Kapitel 2

Das Schrillen des Telefons riss Oda aus einem unruhigen Schlaf. Sie brauchte einige Sekunden, um festzustellen, wo sie war. Der raue Sofastoff kratzte an ihrer Wange. Kein Traum, dachte sie, als sie die Aquarelle ihrer Mutter sah. Schließlich fand sie das Telefon auf einem Schränkchen neben dem Bücherregal.

»Ja?«, murmelte sie verschlafen.

»Signora Bergemann, buon giorno! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, nun, so gut wie es eben möglich ist, unter den Umständen. Der Schlüssel lag an seinem Platz, ja? Sehr schön. Ich werde morgen früh pünktlich zur Beerdigung zurück sein. Danach habe ich Zeit und wir können alles besprechen. Wäre das in Ihrem Sinne?«

Wie konnte man so früh am Morgen nur schon so viele Worte so schnell aneinanderreihen. »Ja, Signore Matani. Danke.«

»Gut so, gut so. Ich hoffe, Sie finden sich zurecht. Gehen Sie in den Ort und trinken Sie einen Kaffee bei Gianni. Das wird Ihnen gut tun. Aber was rede ich, Sie werden schon wissen, was Ihnen in so einer Situation … ach wirklich, so ein Jammer … ein Jammer ist das. Mitten aus dem Leben gerissen, der arme Walter.«

Im Hintergrund wurde nach Signore Matani gerufen.

»Entschuldigen Sie mich vielmals, Signora. Bis morgen. Ich hole Sie um halb zehn ab.«

Es klickte in der Leitung und das Gespräch war beendet. Morgen früh. Die Zeit bis dahin wollte Oda nutzen, um sich einen Überblick über den Nachlass zu verschaffen. Damit verbunden waren die Erinnerungen an jene unsäglichen Jahre, die sie nach dem Tod ihrer Mutter in der Bergemannschen Villa verbracht hatte. Am Tag ihrer Volljährigkeit hatte sie allem den Rücken gekehrt und war eingetaucht in eine Welt, von der sie dachte, dass sie ihr mehr zu bieten hätte als die klaustrophobische Atmosphäre des Bergemannschen Familiensitzes. Düster und überheblich thronte die Villa auf einem Hügel am Hamburger Elbufer. Seit Jahrhunderten wälzten sich die grauen Fluten des mächtigen Stromes durch sein Bett und nährten den Reichtum der Kaufmannsstadt. Und sie hockte in ihrer Villa wie der Adler in seinem Horst. Dorle Bergemann, Odas Großmutter. Kaum tauchte ihr strenges, unerbittliches Antlitz vor Odas innerem Auge auf, fröstelte sie.

»Ich brauche einen Kaffee!«, sagte sie laut und führte mit geballten Fäusten einige Scheinschläge aus. Eine Frau, die mittellos und allein durch Asien und den indischen Subkontinent gereist war, sollte sich zu verteidigen wissen. Das Leben war der beste Lehrmeister und der Grausamste.

Anfangs hatte Oda ihrer Großmutter die Schuld für alles gegeben, was in ihrem Leben schief gelaufen war. Ihr Vater hatte gesagt, dass es das Beste für sie sei, wenn sie mit ihm nach Hamburg käme. Im Nachhinein konnte sie seine Verzweiflung sogar verstehen. Der Tod seiner Frau hatte Walter Bergemann vor einen Berg von Problemen gestellt. Eines davon war seine Tochter gewesen. Wie soll man ein traditionsreiches Familienunternehmen leiten, durch die Welt reisen und Stoffe einkaufen und sich gleichzeitig um ein kleines Mädchen kümmern?

Ziellos lief Oda durch den Raum und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Zugegeben, sie hatte es ihrem Vater nicht leicht gemacht, hatte sich in ein Schneckenhaus aus Ablehnung, Angst und Trauer verkrochen. Doch sie war fünf Jahre alt gewesen. Ihr Vater hätte sie verstehen müssen! Stattdessen hatte er sie bei seiner Mutter abgeladen. Das sei besser als ein Internat und überhaupt wüchsen viele Kinder bei ihren Großmüttern auf und seien glücklich, hatte er Oda erzählt. Den Tag ihrer Ankunft damals in Hamburg würde sie nie vergessen, denn er war bezeichnend für alles, was danach kam.

Sie waren die ganze Nacht hindurch gefahren. Da die Plätze in den Liegewagen alle ausgebucht waren, teilten Oda und ihr Vater sich ein Viererabteil mit einem älteren Ehepaar. Der Schock der Beerdigung saß tief. Ihre Mutter war auf dem Friedhof mit der kleinen Kapelle vor der Stadtmauer von Casole beigesetzt worden. Während der stundenlangen Fahrt saß Oda aufrecht wie ein kleiner Zinnsoldat neben ihrem Vater. Das monotone Rattern der Räder auf den Gleisen versetzte sie in eine Art Halbschlaf, aus dem sie erschöpft und mit bleiernen Gliedern am nächsten Morgen in Hamburg erwachte. Ihr Vater sah nicht besser aus. Tiefe dunkle Schatten lagen um seine verweinten Augen und seine Lippen waren zu einem schmalen Strich gepresst.

»Hast du das Bild eingepackt, Vater?« Oda legte ihre Hand in seine und sie stiegen hinunter auf den regennassen Bahnsteig.

»Welches Bild?«, fragte er abwesend. »Sei jetzt nicht schwierig, Oda. Es ist furchtbar genug. Für uns alle.«

Sie schwieg und betete, dass er das Bild mit der Waldfee, das sie so sorgfältig eingewickelt hatte, damit es auf der Reise keinen Schaden nahm, zu den Büchern in ihren Koffer gelegt hatte. Sie hatten Casole verlassen als die Felder noch goldfarben in der warmen Herbstsonne gelegen hatten und auf der Piazza vor der Kirche zu Ehren der Ernte gefeiert wurde. Auf dem Hamburger Bahnhof schlug Oda eine feuchte Kälte entgegen und sie versuchte, das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken. Schweigend saßen Vater und Tochter auf der Taxifahrt nach Blankenese nebeneinander. Zwar blätterte Walter Bergemann in einem Aktenordner, doch sah Oda ihn hin und wieder verschämt seine Augenwinkel wischen.

Vor einem hohen schmiedeeisernen Tor hielt das Taxi. Der Fahrer musste aussteigen und das Tor selbst öffnen, nachdem er in die Sprechanlage gesprochen hatte. »Wer so viel Geld hat, sollte sich auch ein automatisches Tor leisten können«, murmelte der Fahrer in seinen Bart.

Auf der gesamten Fahrt hatte es nicht aufgehört zu regnen. Ein leichter Nieselregen nur, doch er wirkte wie ein dünner Vorhang, durch den man gerade eben hindurchsehen, aber nur die Umrisse der Welt um einen herum erkennen konnte. Als sie jetzt vor dem Treppenaufgang zum Haupteingang der Villa Bergemann standen, starrte Oda ängstlich auf die hohen dunklen Fenster, die wie riesige Drachenmäuler wirkten. Steinerne Löwen bewachten den Aufgang und Oda griff unwillkürlich nach der Hand ihres Vaters.

»Hier bin ich aufgewachsen, Oda. Das ist mein zu Hause.« Walter Bergemann zögerte ein wenig, so als fände er nicht die passenden Worte. Sehr viel später verstand sie, dass er die protzige Villa genauso gefürchtet hatte wie sie selbst damals. »Hinter dem Haus ist ein großer Garten, von dem man direkt an die Elbe laufen kann. Das ist sehr schön. Sehr schön …«

Walter schien sich fast selbst davon überzeugen zu müssen, denn als sie vor der Eingangstür standen, spürte Oda, wie ihr Vater erstarrte. Seine Hand erschlaffte und ließ ihre fallen. Oda fühlte sich plötzlich sehr einsam und versteckte die Hände in ihrem blauen Wollmantel. Darunter trug sie ein rotes Kleid mit gelben Blumen. Sie liebte dieses Kleid, weil ihre Mutter es für sie genäht hatte. Und sie hatte geweint und gefleht, dieses Kleid tragen zu dürfen, dass Walter dem Wunsch seiner Tochter nachgegeben hatte. Odas dunkelbraune Haare wurden an einer Seite von einer Spange gehalten. Weil ihre Locken schwer zu zähmen waren, fielen sie ihr immer wieder ins Gesicht und erinnerten sie daran, dass ihre Mutter sie ihr niemals wieder hinter das Ohr streichen würde.

Im Hausinnern waren Schritte zu hören und dann schwang einer der Türflügel auf. Eine Frau undefinierbaren Alters stand in einem grauen Kittelkleid mit ausdruckslosem Gesicht vor den Besuchern. »Die gnädige Frau erwartet sie bereits.«

Aus der Eingangshalle führte eine geschwungene Treppe ins erste Stockwerk. Sie war aus Mahagoni, genau wie die Vertäfelungen an den Wänden und die Türen. Licht fiel durch hohe Fensterschlitze, die mit Buntglas versehen waren. Unzählige Fragen brannten auf Odas Lippen, doch sie wollte nicht schwierig sein und folgte schweigend ihrem Vater.

Der Raum, in dem Dorle Bergemann sie empfing, war in diffuses Licht getaucht. Die Sicht war in etwa so schlecht wie draußen im Nieselregen. Doch in diesem Fall war es blauer Dunst, der in kunstvollen Kringeln zur Decke aufstieg oder sich in dichten Schwaden auf Oda und ihren Vater zu bewegte. Oda begann sofort zu husten, denn an Zigarettenrauch war sie nicht gewöhnt. Je mehr sie hustete, desto stärker wurde der Reiz und schließlich wurde ihr so übel, dass sie würgen und sich die Hand vor den Mund pressen musste.

»Das fängt ja gut an. Um Himmels Willen, Hilla, bringen Sie das Kind hinaus, bevor es sich hier übergibt«, befahl eine heisere Stimme.

Hilla ergriff unsanft Odas Arm und zerrte sie über den Flur in ein Badezimmer. Nachdem sie ihren Magen entleert und sich gewaschen hatte, brachte Hilla sie zurück in das verqualmte Zimmer.

»Komm her, Oda.« Ihr Vater winkte sie zu sich. Er saß in einem knarrenden Ledersessel. Sein Gesicht war kreidebleich und er strich sich nervös die Haare aus der Stirn. »Armes Mädchen. Geht es wieder?«

»Ja, es geht schon. Das war der stinkende Rauch, der …« Als sie das Entsetzen in den Augen ihres Vaters sah, war es bereits zu spät.

»Gestank? Hat man dir keine Manieren beigebracht? Aber nein, woher denn!« Ihnen gegenüber stand ein Ohrensessel, aus dem sich eine schmale Gestalt vorbeugte und Oda mit blauen Augen abschätzig musterte. Gegen die Kälte dieser blauen Augen war ein Gletschersee eine Thermalquelle.

Dorle Bergemann stand auf, in der einen Hand hielt sie ein glühendes Zigarillo. Sie war klein und sehnig und trug ein helles Twinset zu beigen Hosen. Ihr kurzes Haar schimmerte silbrig und violett. Später erfuhr Oda, dass ihre Großmutter eine Tönung benutzte, die diesen Effekt hervorrief. Aber jetzt starrte sie die unnatürliche Erscheinung ihrer Großmutter einfach nur an.

»Hab doch ein wenig Verständnis. Sie hat gerade erst ihre Mutter verloren«, versuchte Walter Bergemann die Situation zu entschärfen.

Dorle Bergemann hob eine Braue und streckte eine beringte Hand nach ihrer Enkelin aus. Mit spitzen Fingern hob sie eine Haarsträhne an. »Sie sieht aus wie eins von diesen Straßenkindern. Und dieses bunte Kleid. Das ist pietätlos. Hilla wird ihr etwas in gedeckten Farben machen lassen.«

Oda strich über das geliebte Blumenkleid. »Das hat meine Mutter mir genäht. Das ziehe ich nicht aus!«, sagte sie trotzig.

»Ach ja …« Es lag soviel Verachtung in diesen zwei Silben, dass es Oda das Herz zerriss, obwohl sie die Ablehnung nicht verstehen konnte. Ihr Vater war sichtlich um seine Beherrschung bemüht und knetete seine Hände.

Wütend starrte Oda ihre Großmutter an, weinte aber nicht, obwohl ihre Lippen bereits zitterten. In diesem Moment wusste Oda, dass sie den Fehdehandschuh aufgehoben hatte, den Dorle Bergemann ihr ins Gesicht geschlagen hatte. Doch damals waren sie ungleiche Gegner und Odas Ausgangsbasis war denkbar schlecht.

»Dann wollen wir alles tun, damit du dich schnell einlebst, Oda.«

Dorle Bergemann verlor nie ein Wort über Odas Mutter und fragte nie nach dem Ort, an dem sie aufwachsen war. Sobald ein Gespräch die Toskana berührte, wechselte Dorle das Thema.

Oda war noch heute davon überzeugt, dass es vollkommen irrational war, einen Landstrich abzulehnen, den man nie gesehen hatte. Doch was wusste sie schon über ihre Familie? Ihr Vater hat ihr stets versichert, dass seine Ehe nicht der Grund für Dorles Ablehung der Toskana war. Immerhin bezog er Stoffe aus Mailand und Florenz für das Hamburger Kontor. Weitere Erklärungen gab er nicht. Oda lernte, das sensible Thema auszuklammern und hakte es als Dorles Geheimnis ab. Denn dass ihre Großmutter ein Geheimnis hütete, war ihr von Anfang an klar.