Auf dem Gang vor ihrem ehemaligen Kinderzimmer stand eine Bodenvase mit trockenen Gräsern, auf denen eine dicke Staubschicht lag. Vorsichtig schob Oda die Tür auf und blinzelte in den Strahl der morgendlichen Sonne, der direkt auf das Bett unter dem Fenster fiel. Sie erkannte die gestreifte Bettwäsche wieder. Bis zu ihrer Volljährigkeit hatte sie die Ferien bei ihrem Vater verbracht. Ihr kleiner Schreibtisch sah aus als wäre sie gestern und nicht vor zehn Jahren das letzte Mal hier gewesen. Und sie hatte gedacht, dass sie ihm egal gewesen war. Oda ertrug den Raum, der eine einzige Anklage darstellte, nicht länger und flüchtete nach unten. Das Arbeitszimmer ihres Vaters lag zum Garten hinaus. Die Sprossentüren öffneten sich auf einen Balkon, der sich über die gesamte Hausfront erstreckte.
Oda öffnete die Türen und ließ den Duft des Gartens hineinwehen. Oleander, Lavendel und das Summen der Insekten. Sie trat an den antiken Schreibtisch, den ihr Vater in Verona erworben hatte. Der Stuhl mit den Schnitzereien an Lehnen und Füßen war mit verblasstem blauem Seidendamast bezogen. Man hätte meinen können, dass jemand, der mit Stoffen handelte, sein Haus mit edlen Tüchern ausstaffieren würde. Doch darauf hatte Walter Bergemann keinen Wert gelegt. Je länger Oda sich umsah, umso klarer wurde ihr, dass ihr Vater mit dem Tod seiner Frau aufgehört hatte, am Leben teilzunehmen. Er hatte existiert, seine Arbeit gemacht und seine Pflichten erfüllt. Und dabei hatte er vergessen, dass seine Tochter ihn gebraucht hätte.
»Stattdessen hast du mich bei bei ihr abgeladen ….«, murmelte sie.
Nacheinander zog Oda die kleinen Schubfächer des Schreibtisches auf. Sie fand einen weißen Kiesel, nahm den pflaumengroßen Stein heraus und wog ihn in der Hand. Er hatte ihn nicht weggeworfen! Oda wusste noch genau, wo sie den Stein gefunden hatte – am Strand von Cecina del Mare. Als sie das erste Mal von Hamburg wieder nach Hause durfte, war ihr Vater mit ihr nach Cecina ans Meer gefahren. Der Strand dort war mit Kieselsteinen übersät und diesen einen hatte sie ihrem Vater geschenkt. Sorgfältig legte Oda den Stein in die Schublade zurück und hielt sich an der Sessellehne fest. Dabei fiel ihr Blick auf eine Kiste, die unter dem Schreibtisch hervorlugte.
Neugierig zog sie die flache Blechkiste hervor, in der sich einmal Stoffmuster befunden hatten, wie die Aufkleber verrieten. Doch als Oda den Deckel öffnete, fand sie keine Muster, sondern Fotografien, Aquarelle und Zeichnungen ihrer Mutter. Diese Sachen hatte sie noch nie gesehen und stellte ihren Fund auf den Schreibtisch. Neben unzähligen Familienfotos fand Oda zwei vergilbte Schwarzweißfotografien. Die eine kam ihr bekannt vor und sie hielt das Bild ins Licht. Der gezackte Schmuckrand zeigte das Alter der Fotografie an. Ein junger Mann in Uniform lächelte verhalten in die Kamera, obwohl er Grund zu mehr Freude gehabt hätte. Flankiert wurde er von zwei hübschen jungen Frauen.
Die Frau mit den dunklen Haaren und dem Pagenschnitt war niemand anderes als Odas Großmutter. Der junge Offizier hieß Victor Bergemann und war ihr Großvater, und die zarte Blondine zu seiner Rechten war Thesi, die beste Freundin ihrer Großmutter. Dieses Foto stand auch in Dorle Bergemanns Salon. Oda hatte es viele Male angesehen und nach Ähnlichkeiten zwischen ihrem Vater und Victor gesucht. Irgendeine Gemeinsamkeit musste es geben. Und sie bildete sich ein, dass es die Augen waren, der traurige, nach innen gerichtete Blick.
Das andere Bild jedoch fand Oda weitaus interessanter, denn es zeigte den jungen Victor herzlich lachend und in mitten einer Schar Italiener!
Bei genauerem Hinsehen war im Hintergrund ein toskanisch anmutendes Gutshaus im Schatten von Zypressen und Pinien zu erkennen. Auf dem staubigen Hof tummelten sich Hühner und in einem Verschlag hockten Fasane. Victor trug eine Wehrmachtsuniform und hatte einen Arm um ein Mädchen gelegt, den anderen um die Schultern eines Italieners. Das Bild war verblichen, doch Oda konnte deutlich die Patronengurte der jungen Italiener und ein Gewehr erkennen. Waren das Partisanen? Das wäre bemerkenswert! Ein deutscher Wehrmachtssoldat im Kreis einer Partisanentruppe? Sprach Dorle deshalb nicht über ihren Mann? War Victor übergelaufen? Nachdenklich rieb Oda sich die Stirn. Damals mochte so ein Überlaufen als Verrat gewertet worden sein, doch nach dem Krieg hätte Dorle stolz auf ihren Mann sein können.
Oda wendete die Fotografie. Auf der Rückseite war flüchtig etwas mit Bleistift notiert worden: Toskana, Casa Gambetti, Sommer 1944. Weder ihr Vater, der dieses Foto immerhin aufbewahrt hatte, noch ihre Großmutter hatten je ein Sterbenswort über Victors Aufenthalt in der Toskana verloren. Alles, was Oda über ihren Großvater wusste, war, dass er im vorletzten Kriegsjahr verschollen war.
Odas Mobiltelefon meldete sich mit einem summenden Vibrieren.
»Ja, bitte?«
»Oda, es tut mir so schrecklich leid! Warum hast du denn nichts gesagt? Ich wäre doch mitgekommen und hätte dir beigestanden …«
Das hatte ihr noch gefehlt! Ihr Exfreund, der kurz vor der Hochzeit kalte Füße bekommen hatte. Eike gehörte zu jenen Menschen, die sie für sehr lange Zeit nicht wieder zu sehen wünschte. »Was willst du?«
»Sei doch nicht so abweisend. Herrgott, es tut mir leid! Alles tut mir leid!«
»Woher weißt du überhaupt, dass mein Vater gestorben ist?« Die Beziehung hatte drei Jahre gedauert. Eike hatte sich oft beklagt, dass er sie nicht erreichen konnte und sie konnte ihm nicht widersprechen. Über die Jahre hatte Oda sich einen Panzer zugelegt, an dem abprallte, was sie nicht hören wollte, weil es sie verletzen könnte. Dieser Schutzpanzer war nichts anderes als ein ausgeklügeltes Filtersystem. Alles und jeder, der Oda nahe kam, wurde automatisch auf ein mögliches Angriff- und Verletzungspotential geprüft und eliminiert. Sie würde das nicht neurotisch nennen, obwohl das nach Jahren des Zusammenlebens mit Dorle Bergemann verständlich wäre. Aber Oda hatte eine Überlebensstrategie für sich gefunden, die ihr zwar nicht immer gut getan hatte … Aber sie hatte überlebt! Narben auf der Seele hatte doch jeder Mensch. Es kam auf die Tiefe der Schnitte an.
Eike hatte etwas gesagt, das Oda überhört hatte. »Was?«
»Du hörst wieder nicht zu! Oda, verdammt, ich habe gerade erklärt, dass mir noch immer viel an dir liegt. Ich war bei Friedrich. Er hat mir gesagt, was passiert ist. Es tut mir leid! Alles tut mir leid!«
»Das ist typisch für dich! Du machst dich kurz vor der Hochzeit aus dem Staub. Das war doch deine Idee! Soll ich dir noch mal sagen, wie nett es war, die Geschenke zurückzuschicken, die Reservierungen abzusagen …!«
»Dafür habe ich mich entschuldigt. Kannst du nicht über deinen Schatten springen und mir verzeihen?«
»Oh, ich habe dir verziehen, Eike. Meinen Segen für ein glückliches Leben hast du.«
»Aber ich komme darin nicht mehr vor.«
»Nein.«
»Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«
»Nein.« Aufsteigende Tränen schnürten ihr die Kehle zu und sie wollte schreien, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Aber Oda beherrschte sich. Selbstbeherrschung gehörte zu ihren Stärken. Vielleicht war es ihre einzige Stärke, doch sie würde sich nicht von der falschen Reue eines selbstverliebten Mannes täuschen lassen. Eine Bekannte hatte ihn mit einer Frau gesehen. Die Situation war eindeutig gewesen. Anscheinend hatte es nicht funktioniert und jetzt klopfte er bei seiner Verflossenen an. Aber er hatte die falsche Tür gewählt.
Sie konnte förmlich zusehen, wie er die Stirn runzelte, sich die Brauen rieb und dabei den Sitz seiner Frisur kontrollierte. Mit den flachsblonden Haaren und den blauen Augen wurde er für einen Skandinavier gehalten. Es war leicht, sich in den lebenslustigen Sporttherapeuten zu verlieben. Seine fröhliche und unkomplizierte Art hatte Odas Leben eine Leichtigkeit verliehen, die sie vermisst hatte. Zumindest hatte sie das gedacht. Bei zuviel Leichtigkeit verliert man allerdings die Bodenhaftung.
Seine Stimme nahm einen sanften mitfühlenden Ton an. »Ist gut, Oda. Ich will dich nicht bedrängen, dich nur wissen lassen, dass ich immer ein offenes Ohr für dich habe. Weißt du schon, was du mit dem Haus machen willst?«
»Nein. Ciao.« Sie legte auf.
Als es kurz darauf erneut klingelte, wies sie den Anruf ab und stellte das Telefon aus. Nervös trommelte Oda mit den Fingern auf der Schreibtischplatte und betrachtete die Fotografien. Irgendein intelligenter Mensch hatte einmal gesagt, dass die Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit liegen. Der Tod ihres Vaters hatte sie wachgerüttelt, herausgeschleudert aus ihrem Kokon, in den sie sich vergraben hatte. Das Aufschlagen war schmerzhaft, die Erkenntnis, dass sie nichts über den eigenen Vater, seine Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen gewusst hatte, unerträglich.
Oda nahm Victors Foto, presste es gegen ihre Brust und sank weinend gegen die Sessellehne. Warum hatte sie nie versucht, ihren Vater besser zu verstehen? Immer war sie das trotzige Kind geblieben, dabei hatte sie eine Mutter gehabt, die sie geliebt hatte. Das Bewusstsein um die bedingungslose mütterliche Liebe war Odas Schatz, der Funken, der ihr Herz wärmte, wenn es zu zerbrechen drohte. Ihr Vater hatte nicht einmal das gehabt. Über Dorle hat er zwar immer mit Respekt, aber nie ohne Verbitterung gesprochen. Seine Kindheit beschrieb er einmal als ein Dasein im Karzer. Als Junge musste er sich nach einer liebevollen Vaterfigur gesehnt haben. Vielleicht hatte ihr Vater dieses Foto von Victor schon als Kind bei sich gehabt und sich vorgestellt, dass Victor ihn vor Dorles Strenge in Schutz genommen hätte.
Die einzige Person, die Oda Auskunft geben könnte, würde sie ihr verweigern. Dorle würde es genießen, sie im Ungewissen zu lassen. Selbst wenn sie gar nichts wusste, würde Dorle an ihrem stinkenden Zigarillo ziehen, blaue Kringel in die Luft blasen und sie zappeln lassen wie einen Fisch auf dem Trockenen. Entschlossen suchte Oda nach einem Umschlag und legte die beiden Schwarzweißfotografien hinein. Sie verschloss die Kiste mit den Fotografien und stellte sie auf einen kleinen Tisch neben dem Fenster. Für heute hatte sie genug gesehen.
Durch das Fenster strömte der Geruch des beginnenden Sommers herein. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen blauen Himmel und Oda schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, sie wäre noch einmal fünf Jahre alt. Die kostbare Illusion vollkommenen Glücks dauerte nur wenige Sekunden und Oda verließ fluchtartig das Zimmer. Unten griff sie nach ihrer Handtasche und den Autoschlüsseln, ließ die Haustür ins Schloss fallen und setzte sich in ihr Auto.
Ziellos folgte sie stundenlang den kurvigen Straßen durch die toskanischen Hügel. Sie fuhr an Pinien und steinalten Olivenbäumen vorbei, kam durch Dörfer mit halbverfallenen Steinhäusern und sah Industriegebiete mit hässlichen Lagerhallen und Berge rostigen Stahlmülls, die vom modernen toskanischen Leben zeugten. Eine sentimentale Erleichterung überkam Oda als sie zwischen Zypressen einen Madonnenschrein entdeckte. Vor dem Schrein befand sich eine Parkbucht, in der sie parkte und ausstieg, um sich die Beine zu vertreten. Die Zypressen warfen bereits lange Schatten. Unterwegs hatte sie Schilder nach Montalcino und Siena gesehen, sich jedoch immer für die kleinen Nebenstraßen und Schotterwege entschieden. Oda hatte sich von ihrem Instinkt, den vertrauten Bildern der Erinnerung leiten lassen und stand nun am Fuße eines unbebauten Feldes. Dahinter jedoch erhob sich ein bewaldeter Hügel. Aus Pinien und Eichen ragte ein runder Kuppelbau mit einem zierlichen offenen Glockenturm hervor. Ein Sandweg schimmerte hell zwischen den Bäumen.
Kurz entschlossen schritt sie über das von Gräsern und Wildkräutern bewachsene Feld auf den Sandweg zu. Dieser führte nach einer Biegung an einem Weinberg vorbei, und danach durch den Wald zur Kapelle hinauf. Plötzliches lautes Summen ließ Oda vor einer Reihe von Bienenstöcken stehenbleiben. Ein verwittertes Holzschild neben den Kästen erklärte, dass die Mönche der Abbazia di San Galgano sich um die Bienenvölker kümmerten und den Honig in ihrem Laden verkauften. Oda hob den Blick zum Hügel, auf dem zwischen den Bäumen der rot weiß gebänderte Rundbau, das Oratorium der Abtei, zu sehen war. Wie friedvoll es hier war! Über eine steile Steintreppe gelangte sie in den Kuppelraum und war überwältigt von der schlichten Schönheit des fast tausendjährigen Baus. Alles hier drinnen war rund, sanft, gedämpft. Nur hoch oben drang durch kleine Fensterschlitze das Licht, das sich hundertfach brach. Oda legte den Kopf in den Nacken und drehte sich langsam im Kreis, bis das weißrote Streifenmuster der Wände verschwamm.
»San Galgano war ein junger Ritter, kleine Oda. Siehst du, hier steckt sein Schwert noch im Boden. Der Erzengel Gabriel hat den Ritter auf den Montesiepi geführt und ihm gesagt, dass er hier eine Einsiedelei bauen soll. Schau nach oben, Oda, da tanzen die Elfen auf Sonnenstrahlen«, hörte sie ihre Mutter sagen.
Oda starrte nach oben, wo die Staubpartikel gemächlich im Licht wirbelten. Als die Stimme ihrer Mutter verklang, blieb nur eine traurige Leere in ihrem Innern. Wie seltsam, dachte Oda, mein Vater ist gestorben, doch nicht an ihn erinnere ich mich, sondern an sie, die mich vor so langer Zeit verlassen hatte. Vor dem kleinen Altar warf Oda eine Münze in die Kassette und zündete eine Kerze für ihre Eltern an. Seit langem dachte sie zum ersten Mal an beide, ohne ihrem Vater zu grollen. Auf eine verzweifelte, hoffnungsvolle Weise wünschte sie sich Versöhnung, mit ihm, mit sich selbst, mit ihrer Großmutter. Doch bis dahin war es sicherlich noch ein langer steiniger Weg. Nachdenklich und mit einem Gefühl tiefer Trauer verließ sie die Kapelle.