Widerwillig hatte Malle Klestof es bestätigt: Er hatte ursprünglich als Waldarbeiter gearbeitet, teilweise sogar fest angestellt. Dann hatte es ein paar Probleme gegeben und er hatte sich fortan als Saisonarbeiter verdingt.
Die Probleme hatten mit seiner Alkoholsucht zu tun, die er immer wieder vergeblich zu bekämpfen versuchte.
»Warum, zum Teufel, stochern Sie in meinem Leben rum?«, hatte er sich aufgeregt, sichtlich nervös geworden. »Das geht nur mich was an. Oder brauch ich jetzt ein Führungszeugnis, um Erdbeeren zu pflücken? Das ich übrigens sofort bekommen würde. Ich habe eine strahlend weiße Weste.«
Seine Eltern stammten aus Warschau. Er jedoch war in Deutschland geboren und hatte schon so gut wie überall gearbeitet.
»Und als Waldarbeiter?«
»Hier und da.«
»Auch in der Eifel?«, hatte Bert gefragt.
»Auch da.«
»Und im Bergischen?«
Klestof hatte gereizt den Kopf geschüttelt.
Seine Aggressivität sollte die Unruhe verdecken, die sein Körper nicht verheimlichen konnte. Er quetschte die Baseballkappe in seinen Händen zusammen, wippte hektisch mit den Füßen und wischte sich immer wieder den Schweiß von Stirn und Nacken.
»Wo genau?«
»Die einzelnen Orte hab ich mir nun wirklich nicht gemerkt.«
*
Damit hatte der Mann endgültig dichtgemacht.
»Das war schon alles, Herr Klestof.«
Bert hatte das Gespräch ohne weitere Erklärungen beendet.
Leise vor sich hin schimpfend, hatte Malle Klestof das Büro verlassen, und Bert war in sein Auto gestiegen, um nach Hause zu fahren.
Als Erstes machte er den Fernseher an, um die Achtzehnuhrnachrichten zu sehen. Magnus hatte ganze Arbeit geleistet. Die Fahndung nach Jette und Georg Taban lief auf sämtlichen Kanälen. Kurz war auch Magnus zu sehen, der es geschickt verstand, hinsichtlich der Ermittlungen gedämpften Optimismus zu verbreiten.
Bert setzte Teewasser auf.
Und entspannte allmählich.
Im April hatte er zwei Wochen Urlaub genommen. Er war nicht ans Meer gefahren und nicht in die Berge, sondern hatte sich dafür entschieden, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Seine Wahl war auf das Kloster St. Paul in der Eifel gefallen, in dem Benediktinermönche nach ihren strengen Regeln lebten.
Es durfte nur das Notwendigste gesprochen werden und das Schweigen, Denken, Lesen und die einfachen Arbeiten in Haus und Garten hatten Bert gutgetan. Sich ein Jahr Auszeit zu nehmen, war nur eine logische Konsequenz aus dieser Erfahrung gewesen.
Das Kloster kam Bert nicht zufällig in den Sinn. Er versuchte, sich in Georg Taban hineinzuversetzen, fragte sich, wo er selbst nach einem spektakulären Ausbruch und der Entführung einer jungen Frau Zuflucht suchen würde.
Er würde in der Nähe bleiben und so lange in seinem Versteck ausharren, bis sich die Aufregung gelegt hatte. Die meisten Menschen gingen davon aus, dass ein Ausbrecher sich so schnell wie möglich so weit wie möglich absetzte, vorzugsweise ins Ausland.
Das Gegenteil zu tun, wäre eine geniale Strategie.
Man konnte sich in der Anonymität einer Stadt wie Köln verstecken, wo es jedoch schwierig war, ein Entführungsopfer über längere Zeit ruhigzustellen. Oder in einer einsamen, abgelegenen, dennoch nicht zu weit entfernten Gegend untertauchen.
Dafür kamen das Bergische Land und die Eifel mit ihren ausgedehnten Waldgebieten infrage. Und Malle Klestof war Waldarbeiter gewesen. Auch in der Eifel.
Bert klappte seinen Laptop auf und legte sich das Telefon zurecht.
Er hielte das erste brauchbare Puzzlestück in der Hand. Und wenn er sich die ganze Nacht um die Ohren schlagen musste – er würde das nächste Puzzlestück finden.
*
»Da sind wir.«
Und da waren sie.
Ilka und Mike. Fest entschlossen, sich nicht wieder abwimmeln zu lassen. Nachdem Ilka ihre Präsentation hinter sich gebracht hatte, waren sie sofort losgefahren.
»Können wir wirklich gar nichts tun?«
»Wir haben keinen Anhaltspunkt«, sagte Merle niedergeschlagen. »Nicht den winzigsten. Untätig hier rumzusitzen ist einfach schrecklich.«
»Und die Polizei?«, fragte Ilka.
»Sie fahnden nach Jette und Georg und halten sich uns gegenüber bedeckt.«
»Eben kam noch eine Meldung im Radio«, erzählte Mike. »Über seine Flucht. Da läuft es einem kalt den Rücken runter, wenn man nach all den Jahren plötzlich den Namen dieses kranken Arschlochs hört.«
»Was ist mit dem Kommissar?«, erkundigte sich Ilka.
»Er hat sich eingeschaltet«, sagte Luke. »Mehr wissen wir nicht.«
Es war kurz nach sechs. Merle hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Ihr war schon ein bisschen schwindlig, doch sie konnte sich nicht vorstellen, auch nur einen Bissen runterzukriegen.
»Wie es Jette wohl geht«, murmelte sie.
Klecks hatte sich auf Ilkas Schoß zusammengerollt und schnurrte glücklich. Für einen Moment war es das einzige Geräusch.
»Der Dreckskerl hat sie jetzt seit elf oder zwölf Stunden in seiner Gewalt«, sagte Merle schließlich. »Mir wird schlecht, wenn ich bloß daran denke. Und ich Idiot habe sie auch noch zur JVA begleitet.«
»Sie wär auch ohne dich gefahren«, widersprach Luke bitter. »Da war es schon besser, dass du bei ihr warst, um sie aufzufangen.«
Dann gab es nichts mehr zu sagen.
Ein lastendes Schweigen breitete sich aus.
Als Merle es nicht länger aushielt, sprang sie auf, griff nach dem schnurlosen Telefon und wählte die Nummer des Kommissars.
Er meldete sich mit einem leicht gereizten Unterton in der Stimme.
»Melzig.«
»Ich bin’s. Merle. Ich wollte nur wissen, ob es etwas Neues gibt.«
»Das haben Sie mich bereits gefühlte dreißig Mal gefragt, Merle. Die übrigen dreißig Mal war Luke am Telefon.«
»Ich weiß …«
»Also gut.« Er stieß einen langen Seufzer aus. »Es gibt einen ersten konkreten Anhaltspunkt.«
»WAS?«
»Langsam, Merle. Ich kann Ihnen noch keine Hoffnung machen.«
»Aber Sie … haben Hoffnung?«
Er zögerte eine Weile, in der sie ihn leise atmen hörte.
Dann sagte er: »Ja.«
Merle legte auf und wischte sich die blöden Tränen aus den Augen.
»Sollen wir uns was zu essen machen?«, fragte sie, bevor sie den andern von dem kurzen Gespräch erzählte.
Auf einmal hatte sie einen Riesenhunger. Es gab Hoffnung. Das war alles, was zählte.
*
»Was hast du mit ihm gemacht?« Wie eine Furie ging sie auf ihn los und schlug auf ihn ein. »Was hast du mit ihm gemacht? Was hast du mit ihm gemacht?«
Georg hielt sie an den Armen fest.
Damit hatte er nicht gerechnet.
Sie war ihm ausgeliefert und griff ihn an?
Nicht einmal jetzt gab sie auf. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, und trat nach ihm. Ihr verletztes Fußgelenk ließ sie einknicken, und Georg fing sie auf, als sie zu Boden sank.
»Schluss jetzt!«, herrschte er sie an.
»Was hast du mit ihm gemacht? Was hast du mit ihm gemacht?«
Wollte sie ihm diese Frage immer wieder stellen? Gereizt schüttelte er sie.
»Ich habe ihn begraben!«
»Du hast …« Entsetzt starrte sie ihn an. »Du hast was?«
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.« Er hob sie auf, trug sie in den Wohnraum und setzte sie unsanft auf dem Sofa ab. »Lass mich dein Fußgelenk untersuchen.«
»Er hat dir nichts getan. Er ist zufällig hier vorbeigekommen.«
Georg nahm ihren Fuß und drehte ihn vorsichtig.
»Tut das weh?«
»Er wär von ganz allein weitergegangen. Er hat nur eine Rast gemacht.«
»Kannst du den Fuß bewegen?«
»Du hättest nur abwarten müssen.«
»WOHER WILLST DU DAS WISSEN?« Sie zuckte zusammen, als er sie anschrie, und hörte auf, sich gegen seine Untersuchung zu wehren. »EIN TYP, DER MIT EINEM FERNGLAS RUMLÄUFT! WOHER WILLST DU WISSEN, DASS ER NICHT LÄNGST DIE HÜTTE AUSGEKUNDSCHAFTET HATTE?«
Sie rückte so weit von ihm ab, wie es ihr möglich war.
»UND JETZT BEWEG DEINEN VERDAMMTEN FUSS!«
Endlich gehorchte sie.
Ihr Fußgelenk war nicht gebrochen.
Erleichtert ging er zu dem Wagen und suchte im Kofferraum nach dem Notfall-Set. Er brauchte nicht zu befürchten, dass sie einen Fluchtversuch wagen würde. Mit ihrem verstauchten Fußgelenk käme sie keine fünfzig Meter weit.
Sie konnte ihn auch nicht ausschließen, denn er hatte den Schlüssel vorsorglich mitgenommen.
Tatsächlich war sie brav auf dem Sofa sitzen geblieben.
Ihr Fuß sah schlimm aus. Die verblassten Reste eines alten Hämatoms waren unter der Rötung eines neuen fast verschwunden. Man konnte förmlich dabei zugucken, wie das Gelenk anschwoll.
Verdammt! Wenn sich das entzündete, hatte er ein Problem.
Georg holte einen Waschlappen, um Jettes Fuß zu reinigen. Sie stöhnte vor Schmerzen und zerknautschte mit beiden Händen den Saum ihres Kleides, das durch ihre Eskapaden komplett ruiniert war. Dann desinfizierte er den Fuß mit einem Spray aus dem Notfall-Set und legte ihr einen festen Verband an.
»Warum hast du ihn umgebracht?«
Würde sie denn nie aufgeben?
»Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich habe ihn getötet.«
»Wo ist da der Unterschied?«
»Bei einem Jäger würdest du doch auch nicht sagen, er hätte ein Wild umgebracht. Er tötet es.«
Sie wandte das Gesicht ab. Georg sah, dass sie versuchte, ihre Tränen zu verbergen.
Seltsamerweise löste sich der Rest seiner Wut in Luft auf. Zärtlich betrachtete er dieses Mädchen, das für alle Zukunft sein Leben teilen würde. Sie würde lernen, ihn zu verstehen. Er würde ihr dabei helfen.
Ihre Empörung hatte sich gelegt und sie zusammenbrechen lassen. Sie weinte jetzt, ohne es zu verstecken. Er setzte sich zu ihr und zog sie an sich. Sie wehrte sich nicht.
Vielleicht war dies der Augenblick.
Ganz sicher sogar.
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Und jetzt hör auf zu weinen«, sagte er. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
*
Es war wie bei einem Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Meine ganze Energie war verschwunden und hatte mich leer und kraftlos zurückgelassen.
Ich machte mir Vorwürfe.
Mein übereilter Fluchtversuch war nicht nur mir zum Verhängnis geworden. Er hatte einen unschuldigen Mann das Leben gekostet, der jetzt da draußen lag und vielleicht niemals gefunden werden würde. Und seine Familie und seine Freunde konnten nicht um ihn trauern, weil sie gar nicht wussten, dass er tot und wie er ums Leben gekommen war.
Dass man so viele Tränen weinen konnte. Unaufhörlich flossen sie aus mir heraus, ohne mir auch nur die geringste Erleichterung zu verschaffen.
Ich wollte allein sein.
Aber er war da.
Ganz nah.
Hielt mich sogar, ohne dass ich die Kraft gefunden hätte, mich dagegen zu sträuben.
Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Reiß dich zusammen.
Doch es gelang mir nicht. Es gelang mir ja nicht einmal, den endlosen Tränenfluss zu stoppen.
Er küsste mich auf die Stirn.
Ein Unschuldskuss.
Aber Georg war nicht unschuldig. Er war schuldig, schuldig, schuldig. Wie viele Menschen hatte er in seinem Leben schon umgebracht?
Nicht getötet.
Um-ge-bracht.
Ich würde mir von ihm nicht vorschreiben lassen, welche Worte ich verwenden sollte und welche nicht. Er konnte …
Was sagte er da?
Er hatte eine Überraschung für mich?
Seine Stimme klang zärtlich. Freudig. Als könnte er es nicht abwarten, mir seine Überraschung zu verraten.
»Komm«, sagte er.
Das Polster des Sofas richtete sich wieder auf, als er sich erhob und mir die Hand hinhielt.
»Steh auf. Ich stütze dich.«
Für einen Moment verwischten sich die Zeitebenen. Er war wie damals, und ich konnte spüren, was ich in seinen Armen gefühlt hatte.
Doch dann war seine Maske gefallen, von der ich nicht einmal wusste, ob es eine Maske gewesen war.
Vielleicht hatte er einfach zwei Gesichter.
Schwankend richtete ich mich auf.
Der Verband saß hervorragend. Er gab meinem Fuß Halt und würde ein weiteres Anschwellen verhindern. Er linderte sogar die Schmerzen, was mich aufatmen ließ, denn ich bezweifelte, dass es hier Schmerztabletten gab.
»Ich kann allein laufen«, sagte ich und wehrte seine Hand ab.
Kurz flackerte Zorn in seinen Augen auf, aber dann ging er zu dem Bauernschrank. Er holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und steckte ihn ins Schloss.
Die Tür knarrte leise, wie alles in dieser Hütte knarrte und quietschte.
Georg machte sie ganz auf und sah mich lächelnd an.
Ich fiel auf die Knie und schrie.