Auf dem Rückweg fuhr Bert über Bröhl. Er hatte mit Isa telefoniert und sich mit ihr zu einer Tasse Kaffee verabredet. Sie hatten sich eine Weile nicht mehr gesehen, und Bert wich feige der Frage aus, die er sich im Stillen stellen musste: Wieso hatte er sich ausgerechnet heute bei ihr gemeldet?
Waren es nostalgische Gründe?
Oder wollte er ihr Informationen entlocken?
Bei den ehemaligen Kollegen gab es ein großes Hallo, doch erwartungsgemäß waren einige nicht in ihrem Büro, sodass er nicht alle begrüßen konnte.
Er war neugierig auf den neuen Kollegen, Magnus Scheuermann, über den keiner der Anwesenden ein böses Wort verlor. Doch ausgerechnet er gehörte zu denen, die unterwegs waren.
Bert und Isa nahmen den Kaffee in Isas Büro, wo sie schon so oft gesessen und geredet, sich gestritten und versöhnt, sich ausgetauscht und miteinander geschwiegen hatten. Bert fühlte sich, als wäre er gar nicht weg gewesen.
Aber die knapp zwei Jahre in Köln hatten ihn verändert. Er fühlte es, ohne es benennen zu können.
Und die Nähe zu Isa? War sie noch wie zuvor?
Er spürte die Melancholie, die auf der Lauer lag, um ihn mit ihren dunklen Tentakeln an sich zu ziehen. Wollte keine Antwort auf seine Fragen. Er wollte sich einbilden, alles sei geblieben, wie es gewesen war.
Doch das war nicht so. Sie redeten miteinander, als wäre er nach Jahren heimgekehrt, wohl wissend, dass er niemals wieder seine alte Stelle annehmen würde. Sie erzählten einander von Fällen, die sie mit anderen bearbeitet hatten. Und versuchten, die unerwartete Fremdheit zwischen ihnen tapfer wegzulachen.
Isa ließ sich von seiner Auszeit berichten und nickte zu den Gedanken, die er sich darüber gemacht hatte, als seien sie ihr vollkommen vertraut. Vermutlich waren sie das auch. Wie ein eingespieltes altes Ehepaar dachten sie oft gleichzeitig dasselbe.
»Ich habe gehört, du hast Pläne?«, fragte Bert.
»Diese Buschtrommeln«, murmelte sie und grinste ihn verschmitzt an.
»Und?«
»Ich habe ein Angebot bekommen, an der Uni zu unterrichten.«
»Köln?«
»Hamburg.«
Bert hoffte, dass sie sich dagegen entscheiden würde. Er hatte die Menschen, die in seinem Leben eine Rolle spielten oder gespielt hatten, gern in seiner Nähe.
Offenbar sah sie ihm seine Gedanken schon wieder an.
»Ich habe mich noch nicht entschieden, Bert.«
Er betrachtete ihr kastanienbraunes Haar, das kürzer geschnitten war als früher. Es reichte ihr nur noch bis zum Kinn und stand ihr ausgezeichnet. Wie früher hatte sie die Angewohnheit, sich beim Denken mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken zu massieren.
Fasziniert bewunderte er ihre eigenwillige Schönheit, derer sie sich überhaupt nicht bewusst zu sein schien. Selten war er einem so uneitlen Menschen begegnet.
Wieder einmal fragte er sich, warum er sich nicht in sie verlieben konnte, statt einem Traum nachzulaufen, der sich niemals erfüllen würde.
Nachdem sie die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht hatten, erkundigte er sich nach Jette, und Isa brachte ihn auf den neuesten Stand. Er erfuhr, dass Scheuermann die Angelegenheit mit Zurückhaltung anging.
»Verständlich.« Er nickte. »Aber hast du ihm gesagt, dass Jette nicht zu Übertreibungen neigt?«
»Natürlich. Es ändert nur nichts an der Tatsache, dass er zu wenig in der Hand hat. Der Abgleich der Fingerabdrücke war negativ. Die Nachrichten, die Scheune, Jettes Auto, alles sauber. Ich wollte, es wäre anders und Scheuermann könnte aktiv werden.«
»Ich bin schon mit deutlich weniger aktiv geworden.«
»Und hast deswegen regelmäßig Ärger gekriegt.«
Sie bedachte ihn mit einem liebevollen Lächeln.
»Ich weiß, dass Jette sich nicht wegen einer Bagatelle an die Polizei wenden würde, Isa. Die ganze WG hat es nicht mit uns Bullen. Das ist doch einer der Gründe dafür, dass sie uns lieber umgehen und sich prompt in irgendeinem Schlamassel wiederfinden.«
»Aus dem du sie oft genug gerettet hast.«
»Deshalb weiß ich ja, dass man die Alarmsignale ernst nehmen muss. Und dass Jette das Gefühl von Bedrohung hat, ist ein Alarmsignal.«
»Das war es, was dich hergeführt hat«, stellte Isa ohne Bitterkeit fest.
»Nicht nur …«
»Du wolltest mit Magnus sprechen.«
Dass sie den Kollegen, den er nicht einmal kannte, beim Vornamen nannte, störte Bert gewaltig, obwohl es unter Kollegen normal war.
Was war los mit ihm?
Es war üblich, sich im Kollegenkreis zu duzen. Das erleichterte die Arbeit und schaffte ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Außerdem konnte Isa verdammt noch mal duzen, wen sie wollte.
»Stimmt’s? Und ihm bei der Gelegenheit Jette ans Herz legen.«
»Ich wollte herausfinden, ob ich ihm trauen kann.«
Ihre Augen wurden schmal.
»Gehst du da jetzt nicht ein bisschen zu persönlich ran, Bert?«
»Und du?« Er musterte sie aufmerksam. »Wieso hast du ihr einen Job gegeben?«
»Weil sie intelligent und einfühlsam ist und Interesse an der Polizeiarbeit hat, weil sie Psychologie studiert und einmal das werden will, was ich bin und … Darüber haben wir uns damals schon unterhalten, als sie unbedingt einen Job wollte.«
»Ich hatte dir abgeraten.«
»Richtig. Weil ihre Mutter es so wollte. Das konnte für mich kein Grund sein, das Mädchen abzulehnen.«
»Warum, Isa?«
»Okay – vielleicht fand ich es auch vernünftig, ihre Neugier sozusagen kontrolliert zu befriedigen. Ich habe zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Jette macht ihre Arbeit wirklich gut und lernt ganz nebenbei, dass für manche Dinge die Polizei da ist und Privatleute sich nicht einzumischen haben.«
»Und das ist kein persönliches Herangehen an die Sache?«
Isas leises Lachen zeigte, dass sie sich geschlagen gab.
»Was hast du jetzt vor, Bert?«
»Ich?« Er schenkte ihr seinen unschuldigsten Blick. »Ich werde meine Auszeit genießen. Lesen. Reisen. Dies und das.«
»Dies und das«, wiederholte sie schmunzelnd. »Soso …«
Sie waren wie zwei Seiten einer Münze. Bert würde sich in jeder Situation auf Isas Loyalität verlassen können und sie sich auf seine.
Wieder musterte er sie.
Isa nickte.
In jeder Situation, hieß das.
Sie berichtete von dem Van.
»Und du bist immer noch der Meinung, dass man nicht hellhörig werden muss?« Bert stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis bald, Isa.«
Mit einem Seufzen erhob sie sich und nahm ihn in die Arme.
»Pass auf dich auf, Bert.«
Und du nimm bitte die Stelle in Hamburg nicht an.
Er dachte es nur, denn er hatte nicht das Recht, es auszusprechen.
*
Es war der Hass, der Georg aufrecht hielt. Eigentlich war das schon immer so gewesen. Hass konnte ungeahnte Kräfte in einem Menschen freisetzen.
Nur der Hass hatte ihm geholfen, damit fertigzuwerden, dass seine Mutter ihn am Tag nach seiner Geburt verlassen hatte. Nur ihm verdankte er es, dass er eine Kindheit voller Brutalität und Entbehrung bei den Großeltern überlebt hatte.
Nach dem Tod des gewalttätigen Großvaters war seine Mutter ins Dorf zurückgekehrt, verheiratet mit einem Trinker, und sie hatten Georg zu sich in eine armselige Wohnung geholt, in der Georg sich Tag für Tag weiter von ihnen entfernte.
Hätte er seinen Hass nicht gehabt, wäre er zugrunde gegangen.
Noch bevor man ihn gefasst hatte, war seine Großmutter gestorben und hatte ihm das Haus vermacht, in dem er aufgewachsen war. Ihre Tochter hatte sie in ihrem Testament nicht erwähnt. Sie hatte ihr nie verziehen, ein Kind der Sünde geboren zu haben.
Das Haus war nicht allzu viel wert gewesen, doch das Land hatte Georg ein Vermögen eingebracht. Er hatte das Geld so angelegt, dass man es nicht zurückverfolgen konnte. Eine kluge Investition.
Es war weit mehr als Geld – es war seine Freiheit.
Die Gewissheit, dass er nicht im Knast verrotten würde.
Seine Mutter, die plötzlich ihre Liebe zu ihm entdeckt haben wollte, hatte ihn ein einziges Mal hier besucht und sich als erbärmliche Schauspielerin entpuppt. Nach wenigen Minuten bereits hatte sie ihn auf das Geld angesprochen. Er war aufgestanden und hatte den Besuchsraum verlassen. Ihr Keifen war ihm bis ans Ende des langen Flurs gefolgt.
Auch dieses Kapitel seines Lebens hatte sich erledigt.
Georg hatte gelernt, die Gespenster der Vergangenheit in seinem Innern zu verschließen und ihnen nicht das Feld zu überlassen, wenn sie doch einmal hervorbrachen. Er durfte seine Pläne nicht gefährden. Nicht jetzt, wo der Erfolg schon greifbar war.
Eine neue Lieferung von Büchern war eingetroffen. Keine Spenden ausrangierter, zerlesener Exemplare irgendwelcher Bibliotheken diesmal, sondern Restauflagen, die ein großes Buchoutlet der JVA überlassen hatte. Sie mussten durchgesehen, katalogisiert, laminiert und in den Bestand eingeordnet werden.
Eine Menge Arbeit, die Jeff überfordert hätte. Deshalb war Georg völlig überraschend für die nächste Zeit zur Arbeit in der Bücherei abgestellt worden.
Worüber er nicht traurig war.
Ezra umschlich ihn wie eine Hyäne. Lauerte bloß darauf, dass er sich eine Blöße gab. Doch Georg dachte gar nicht daran. Das würde er erst tun, wenn es in seinen Plan passte. Alles hing davon ab, wie gut die Vorbereitungen liefen.
Bevor er sich bei Jeff meldete, ging er kurz bei Janus vorbei, der wegen diffuser Kopfschmerzen von der Arbeit befreit war und schlecht gelaunt in seiner Zelle hockte.
»Läuft«, sagte er nur auf Georgs fragende Miene hin.
»Hast du’s nicht ein bisschen ausführlicher?«
»Ich tu, was ich kann.«
Wahrscheinlich stimmte das sogar. Was er von Janus verlangte, war nicht gerade wenig.
»Ich bau auf dich.«
»Oookaaay.« Janus machte eine genervte Handbewegung in Richtung Zellentür. »Und jetzt zisch ab, Mann. Ich brauch Ruhe.«
Er sah tatsächlich elend aus.
Das war der einzige Grund, warum Georg sich zurückzog, ohne Druck zu machen. Janus musste schnell wieder zu Kräften kommen. Die Geschichte war zu weit gediehen, um sie nun schleifen zu lassen.
Jeff hatte bereits damit angefangen, die Bücher durchzusehen und auf Beschädigungen hin zu untersuchen. Im Büro war es, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall Bücher, Kisten, Papier. Und mittendrin Jeff und Georg, Überlebende in einem Büchermeer.
»Überlebende im Büchermeer.« Jeff kicherte. »Der ist gut.«
Er war entspannter, als Georg ihn je zuvor erlebt hatte. Kein Wunder. Er sah seiner regulären Entlassung entgegen, durfte sich bald frei draußen bewegen und würde keine größeren Probleme haben, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Nicht Jeff. Vorzeigehäftling. Liebling der Psychotherapeutin. Leuchtendes Vorbild für alle. Ungehindert würde er ein neues Leben beginnen können.
Anders als Georg.
Sobald er wieder draußen wäre, würde er untertauchen und eine neue Identität annehmen müssen, denn man würde ihn suchen. Das Leben, das er beginnen würde, wäre das Leben eines andern.
Ein zweites Leben.
Er würde es nutzen.
*
Ich war tief in meiner Arbeit versunken, als ich plötzlich eine vertraute Stimme hörte.
»Da habe ich ja Glück gehabt, Sie anzutreffen.«
Der Kommissar.
Er stand am Tor, und ich sprang so schnell auf, um ihm zu öffnen, dass ich mein lädiertes Fußgelenk vergaß. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Ich klammerte mich am Tischrand fest und wartete darauf, dass er nachließ.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Geht schon. Ich hab mich beim Laufen verletzt.«
Das war die Beschönigung des Jahrhunderts. Langsam humpelte ich zum Tor und schloss auf.
Er reichte mir die Hand und sah mir in die Augen. Nur er hatte diesen Blick, dem nichts entging und dem man nichts vormachen konnte.
In meinem Kopf schwirrten die Gedanken umher. Warum war er gekommen? Bedeutete das, dass er sich um die Sache kümmern wollte? Wieso hatte er sich plötzlich dazu entschlossen? Und was war mit Scheuermann? Würde der sich die Einmischung gefallen lassen?
»Wollen wir uns nicht erst einmal setzen?«, sagte er, als hätte ich ihm all diese Fragen laut gestellt.
Klar. Und ich musste ihm etwas zu trinken anbieten. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Es war immer noch viel zu heiß.
Er folgte mir in die Küche, drückte mich auf einen Stuhl und nahm mir die Arbeit ab. Wenig später saßen wir wieder im lichtfunkelnden Schatten meiner geliebten Akazie, beide ein großes Glas Wasser in der Hand.
»Ich war gerade in der Gegend«, begann der Kommissar das Gespräch, und wie meistens bei dieser Einleitung war es vermutlich nicht die ganze Wahrheit. »Das heißt, um ehrlich zu sein … ich habe mehrere Dinge miteinander verbunden.«
Das Lächeln auf meinen Lippen tat mir gut.
Sein Besuch tat mir gut.
»Was ist das für eine Geschichte mit dem Van?«, fragte er.
Ich fing an zu erzählen.
*
Als Merle von der Arbeit nach Hause kam, hatte sich der Kommissar gerade verabschiedet. Sie war müde und hungrig und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, bei Claudio zu essen. Das hatten wir schon lange nicht mehr getan.
»Was ist mit deinem Fuß passiert?«, erkundigte sie sich mit einem Blick auf mein umwickeltes Fußgelenk.
»Bin umgeknickt.« Gerade waren die Schmerzen wieder heftiger geworden, und ich beschloss, noch eine Tablette zu schlucken. »Erzähl ich dir später.«
»Aber ich fahre«, bestimmte sie.
Ich protestierte nicht. Am liebsten wäre ich geblieben, wo ich war. Jede Bewegung war eine Herausforderung. Doch wir hatten einiges zu besprechen. Also rappelte ich mich auf und schleppte mich zum Auto.
Als wir kurz darauf am Ziel ankamen, hatten wir Mühe, einen Parkplatz zu finden, weil alles vollgestellt war. Claudio wurde allmählich Kult. Er konnte sich vor Gästen kaum noch retten.
Er hatte den Gastraum um einen Raum vergrößert, der bisher vom Vermieter nicht genutzt worden war. Auf dem nagelneuen Schild über dem Eingang stand nun stolz und selbstbewusst Pizzeria Claudio.
Er betrieb jedoch auch den Pizzaservice weiter, der wie geschmiert lief. Die Qualität seiner Küche hatte sich herumgesprochen.
Tatsächlich brummte der Laden, obwohl es erst achtzehn Uhr war. Francesca bediente die Gäste, und Angelo und eine Küchenhilfe rotierten schwitzend an Herd und Pizzaofen, während Claudio für die Getränke zuständig war und zum Vergnügen der Leute den sizilianischen Alleinunterhalter gab.
Er begrüßte uns überschwänglich und forderte Merle ausnahmsweise einmal nicht auf, sich bitte sofort eine Schürze umzubinden, um ihn vor dem drohenden Herzinfarkt zu bewahren. Er war sogar ausnehmend fürsorglich, küsste sie zärtlich und rückte ihr den Stuhl zurecht, cara mia hier, amore mio dort.
Lange hatte er Merle mit seiner angeblichen Verlobten in seinem sizilianischen Heimatdorf hingehalten, die die Wahrheit über seine Liebe zu einem deutschen Mädchen nicht verkraften würde. Doch dann hatte sich diese geheimnisumwitterte Verlobte als gewöhnliche Cousine entpuppt, die zudem nicht das geringste Interesse an ihm zeigte.
Und Merle hatte den Spieß umgedreht.
Sie war nicht mehr auf Knopfdruck verfügbar und nicht länger bereit, ihr Leben auf Claudio auszurichten. Zwar wurde sie ab und zu wieder schwach, aber sie ließ das nicht zur Gewohnheit werden.
Der geläuterte Claudio brachte mir sogar ein mit zerstoßenem Eis gefülltes Tuch, damit ich den Fuß hochlegen und kühlen konnte.
Wir bestellten vegetarische Pizza und Gemüselasagne, die Angelo in jeweils zwei Portionen aufteilen sollte, damit wir beide Gerichte genießen konnten. Allmählich schien er über seine unerfüllte Liebe zu Merle hinwegzukommen. Erst neulich hatte ich ihn Hand in Hand mit einer jungen Frau über den Bröhler Markt schlendern sehen. Ich wünschte ihm, dass daraus etwas wurde.
Der Kommissar hatte mir anvertraut, die Untersuchung der Fingerabdrücke habe nichts ergeben. Magnus Scheuermann werde mich deswegen noch anrufen. Da hatte ich meine Zweifel, denn wahrscheinlich nahm er die Sache jetzt noch weniger ernst.
»Das heißt, der Typ ist bei den Bullen nicht registriert«, schloss Merle. »Mist.«
Als ich ihr gestand, wobei ich mir den Fuß verknackst hatte, funkelte sie mich verärgert an.
»Und das erfahre ich so ganz nebenbei am späten Abend?«
»Es ist kurz nach sechs.«
»Du weißt, wie ich das meine. Ich hab mein Handy immer griffbereit, Jette.«
»Sorry. Ich musste erst wieder runterkommen.«
»Und das hättest du am Telefon nicht gekonnt?«
Ich hatte gar nicht daran gedacht, sie anzurufen. Normalerweise war das immer das Erste, was ich tat, wenn mich etwas sehr beschäftigte, positiv oder negativ.
»Mir war nicht nach Telefonieren. Ich wollte mich nur ablenken.«
Merle bedachte mich mit einem vernichtenden Blick.
»Was sagt der Kommissar?«
»Er nimmt das offenbar sehr ernst.«
»Na, hoffentlich.«
Francesca brachte das Essen und wünschte uns guten Appetit. Sie trug einen so unverschämt kurzen, so unglaublich engen Rock, dass sie sich nur eingeschränkt bewegen konnte, wenn sie keine ungewollten Einblicke gewähren wollte.
Obwohl Angelo sein Bestes gegeben hatte und schon der Duft der Speisen einem die Sinne vernebelte, musste ich mich zum Essen zwingen. Der Schock saß mir noch in den Gliedern.
»Was wird er jetzt machen?«, fragte Merle zwischen zwei Bissen.
»Machen? Wer?«
»Der Kommissar natürlich.«
»Er hat nicht mal gesagt, dass er überhaupt aktiv werden will.«
»Und du hast ihn nicht gefragt?«
»Er hat sich beurlauben lassen, Merle. Er darf gar nichts unternehmen.«
»Wird er aber, oder?«
»Ich denke, ja.«
Erst nachdem ich es ausgesprochen hatte, konnte ich wirklich daran glauben. Das bedeutete jedoch nicht, dass ich nicht auch auf eigene Faust versuchen würde herauszufinden, wer es auf mich abgesehen hatte. Ich taugte nicht zum Opferlamm und war nicht bereit, meine Bewegungsfreiheit von einem Wahnsinnigen einschränken zu lassen.
Opferlamm …
Die Gabel begann in meiner Hand zu zittern. Ich legte sie auf den Teller und trank einen Schluck Wasser, um mich zu sortieren.
War er hier?
In unserer Nähe?
Jetzt, in diesem Moment?
Verstohlen blickte ich mich um.
An jedem Tisch saßen mehrere Gäste. Aber wieso ging ich eigentlich davon aus, dass es sich bei dem Typen um einen Einzelgänger handelte? Vielleicht saß er hier mit Kollegen zusammen. Oder mit seiner Freundin. Vielleicht peppte er sich den Alltag bloß damit auf, dass er nebenbei ein wenig Chaos stiftete.
Man sah Psychopathen nicht an, dass sie Psychopathen waren.
»Nennt man das, was der Irre tut, eigentlich noch Stalking?«, holte mich Merles Stimme zurück. »Oder geht das schon darüber hinaus?«
Ich hob die Schultern.
Es war Terror, egal, wie man es betrachtete.
»Terror.« Merle nickte grimmig. »Allerdings.«
Hatte ich schon wieder laut gedacht? Wurde das jetzt etwa zur Gewohnheit? Ich schob meinen Teller weg.
»Keinen Hunger mehr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Darf ich das noch haben?«
»Klar.«
Merle zog meinen Teller zu sich heran und machte sich darüber her. Wahrscheinlich war sie wieder den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen.
»Entschuldige mich mal kurz.«
Ich stand auf und hinkte in den Waschraum. Der Spiegel zeigte mir ein schmales, angestrengt wirkendes Gesicht mit Schatten unter den Augen.
»Du siehst ziemlich fertig aus«, sagte ich zu ihm und zuckte zusammen, als draußen im Vorraum Männerlachen ertönte.
Ich hielt den Atem an und lauschte.
Eine Tür klappte zu. Männerstimmen entfernten sich. Sie hatten nichts mit mir zu tun.
Ich ließ mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und fühlte mich gleich ein bisschen besser. Trotzdem beeilte ich mich, zurück an unseren Tisch zu kommen.
Selbstkritisch fragte ich mich, ob jemand, der so rasch an seine Grenzen geriet, für den Beruf einer Psychologin überhaupt geeignet war.
»Du darfst dir nicht vornehmen, die Welt zu retten«, hatte meine kluge Großmutter kürzlich gesagt. »Das ist unmöglich. Du kannst vielleicht den einen oder andern Menschen vor sich selbst retten, und wenn dir das gelingt, hast du sehr viel erreicht.«
Auf einmal vermisste ich sie und ihre warmherzige Art, das Leben zu betrachten.
»Hey«, riss Merles Stimme mich aus meinen Gedanken. »Ich rede mir hier den Mund fusselig und du bist ganz woanders.«
Es surrte in meiner Handtasche. Als ich das Smartphone herausziehen wollte, fiel mein Blick auf einen Zettel, den ich garantiert nicht eingepackt hatte.
Neongrün.
Ich zuckte zurück, als hätte ich eine Kobra in meiner Tasche entdeckt.
»Was ist los?«
Merle beugte sich vor und holte den Zettel mit spitzen Fingern heraus. Sie klappte ihn auf und las ihn. Dann legte sie ihn vor mich auf den Tisch.
»So ein mieses Schwein.«
GLÜCK GEHABT!
In der Küche schmetterte Claudio Parla con me von Eros Ramazotti. Besteck klapperte auf Porzellan. Menschen redeten und lachten. Alles wirkte so friedlich vertraut.
Dabei war er hier.
Musste hier sein.
Wann sonst hätte er mir die Botschaft zustecken können?
Meine Tasche hatte die ganze Zeit auf einem der Stühle gestanden, zusammen mit der von Merle. War jemand außer Claudio, Angelo und Francesca in der Nähe unseres Tisches gewesen?
Da kamen etliche infrage. Seit das Rauchen in den Restaurants verboten war, gingen die Raucher nach draußen, um ihre Zigarette zu genießen. Es war ein ständiges Hin und Her in der Enge zwischen den Tischen.
Und hatte mich nicht jemand gestreift und »Entschuldigung« gemurmelt?
Ein Mann.
Oder drehte ich jetzt völlig durch?
Merle erinnerte sich nicht daran.
»Ich hab nicht drauf geachtet, Jette. Tut mir leid. Hier haben sich andauernd Leute vorbeigeschlängelt.«
Jemand rempelte mich an. Ich zuckte zusammen.
»Ich möchte nach Hause, Merle.«
Ein Blick in mein Gesicht und sie schob ihren Stuhl zurück.
Wie auf sein Stichwort kam Claudio aus der Küche getänzelt.
»Ihr wollt schon gehen?«
Merle hielt den Zettel hoch.
»Il bastardo!«, schimpfte Claudio. »Ich werde ihn erschießen! Erstechen! Erwürgen! Mit meinen eigenen Händen!«
Sie hatte ihm alles erzählt.
Er nahm mich in die Arme und wollte mich gar nicht mehr loslassen. War besorgt um mich, wie neuerdings alle besorgt um mich waren. Sie hatten keine Ahnung, wie beklemmend Besorgnis wirken konnte.
Dann ließ er mich los und zog Merle an sich.
»Übernachtest du bei mir?«, fragte er leise, aber nicht leise genug. »Du weißt, ich bin verrückt nach dir, tesoro mio.«
Merle drückte ihm einen Kuss auf die Nase und entwand sich ihm.
»Luke ist in Köln. Ich kann Jette jetzt nicht allein lassen. Verstehst du das?«
»Certamente. Ich verstehe, dass dir alles wichtiger ist als ich.«
»Das ist Quatsch, Claudio, und du weißt das.«
Ich wäre gern großzügig gewesen und hätte auf Merles Begleitung verzichtet, aber ich war froh, dass sie bei mir war. Ich ging schon mal zur Tür, damit sie ungestört reden konnten.
Doch davon hatten sie offenbar genug. Claudio stieß Merle von sich und warf verärgert die Arme in die Luft. Dann stürmte er in die Küche.
»Er kann so ein Arschloch sein«, murmelte Merle und öffnete die Tür.
Der Abend war gelaufen.