Als Oda am späten Vormittag auf die Straße trat, schaute sie zu dem Balkon hoch, von dem aus sie gestern so misstrauisch beobachtet wurde, doch außer einer Wäschespinne war niemand zu sehen. Auf ihrem Weg zur Piazza, dem Zentrum von Casole d’Elsa, begegneten ihr Mütter, die ihre Kinder zur Schule brachten, ältere Frauen mit Einkaufskörben und sie wurde von zwei knatternden Motorrollern überholt. Vor Giannis Bar standen Stühle und Tische, die von einem jungen Mann abgewischt wurden.
Oda grüßte und ging in die geräumige Bar, an deren Wänden ihr Gemälde der Region ins Auge fielen. Vor einer Nebellandschaft mit irritierenden Durchbrüchen in knalligen Rottönen blieb sie stehen.
»Gefällt es Ihnen?« Ein junger Mann mit raspelkurzen Haaren und einem sympathischen Lächeln, stellte sich neben sie. »Es ist zu verkaufen.«
Jetzt entdeckte sie das winzige Preisschild am unteren Bildrand. »Das Bild gefällt mir ausgesprochen gut, der Preis weniger.«
Er lachte und streckte ihr eine Hand entgegen, die sie schüttelte. »Gianni. Das ist meine Bar und die Künstlerin, die fast alle Bilder hier gemalt hat, ist meine Freundin, Piera. Also, wenn Sie ernsthaft interessiert sind, können wir über den Preis verhandeln.«
»Ich heiße Oda Bergemann. Das ist sehr freundlich, aber …« Oda machte eine ausgreifende Handbewegung. »Ein Cappuccino und eins von diesen Hörnchen dort, das wäre ein guter Anfang.«
Gianni runzelte die Brauen. »Bergemann. Ah, Walter! Er kam jeden Morgen zum Kaffeetrinken her. Das tut mir sehr leid. So ein schrecklicher Unfall. Sie sind, du bist seine Tochter?«
Oda seufzte. »Ja, und ich habe meinen Vater viel zu lange nicht gesehen, nicht …«
»Nein, nein, so etwas passiert. Wir leben und vergessen, dass es jede Sekunde zu Ende sein kann. So ist das! Setz dich nach draußen. Ich bringe dir dein Frühstück.« Gianni hantierte geschickt hinter dem Tresen und nach wenigen Augenblicken zog der Duft von frisch gemahlenen Bohnen hinaus auf die Terrasse.
Als er mit einem Tablett an den Tisch kam, standen zwei Tassen und ein Teller mit verschiedenen Kuchen darauf. »Du erlaubst?«
»Gern.«
An einem der Nebentische saß ein älterer Herr und las die Morgenzeitung. »Das ist Walters Tochter, Federico«, sagte Gianni, bevor er sich setzte.
Der Angesprochene faltete kurz die Zeitung zusammen und nickte ihr zu. »Mein Beileid, Signorina. Ich kannte Ihren Vater und schätzte ihn sehr.«
»Danke.« Es tat gut, zu hören, dass ihr Vater nicht einsam gewesen war.
»Du hast dich an genau den Tisch gesetzt, den Walter immer gewählt hat.« Gianni nahm sich ein Croissant und schob Oda den Teller zu. »Dein Italienisch ist besser als seins.«
»Meine Mutter war Italienerin. Sie ist gestorben als ich fünf war, aber ich war immer in den Ferien hier und ihre Sprache war für mich eine Verbindung zu ihr …« Oda löffelte den Cappuccinoschaum und griff nach einem Butterhörnchen.
Gianni schwieg eine Weile, um dann in leichtem Ton zu sagen: »Ich habe die Bar vor sechs Jahren übernommen. Eigentlich komme ich aus Arezzo.«
Eine Gruppe Radfahrer näherte sich und Gianni grinste. »Das Geschäft ruft. Wie lange bleibst du?«
»Ich weiß noch nicht. Kommt darauf an …«
»Schau auf jeden Fall noch mal rein, bevor du fährst. Vielleicht ist Piera dann da und macht dir einen Sonderpreis.«
Die Radfahrer stellten ihre Räder ab und überfielen die Bar. Oda beobachtete die Piazza, sah einen kleinen grauhaarigen Mann mit Spitzbart und wehendem bunten Mantel vorbeischlendern und nahm an, dass es sich um den englischen Bildhauer handelte, der hinter der Kirche eine Kunstakademie leitete. Ihre Mutter hatte sie manchmal dorthin mitgenommen. Irgendwann würde sie die Akademie besuchen.
Irgendwann. Oda seufzte. Sie hatte sich keine Gedanken über die Länge ihres Aufenthaltes hier gemacht, sondern war nach Erhalt der schrecklichen Nachricht einfach losgefahren. Ihre Arbeit erlaubte ihr gewisse Freiheiten. In die Schmuckherstellung war sie auf abenteuerlichen Umwegen eingestiegen. Eine Ausbildung im klassischen Sinne konnte sie nicht vorweisen, aber sie hatte das Goldschmiedehandwerk bei einem Meister seines Faches erlernt. Max Friedrich war ein reizender älterer Herr, der in zweiter Generation einen kleinen Juwelierladen im Hamburger Grindelviertel betrieb. Friedrichs Vater hatte das kleine Geschäft in den zwanziger Jahren aufgebaut. Max betrieb den Laden nur noch aus Liebhaberei, wie er gern betonte, doch sie hatte erfahren, dass er kaum Rentenansprüche hatte und auf die Einkünfte angewiesen war. Als sie damals verzweifelt und am Boden eines tiefen schwarzen Lochs angekommen war, hatte Max ihr eine Chance gegeben, und das würde sie ihm nie vergessen.
Sie griff nach ihrem Handy. Als Frühaufsteher war er bereits im Laden. »Hallo Max, ich bin es, Oda.«
»Guten Morgen, meine Liebe. Wie geht es Ihnen? Ich habe auch an Sie gedacht. Ist das nicht ein Zufall? Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen Vormittag.« Oda schluckte. »Der Anwalt will mich abholen.«
»Es handelt sich um eine Einäscherung, nicht wahr?«
»Ja. Ganz diskret. Mein Vater hat anscheinend genaue Anweisungen hinterlassen. Es ist so unwirklich, Max. Wissen Sie, ich war so lange nicht hier und jetzt stürzen all die Erinnerungen an meine Mutter auf mich ein und, ach …« Oda kämpfte mit den Tränen. Es tat gut, die vertraute Stimme eines Menschen zu hören, von dem sie wusste, dass er sie verstand und mit ihr fühlte.
»Ich wäre gern mit Ihnen gekommen, Oda. Aber Sie sind eine starke junge Frau. Sie haben viel erreicht in Ihrem Leben. Ich bin stolz auf Sie und Ihr Vater wäre es auch gewesen.« Er räusperte sich und Oda stellte sich den gedrungenen weißhaarigen Herrn mit den gütigen Augen hinter seiner runden Brille vor. Er war stets korrekt gekleidet. Sie hatte ihn nie anders als im grauen Flanell und mit Fliege gesehen. »Versprechen Sie mir nur, dass Sie sich keine Vorwürfe machen. Niemand kann wissen, was morgen ist. Wir sind nicht vollkommen.«
»Nein, nein, Sie haben Recht. Ich denke nur immer, wenn ich ihn doch nur früher angerufen hätte!«
»Wenn ist ein teuflisches Wort. Wir leben jetzt, egal, ob wir an gestern oder morgen denken. Und gerade jetzt betritt eine viel versprechende Kundin meinen Laden.« Im Hintergrund ertönte das melodische Klingeln der Türglocke. »Rufen Sie mich jederzeit an, Oda. Und lassen Sie sich Zeit. Ich komme hier gut zurecht.«
»Ich danke Ihnen, Max, das ist sehr lieb. Aber ich werde trotzdem bald zurück sein.« Die Steuererklärung für den Juwelier hatte sie vorbereitet. Es fehlten nur die Rechnungen für den Einkauf der letzten Steine. »Die Belege für die …«
»Suche ich nachher heraus. Ich habe alles im Griff. Nehmen Sie sich Zeit, Oda. Das tut Ihnen gut. Bis bald.«
»Bis bald.« Sie klappte das Handy zusammen. Beim Verlassen der Bar nickte sie Federico zu, der jedoch in seine Zeitung vertieft war und sie kaum wahrnahm. Als Oda in die Via San Donato einbog, sah sie Paolo schon von weitem auf dem Balkon stehen. Seine Silhouette war unverkennbar. Er trug dasselbe ärmellose Hemd und zog an einer Zigarette.
Die Straße war eng und einen Gehweg gab es nur auf einer Seite. Es hätte keinen Sinn gemacht, ihn zu ignorieren und so nahm Oda demonstrativ ihren Schlüssel aus der Tasche und schwenkte ihn in der Luft. Doch der nachbarschaftliche Informationsfluss funktionierte anscheinend tadellos. Paolo beugte sich über das Balkongitter. »Ciao, Signorina Bergemann. Tut uns sehr leid. Hätten Sie ja sagen können, dass das dort drüben Ihr Vater war.«
»Sind Sie bei der Polizei oder was?«, erwiderte sie abweisend.
»Behalten Sie das Haus? Ich kenne jemanden, der es kaufen würde.«
Der Kerl war wirklich unverfroren. »Kümmern Sie sich um Ihren Kram!« Sie drehte ihm den Rücken zu und knallte die Haustür hinter sich zu.
Sie warf Schlüssel und Handtasche auf den Küchentisch und ging nach oben, um dort zu beginnen, wo sie gestern noch gezögert hatte. Was würde sie hinter den Türen erwarten? Was würde sie über ihren Vater erfahren? Würde sie überhaupt etwas finden, das erklärte, warum ihr Vater sie bei seiner herzlosen Mutter abgeladen hatte?