arbeiter, die vor drei Jahren hier beschäftigt waren. Ich sagte ja schon, dass ich mich mit Herrn Klestof unterhalten möchte.«

»Der müsste gleich hier sein.«

Kalmer wirkte doch tatsächlich eingeschnappt. Mit ruppigen Bewegungen schob er ein paar Unterlagen zusammen und stopfte sie in die Schublade seines Schreibtischs. Er schloss sie ab und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche.

»Der Mann war nicht begeistert, wie Sie sich vorstellen können. Eine solche Geschichte will man kein zweites Mal erleben. Man will sie einfach vergessen.«

Er trank seine Flasche aus, unterdrückte ein Rülpsen und stand auf.

»Wenn Sie fertig sind, ziehen Sie die Tür hinter sich zu. Sie schließt von allein.«

»Vielen Dank«, sagte Bert.

»Solange Sie Ihre Besuche nicht zur Gewohnheit werden lassen …«

Damit verschwand Arno Kalmer, ohne sich zu verabschieden.

Er hatte das Büro kaum verlassen, als Malle Klestof eintrat und einen dumpfen Geruch nach Mottenkugeln, Kernseife und einem süßlichen Aftershave verbreitete.

»Herr Klestof.«

Bert stand auf und begrüßte ihn. Er erinnerte sich gut an diesen Mann. Sein unangenehmes Auftreten. Seinen kraftlosen, weichen Händedruck.

Da nur der Stuhl des Chefs frei war, nahm Malle Klestof darauf Platz. Er wirkte gleichzeitig verdrossen und eine Spur unterwürfig.

Klatschmaul, hatte Bert in seinem Notizbuch festgehalten. Der ewige Jasager. Lechzt nach Anerkennung. Unterdrückte Gewaltbereitschaft.

Malle Klestof trug eine einstmals dunkelblaue, von der Feldarbeit verschossene Baseballkappe, die er nun abnahm und in seinen großen Händen zerknautschte.

Bert fragte sich, warum er so nervös schien. War das übliche Misstrauen der Polizei gegenüber der Grund dafür? Hatte er Dreck am Stecken?

»Ich werd nach Leistung bezahlt«, beschwerte sich Malle Klestof. »Hab nicht viel Zeit.«

Da war er wieder, dieser sonderbare Widerspruch, der Bert schon bei den Ermittlungen vor drei Jahren aufgefallen war. Der Mann konnte einen fast schüchternen Eindruck machen und im nächsten Augenblick einen Angriff starten.

»Ich habe nur ein paar Fragen, Herr Klestof.«

»Wegen damals?«

Bert antwortete nicht. Er zog es vor, direkt zur Sache zu kommen. Auch ihm lag daran, dieses Gespräch rasch hinter sich zu bringen.

»Pflegen Sie noch Kontakt zu Georg Taban?«

Malle Klestof zuckte nicht zusammen, aber seine Hände fassten die Baseballkappe fester. Und entspannten sich, als er es selbst bemerkte. Er schüttelte den Kopf.

»Nein?«

»Sag ich doch.«

»Sie haben ihn nie im Gefängnis besucht?«

Kopfschütteln.

»Ihm nie geschrieben?«

Kopfschütteln.

»Nie mit ihm telefoniert?«

»Nein! Und wenn Sie hundert Mal fragen. Aus den Augen, aus dem Sinn.«

»So einfach? Sie waren doch miteinander befreundet.«

»Ja und?«

Er rückte sich unbehaglich auf dem Stuhl zurecht und richtete sich dann kerzengerade auf. Seine gesamte Körpersprache bestand aus Widersprüchen.

»Nun, wenn man befreundet ist …«

»Muss das nicht ewig halten.« Malle Klestof wedelte mit seiner Kappe in der Luft herum. »Wir waren schließlich nicht verlobt.«

Er grinste über seinen lauen Witz und wurde sofort wieder ernst, als er sah, dass Bert nicht mitgrinste.

»Sie haben ihn aus Ihrem Leben gestrichen?«

»Nö. Hat sich so ergeben. Er im Knast, ich draußen, das passt nicht.«

»Oder wollten Sie nicht länger mit einem Mann befreundet sein, der …«

»Gorge ist unschuldig.«

Georg Taban hatte jedem der Menschen in seinem Leben einen anderen Namen genannt. Für Malle Klestof, seinen Kumpel und Handlanger, hatte er Gorge geheißen.

»Sie halten ihn für unschuldig?«, fragte Bert entgeistert. »Obwohl ihm seine Schuld eindeutig nachgewiesen werden konnte?«

»Ich will nicht drüber reden.«

Malle Klestof verschränkte störrisch die Arme vor der Brust. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit der knallroten Aufschrift Forever. Was immer das bedeuten mochte.

»Und trotzdem haben Sie sich von ihm zurückgezogen?«

»Das ist einfach passiert.«

Bert hatte im Laufe der Jahre ein sicheres Gespür dafür entwickelt, wann es sinnvoll war, das Thema zu wechseln oder doch wenigstens zu variieren.

»Wenn Herr Taban ein Problem hätte, wen würde er draußen um Hilfe bitten?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Würde er sich an Sie wenden, seinen alten Kumpel aus besseren Zeiten?«

Geschmeichelt klopfte Malle Klestof den Staub von der Kappe. Doch als er den Kopf hob, hatte er wieder sein Pokerface aufgesetzt.

»Wie sollte ich ihm wohl helfen können. Sein Problem ist der Knast und das muss er im Knast lösen.« Angriffslustig sah er Bert in die Augen. »Wenn das dann alles wär, würd ich mich jetzt gern verabschieden.«

Er setzte die Kappe auf und schob sie zurecht. Stand auf und wischte sich unschlüssig mit dem Handrücken die Nase.

»Gut.« Bert erhob sich ebenfalls. »Vielen Dank vorerst.«

»Vorerst?«

»Möglicherweise taucht noch die eine oder andere Frage auf. Ach, Herr Klestof, wollen Sie denn gar nicht wissen, warum ich Ihnen diese Fragen stelle?«

»Interessiert mich nicht. Ich hab mit Gorge nichts mehr zu schaffen und will einfach meine Ruhe haben.«

Als der Mann das Büro verließ, sah Bert, dass er ein Bein nachzog.

Wie damals.

Der Bauer hatte erklärt, es sei bei einem Unfall zerschmettert worden.

Bert hatte das Gefühl, ein Déjà-vu nach dem andern zu erleben.

Einen Zeitsprung.

Es gefiel ihm ganz und gar nicht.

*

Mein Fußgelenk war so stark angeschwollen, dass man den Knöchel nicht mehr erkennen konnte. Ich hatte eine Schmerztablette genommen, saß in unserer Oase und umwickelte mein Fußgelenk mit einem Kühlverband. Luke, der häufig Prellungen und Verstauchungen beim Jiu-Jitsu-Training davontrug, schwor darauf.

Kommissar Scheuermann hatte ich nicht erreichen können, seinem Kollegen, auf dessen Apparat das Gespräch wieder umgeleitet worden war, jedoch von der Verfolgung berichtet. Er hatte nicht sonderlich interessiert gewirkt, doch das hatte ich auch nicht erwartet.

Jemand hatte mir Botschaften zukommen lassen, mir jedoch nicht direkt gedroht. Ich war zwei Mal verfolgt worden, doch niemand konnte das bestätigen. Nicht einmal der Erntearbeiter auf dem Traktor hatte etwas anderes gesehen als eine laufende Gestalt, die ebenso gut ein Jogger hätte sein können.

Es war wie verhext.

Ich hatte den Verband gerade angelegt, als mein Smartphone klingelte. Auf dem Display erschien Isas Name.

»Ich wollte mich von meinem Krankenlager zurückmelden«, sagte sie fröhlich.

Es war schön, ihre optimistische Stimme zu hören.

»Geht es Ihnen wieder gut?«, fragte ich.

»Ja. Dem Himmel sei Dank. Es hatte mich ganz schön erwischt. Aber so langsam pendelt sich alles wieder ein. Und wie geht es Ihnen? Ich habe gehört, Sie vermuten, von einem Stalker bedroht zu werden?«

Vermuten.

Da war es, das harmlose, unscheinbare Wort, das mich zu jemandem machte, der die Dinge vielleicht ein bisschen übertrieb.

»Man weiß es schließlich immer erst dann genau, wenn einem etwas zugestoßen ist«, sagte ich.

»Ich ziehe Ihre Wahrnehmungen nicht in Zweifel, Jette. So war das nicht gemeint.«

»Schon gut. Kommissar Scheuermann hat heute Morgen Fingerabdrücke nehmen lassen und auch die Nachrichten zur Untersuchung mitgenommen, die der Typ mir unter den Scheibenwischer meines Autos geklemmt hat.«

»Magnus Scheuermann ist ein besonnener Kollege. Sie sind bei ihm gut aufgehoben. Das wollte ich Ihnen nur eben sagen. Und Sie bitten, auf jeden Fall erst nach Ihren Prüfungen wieder zur Arbeit zu kommen. Sie dürfen sich jetzt nicht übernehmen.«

Ich liebte meinen Job und konnte mich bei der Arbeit für Isa wunderbar ablenken. Aber sie meinte es nur gut.

Mein »Okay« klang ein bisschen lahm. Vielleicht wünschte Isa mir deshalb Kraft für die Prüfungsvorbereitungen.

»Und wenn Sie reden möchten – ich bin jederzeit für Sie da.«

»Vielen Dank, Isa.«

Nach dem Gespräch fragte ich mich, ob ich ihr von der Verfolgung auf dem Feld hätte erzählen sollen, doch mir war nicht danach gewesen.

Mir war überhaupt nicht nach Reden.

Mein Körper war noch voller Adrenalin. Ich war gerade erst dabei, wieder runterzukommen.

Vorsichtig stand ich auf und humpelte ins Haus, um meine Bücher zu holen. Hier draußen fühlte ich mich am sichersten. Ein Hilferuf und die Nachbarn würden angelaufen kommen.

Die Katzen hatten sich, jede an einer anderen Stelle, in meiner Nähe niedergelassen. Obwohl sie mir im Ernstfall nicht würden helfen können, hatte ich doch das Gefühl, beschützt zu sein, und war nach kurzer Zeit in meine Klausurthemen eingetaucht.

Das beste Mittel gegen Angst war immer noch Ablenkung.