Sanft wellten sich die Hügel im Licht der Abendsonne. Frisch gepflügte Äcker grenzten an solche, auf denen bereits Mais und Sonnenblumen zartes Grün zeigten, und liebevoll gepflegte Obstgärten fanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft von alten Olivenhainen. Hier und dort waren Weinreben zu sehen, doch die großen Weingüter mit den klangvollen Namen, die in aller Welt bekannt waren, lagen östlich des kleinen Flusses, den Oda Bergemann vor wenigen Minuten mit ihrem Mietwagen überquert hatte. Sie verlangsamte das Tempo ihres Autos. Wie hatte sie nur vergessen können, wie schön es hier war?
Die Elsa war ein Nebenfluss des Arno und der Namensgeber des kleinen Ortes, dessen mittelalterliche Silhouette auf einem Hügel vor ihr aufragte. Die junge Frau seufzte und strich sich eine Strähne ihres halblangen dunkelbraunenn Haares aus der Stirn. Egal wie langsam sie auch fuhr, irgendwann würde sie sich der Wirklichkeit stellen müssen, einer traurigen Realität, für die sie zum Großteil selbst verantwortlich war. Der bohrende Schmerz aus Schuldgefühlen, Verbitterung und Trauer steigerte sich mit jeder Kurve, die sie ihrem Ziel näher brachte. Als sich ihr Wagen durch die letzte steile Kurve vor der Stadtmauer quälte, hoffte sie, dass der Motor aufgeben, der Wagen zurückrollen und sie von hier fortbringen würde. So dachten Kinder, aber Kinder glaubten auch an Märchen mit guten Feen. Die hatte es in ihrem bisherigen Leben nicht gegeben.
Oda biss die Zähne zusammen und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mühsam kämpfte sich der Wagen die Steigung bis zum Plateau hinauf, das sich unterhalb der Stadtmauer von Casole d’Elsa erstreckte. Auf dem Parkplatz einer winzigen Tankstelle mit nur einer Zapfsäule stellte Oda den Motor ab und stieg aus. Sie streckte sich und sog die warme Luft ein. Es roch nach Pinien, Lavendel und Essen. Irgendwo wurde ein Fußballspiel im Fernsehen übertragen und Kindergelächter schallte über die Mauer.
Die Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Vaters hatte Oda schwer getroffen, obwohl sie über Jahre kaum Kontakt gehabt hatten. Als Oda jetzt auf diesem Parkplatz stand, die Giebelspitze ihres Hauses hinter den Mauern sah und die vertrauten Gerüche wahrnahm, brachen die Tränen aus ihr heraus. Sie schluchzte und schlug mit den Fäusten auf das Autodach. Alles, was sie an guten Erinnerungen hatte, die Wärme und Geborgenheit längst verblasster Kindertage, das verband sie mit diesem Ort.
»Signora, ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?« Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.
Die melodischen Klänge der Sprache, mit der Oda aufgewachsen war, machten alles noch schlimmer.
»Ist Ihr Wagen kaputt? Da kann ich leider nicht helfen. Und die Werkstatt in Casole ist auch erst morgen wieder geöffnet.« Wer sich so freundlich um sie kümmerte, war eine junge Frau, die ihr ein Papiertaschentuch reichte. Ihre schlanke durchtrainierte Figur kam selbst in dem blauen Arbeitsoverall vorteilhaft zur Geltung. Wie machten italienische Frauen das nur? Sie sahen immer gut aus.
Schniefend nahm Oda das Taschentuch. »Danke. Entschuldigung. Ich habe eine lange Reise hinter mir.«
Die freundliche junge Frau warf ihre dichten braunen Locken zurück und nickte. »Va bene. Das ist meine Tankstelle. Ich schließe jetzt. Brauchen Sie wirklich nichts? Eine Unterkunft? Mein Cousin vermietet ein Haus …«
Energisch schüttelte Oda Bergemann den Kopf. »Nein. Mein Vater hat … Er ist …« Ihr versagte die Stimme. »Ihm gehörte ein Haus.« Oda machte eine vage Bewegung in Richtung der Stadtmauer.
Augenblicklich veränderte sich der Gesichtsausdruck der Tankwartin und Neugier wich ehrlichem Mitgefühl. »Ich bin Marcella. Sie finden mich hier fast jeden Tag.« Ihr Mobiltelefon klingelte, doch bevor sie das Gespräch annahm, drückte sie kurz Odas Hand und nickte ihr zu.
Die Geste war so einfach wie herzlich. Oda sah der drahtigen kleinen Gestalt nach, die auf das Kassenhäuschen zuging. Wie hatte sie all das hier vergessen können? Sie stieg in ihren Wagen und startete den Motor. Ich habe nichts vergessen, dachte Oda, nur verdrängt.
Der kleine Wagen holperte im Schritttempo über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen. Oda wich einer Vespa aus, auf der ihr zwei junge Männer in halsbrecherischem Tempo entgegen kamen. Sie winkten und rasten die mindestens vierzig Grad steile S-Kurve hinunter. Die Abendsonne tauchte die Piazza vor der Kirche in warmes goldoranges Licht. Auf einer Bank saßen drei alte Männer und vor ihnen lag ein schlafender Hund auf den Steinen. Der Ort hatte sich verändert. Natürlich war auch hier die Zeit nicht stehen geblieben. Viele Fassaden wirkten neu, aber man hatte darauf geachtet, den historischen Charme zu erhalten.
Eine Katze sprang über die Straße und Oda trat kurz auf die Bremse. Die nächste Straße zu ihrer Linken musste es sein. Sie suchte nach dem Straßenschild. Via San Donato. Der Straßenbelag war brüchig, die Schlaglöcher vom Regen ausgewaschen. Zu beiden Seiten schmiegten sich alte, zum Teil schiefe, ein- oder zweistöckige Häuser aneinander. Wenige Fassaden waren verputzt, die meisten aus dem für die Region typischen sandfarbenen Stein erbaut. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen, hier und dort gab es einen schmalen Balkon. Endlich sah sie es. Die blassgelbe Fassade hob sich von den dunkleren Nachbarhäusern ab. Oleander und anderes Buschwerk drückten sich in dem schmalen Grünstreifen vor dem zweistöckigen Haus. Auf den Treppenstufen vor der Haustür standen bepflanzte Terrakotta - Kübel. Oda fuhr in die Einfahrt, stieg aus und erwartete fast, dass sich die Tür öffnete und ihr Vater heraustrat. Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen, aber sie erinnerte sich, dass er ihr oft liebevoll über die Haare gestrichen hatte.
Warum hatten sie keinen Weg zueinander gefunden? Es war unausgesprochen geblieben. Und das war das Schlimmste. Oda schluckte und betrachtete die Kübel. Unter dem Kamelienstrauch, hatte der Anwalt geschrieben, sollten die Haustürschlüssel liegen. Signore Matani würde erst übermorgen aus Mailand zurückkommen. Sie kannte weder den Anwalt ihres Vaters noch seine Freunde. Wie hatte Walter Bergemann in den letzten Jahren gelebt? Mit zitternden Fingern schob Oda die Blätter zur Seite und fand den Schlüssel lose in die Erde gedrückt.
»Was machen Sie da? Es ist niemand zu Hause!«, rief jemand von hinten.
Oda drehte sich um und entdeckte einen Mann in ärmellosem Hemd, der sich über den Balkon des gegenüberliegenden Hauses beugte. Er hielt ein halbvolles Weinglas in einer Hand und musterte sie kritisch.
»Ich weiß. Ich habe einen Schlüssel!« Zum Beweis hielt sie den Schlüssel in die Luft. Über zehn Jahre waren seit ihrem letzten Besuch vergangen. Kaum jemand würde sich an sie erinnern.
»Paolo, komm rein. Das Essen ist fertig!«, ertönte es befehlend aus dem Hausinneren.
»Eh, ich hab Sie im Auge.« Der Mann leerte sein Weinglas und verschwand vom Balkon.
Hatte es damals einen Paolo in der Nachbarschaft gegeben? Oda öffnete die Haustür und trat in die offene Diele. Es war genauso wie früher! Die offene Küche, nur durch einen Tresen vom Wohnraum mit dem Kamin getrennt, die rustikalen Möbel mit verschlissenen karierten Bezügen. An den Wänden hingen die Aquarelle, die ihre Mutter gemalt hatte. Roter Klatschmohn, den man am Wegesrand und auf den Feldern fand. Zypressen, die sich wie eine Perlenkette über die Hügel zogen. Oda schaute in die Küche, die aufgeräumt wirkte. Wahrscheinlich hatte der Anwalt dafür gesorgt. Signore Matani war sehr höflich am Telefon gewesen, hatte sich mehrfach für seine Abwesenheit an ihrem Ankunftstag entschuldigt und versichert, dass sie sich um nichts zu kümmern brauchte. Was ihr noch bevorstand, waren die Beerdigung und das Sortieren der persönlichen Dinge ihres Vaters. Davor graute ihr am meisten.
Neben dem Kamin hing ein kleinformatiges Aquarell. Mohnblumen. Im Sommer blühten sie überall. Oda berührte den hellblau lackierten Bilderrahmen. Viele Erinnerungen an ihre Mutter hatte sie nicht. Claudia Bergemann war gestorben als Oda fünf Jahre alt gewesen war. Doch wenn Oda die Augen schloß, sah sie ihre Mutter noch heute mit Farben und Pinseln hantieren. Die Sonne schien durch das Blattwerk der alten Bäume im Garten, warf tanzende Schatten auf die Terrasse und Odas Mutter stand vor einer Staffelei und lächelte ihr zu.
»Schau, kleine Oda, das sind die Waldfeen. Sie tanzen für uns auf den Steinen. Wenn du eine fängst, darfst du dir etwas wünschen.« Ihre Mutter lachte und die grünen Augen blitzten übermütig. Während Oda vergeblich den Schatten nachjagte, huschte der Pinsel ihrer Mutter über den Block auf der Staffelei. Damals wusste Oda nicht, wie krank ihre Mutter war. Doch irgendwann war der Tag gekommen, an dem Claudia nicht mehr aufstehen konnte, ihre Tochter in die Arme nahm und lange an sich drückte. Dann zog sie ein kleines gerahmtes Bild unter ihrem Kopfkissen hervor.
»Das ist deine Waldfee, Oda. Wenn du einen Wunsch hast, wird sie ihn dir erfüllen. Du musst nur ganz fest daran glauben.«
Oda nahm das Bild und schaute es lange an. Ihre Mutter hatte eine kleine geflügelte Fee gemalt, die im offenen Kelch einer Mohnblüte saß. An die genaue Abfolge der dramatischen Ereignisse, die dann folgten, konnte Oda sich nicht erinnern. Mit versteinerter Miene war ihr Vater zu ihr gekommen, um ihr zusagen, dass ihre Mutter sie für immer verlassen hatte und sie nun tapfer sein müssten. Er hatte sich vor sie gekniet, seine Hände auf ihre Schultern gelegt und gesagt: »Mutter wollte nicht, dass wir weinen, Oda. Wir dürfen nicht traurig sein, sonst weint der Himmel.«
Eine Träne tropfte auf das Bilderglas. Oda schluchzte. Sie war ein kleines Mädchen gewesen! Wie hatte sie verstehen sollen, dass ihre Mutter für immer fort war, sie nie wieder küssen und mit ihr lachen würde? Aber sie hatte verstanden, dass es ihrem Vater wichtig war, dass sie nicht weinte. Oda weinte nicht auf der Beerdigung und auch nicht danach. Alle hielten sie für ein seltsames herzloses kleines Mädchen. Doch die Leute wussten nicht, dass sie nächtelang vor dem Aquarell mit der Waldfee saß und sich wünschte, dass ihre Mutter zurückkam.
»Warum hast du das gesagt? Hast du nicht gewusst, dass ein kleines Mädchen daran glauben würde? Dass ich daran verzweifeln musste, weil es nicht funktionierte?«, flüsterte Oda und legte abrupt das Bild ab.
Frische Luft, dachte sie! Die Holzrahmen der Terrassentüren waren rissig, der Griff ließ sich nur schwer betätigen. Quietschend schwangen die Türen nach außen auf. Nachdem Oda ihre Schuhe ausgezogen hatte, setzte sie einen Fuß auf die unregelmäßig verlaufenden Steinplatten. In den aufgebrochenen Fugen machte sich Unkraut breit, doch die Steine fühlten sich an wie damals.
Zwei Rattansessel standen neben einem Holztisch, auf dem sich ein zerbrochenes Windlicht befand. In einem der Sessel lag sorgfältig zusammengefaltet eine Wolldecke. An der Wand war Kaminholz aufgestapelt und auf dem Rasen stand ein Block mit einer Axt. Ihr Vater hatte selbst Holz gehackt, also musste er kräftig und gesund gewesen sein. Sie ging auf den Rasen hinunter, der an der Stirnseite an die Stadtmauer grenzte. Von dort hatte man einen weiten Blick über die Hügel, und bei klarer Sicht zeigte sich am Horizont die markante Silhouette von San Gimignano. Sie stellte sich neben einen Erdbeerbaum, wandte sich dem Haus zu und betrachtete das Dach. Dort oben hatte ihr Vater das Gleichgewicht verloren und war rückwärts von der Leiter gestürzt. Signore Matani hatte sich bei der Beschreibung der Umstände, die zum Tod ihres Vaters geführt hatten, sehr zurückgehalten. Aus gutem Grund. Nicht einmal ansatzweise mochte Oda sich vorstellen, wie ihr Vater stundenlang mit einer Platzwunde und einem gebrochenem Halswirbel hilflos im Garten gelegen hatte.
Seufzend schaute sie zu den Nachbarhäusern auf beiden Seiten. Die Fensterläden waren geschlossen und selbst wenn jemand hinausgesehen hätte, versperrten die Bäume die Sicht auf den Garten. Privatsphäre konnte auch Nachteile haben. Nachdenklich glitt Odas Blick über den verschwiegenen Garten, der für einige wenige Jahre ein Ort der Geborgenheit gewesen war. Die stacheligen Früchte des Erdbeerbaumes waren noch klein. Ihre gelbrote Farbe erhielten sie erst mit zunehmender Reife. Oda ließ die Blätter durch die Finger gleiten und trat an die Mauer. Von unten klangen Gesprächsfetzen herauf. Die Gartenmauer grenzte nicht direkt an die alte Stadtmauer, sondern an einen parallel verlaufenden, schmalen Fußweg. Gelegentlich fuhren Motorroller dort unten vorbei, aber meist nutzten Spaziergänger den mittelalterlichen Wehrgang.
Hinter den Hügeln glomm ein schmaler Streifen orangefarbenen Lichtes auf, bevor sich der abendliche Feuerball senkte, alle Farbe mit sich nahm und Mensch und Tier zur Ruhe mahnte. Und tatsächlich schienen alle Geräusche plötzlich gedämpfter, friedvoller.
»Hast du das auch so empfunden, Vater? Hast du dich abends mit einem Weinglas auf die Terrasse gesetzt und einen der Reiseberichte gelesen, die dir so gefielen? Oder haben dich Freunde besucht? Eine Frau?«, flüsterte sie und ging wieder ins Haus, wo sie das Licht einschaltete und in der Küche den Wasserkocher füllte.
Während Oda wartete, bis das Wasser kochte, suchte sie in den Schränken nach Tee und fand eine Kräutermischung. Mit dem Becher in der Hand begab sie sich in den ersten Stock, wo sich das Elternschlafzimmer befunden hatte. Zögernd legte sie die Hand auf die Türklinke, brachte es jedoch nicht fertig, hineinzusehen und öffnete die nächste Tür. In dem ehemaligen Gästezimmer hatte ihr Vater sein Büro eingerichtet. Heute nicht, heute fehlte ihr die Kraft. Sacht schloss Oda die Tür und stieg die Holztreppe hinauf in den zweiten Stock. Die Stufen knarrten und auf dem Geländer lag eine dicke Staubschicht. Sie verlangsamte ihren Schritt. Dort oben hatte sich ihr Zimmer befunden. Anscheinend war lange niemand hinaufgestiegen. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte sie und kehrte wider um.
Im Erdgeschoß stellte Oda den Becher auf den Tresen. Sie fühlte sich nicht nur von der Reise und den Anspannungen der letzten Tage wie erschlagen. Es war das Haus mit seinen Erinnerungen, die sie plötzlich überrollten, sich auf ihren Brustkorb legten und ihr die Luft nahmen. Sie war lange genug erfolglos vor den Schatten der Vergangenheit davongelaufen. Irgendwann musste damit Schluss sein.