Ich war als junges, welthungriges Mädchen mit dem billigen Schüler- und Studentensonderzug nach Rom gefahren, sechzehn Jahre alt. Ich wohnte sechs Wochen in der Via Alessandro Farnese bei evangelischen Schwestern, gut behütet, aber tagsüber konnte ich herumstöbern und lernte einen netten jungen Mann kennen, der Friedrich Moll hieß und mit einer deutschen Reisegruppe unterwegs war. Er hatte sich mal kurz abgesondert, und zack, Blicke, Grinsen, es hatte so ein bisschen gefunkt, und er sagte: »Wir haben heute eine Audienz beim Papst, komm doch mit!« Ist das zu fassen, so ein Satz? Das war 1959, und der Papst hieß Giovanni XXIII., im Volksmund nur »il Papa buono« genannt, der gute Papst, denn Angelo Giuseppe Roncalli folgte auf Pius XII., der schon sehr laut geschwiegen hatte zur Zeit der Nazis. Jahrzehnte später hatte ich ein Haus in Norditalien und aß bei einer befreundeten Familie, in deren Küche il Papa buono hing, da war der aber schon längst tot, und seit über zehn Jahren und noch für weitere sechzehn Jahre regierte im Vatikan stellvertretend für den Himmel Karol Wojtyła, Papst Johannes Paul II., der diesen Beinamen nicht bekam, und ich fragte nach. Ja, sagte Mutter Marinelli, die aus Rom stammte, Giovanni, das sei nun mal Papa buono, »l’altro«, sagte sie, den anderen, den aus Polen, »il polacco di Roma, non vogliamo in cucina«, den wollen wir in der Küche nicht haben.

Friedrich Moll, von mir nur noch F-Moll genannt, hatte also mit der Gruppe eine Audienz beim Papst! Ich rannte in die Via Alessandro Farnese, zog die Shorts aus und ein Kleidchen an, lieh mir von den Schwestern ein Tuch, das ich züchtig über Kopf und Schultern zog, und traf F-Moll und die Gruppe an der Engelsburg. Los ging’s.

Es war in einem Riesensaal auf dem Vatikangelände, ich weiß nicht mehr genau, wo, ich ging als F-Molls aus Versehen nicht gemeldete Cousine mit durch, im Saal waren außer uns noch Hunderte. Und dann kam ein gütig aussehender Mann, den man sich in Bauernkleidern eher vorstellen konnte als in dieser prächtigen Robe. Und wirklich war Roncalli ja auch ein armer Bauernsohn aus der Lombardei, aus einer Familie mit zwölf Geschwistern. Er sprach ein paar Minuten mit leiser Stimme und segnete alle im Saal, und dann war es auch schon vorbei.

Aber es ist nicht so, als hätte es mich nicht doch ergriffen: Mich hatte ein Papst gesegnet! In Rom! Und zwar der gute, il Papa buono. Und das verfolgte mich bis in meinen aufgeregten Teenagerschlaf. Mein Tagebuch aus der Zeit enthält seitenlange Überlegungen, ob ich doch wieder auf Gott vertrauen sollte, ob doch was dran wäre an alldem und ob ich jetzt auch »gebenedeit unter den Weibern« wäre. Wie ist man, gesegnet? Schon ein bisschen auf Zehenspitzen, das muss ich sagen.

F-Moll fuhr im Bus mit seiner Gruppe wieder ab und war schnell vergessen, dieser Papst blieb mir nah. Er starb am Pfingstmontag in dem Jahr, in dem ich Abitur machte. Einmal hat er an einem 27. Dezember in Köln die Messe gelesen, und immer wenn ich im Dom sitze und das schöne Richterfenster anschaue, denke ich an diesen Papst, diesen liebenswürdigen, freundlichen Mann, der mich gesegnet hat. Und ich bin ihm dankbar.

Am nächsten Morgen zog es mich frisch Gesegnete zum Petersdom, sonst hatte ich mich eher auf der Via Veneto herumgetrieben, in Eisdielen oder auf der Spanischen Treppe bei den Freaks. Aber ich wollte gucken, wo mein Papst wohnte, und ging ziemlich ahnungslos hinein, und da war gleich rechts Michelangelos Pietà, damals noch nicht hinter Panzerglas.

Die Mutter hält ihren toten Sohn im Arm und schaut auf ihn, und das alles ist aus weißem Marmor, und man spürt seinen Schmerz und ihre Kraft und die Verzweiflung und die Duldung und sein Leid, und es war nicht zu begreifen, dass das Stein sein sollte, man wollte den Kopf daranlegen und weinen, seine Hand nehmen, ihr Gesicht streicheln — ich hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war, so etwas Großes, Unfassbares. Ich kann mich an gar nichts anderes in Rom mehr erinnern, doch, an Raffaels Grab im Pantheon mit dem großartigen Grabspruch »ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci, rerum magna parens et moriente mori«. Das heißt etwa: Das hier ist jener Raphael, den die große Mutter (die Natur) fürchtete, als er noch lebte (fürchtete, von ihm übertroffen zu werden), und nun fürchtet sie zu sterben, da er starb. Ich erinnere mich an die Reiterstatue des Marc Aurel vor dem Kapitolinischen Museum, an die Eisdiele auf dem Campo de’ Fiori, an die Katzen im Kolosseum, an die Kuppel des Petersdoms, an vieles, sogar an einen Kuss, nicht von F-Moll, sondern von einem serbischen Sänger, der im Vorabendprogramm des italienischen Fernsehens »Santa Lucia« und »O sole mio« sang, mit sechzehn küsste man viel.

Aber diese Frau aus Marmor mit ihrem Sohn, die einfach nur dasaß, ihn hielt und wohl dachte: Warum er? Was mach ich jetzt? Was wird aus uns allen? — das war der stärkste Eindruck, den je ein Kunstwerk auf mich gemacht hat. Ich stand davor und weinte so heftig, dass ein Aufpasser aus dem Dom kam und mich gütig fragte, was denn los wäre. Aber er verstand es auch so. Er nickte nur und sagte: »Si. Michelangelo. Ecco.«

Später habe ich ein bisschen nachgelesen. Ein Skandal sei diese Skulptur damals gewesen, 1499, weil Gottes Sohn im Schoß einer Frau lag, die vom Alter her nicht seine Mutter sein konnte — stimmt, war mir auch aufgefallen, aber in der Ewigkeit, dachte ich, ist eben alles jung und schön. Michelangelo selbst soll dazu gesagt haben, eine Jungfrau ohne sündiges Leben altere eben anders! Ein Skandal auch, weil Jesus nackt war, nackt im Schoß einer Frau. Aber Gottes Stellvertreter war zu der Zeit Papst Alexander VI., aus der sündigen Borgia-Familie stammend, er hatte eine Geliebte und etliche Kinder, und der war mit Nacktheit vertraut, und das Kunstwerk blieb im Petersdom, basta. Michelangelo war damals 25 Jahre alt. Wie kann ein so junger Mensch aus Stein etwas so Perfektes schaffen? In den siebziger Jahren hat ein verwirrter Mann namens Laszlo Toth, der sich selbst für Jesus hielt, die Skulptur mit zwölf Hammerschlägen schwer beschädigt. Er brach Marias linken Arm, haute ihr die Nase ab und zerstörte das linke Auge. Rund hundert kleine Marmorstücke sollen auf dem Boden gelegen haben, von Restauratoren wurden sie mühsam wieder zusammengesetzt und mit Kleber an die richtigen Stellen gebracht, die Löcher und Lücken wurden mit Marmorpulver gefüllt. Seitdem ist das Werk hinter Panzerglas. Wir sehen also beschädigte Schönheit. Das macht es irgendwie noch ergreifender.

Leonard Cohen singt: »There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.«

Jahrzehnte später, ich habe ein kleines Haus in Köln. In den ersten Jahren kamen am 6. Januar immer die Sternsinger vorbei, sangen, segneten das Haus und bekamen dafür Schokolade, Mandarinen und ein bisschen Geld. Sie kommen schon lange nicht mehr. Aber mir fehlte die Kreideschrift an der grünen Holztür, und irgendwann habe ich mir weiße Kreide gekauft, ein kurzes Gebet gesprochen und gedacht: il Papa buono hat mich schließlich gesegnet, dann kann ich auch mein Haus selber segnen. Und das tue ich seitdem jeden 6. Januar.

Christus Mansionem Benedicat — Christus segne dieses Haus.