Am nächsten Morgen klatschten dicke Tropfen auf die Terrasse. Die mit Efeu und Weinlaub überwucherte Pergola hielt nur wenig Niederschlag ab. Müde und nervös fingerte Oda an den Knöpfen ihrer schwarzen Bluse. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht und wünschte sich, dass die Beerdigung schnell vorüber ginge. Von leeren Zeremonien hatte Oda noch nie etwas gehalten. Eine Kerze anzuzünden war eine Sache, an eine Institution zu glauben, eine andere. Die Türglocke läutete. Signore Matani war pünktlich. Oda fuhr mit ihrer Hand durch die widerspenstigen halblangen Locken und zog die Bluse gerade. Es hätte nicht geschadet, sie zu bügeln, aber nun musste es so gehen.
»Signorina, mi dispiace …« Der grauhaarige Anwalt wurde von einem Hauch teuren Rasierwassers umgeben und wirkte in seinem schwarzen Maßanzug sehr elegant. Er nahm sie in den Arm und küsste sie auf beide Wangen.
Dann betrachtete er sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Augen und Nase haben Sie von Ihrem Vater. Die Schönheit von Ihrer Mutter, die ich leider nur von Fotografien kenne. Signorina …«
»Oda, bitte.«
»Useppe, piacere.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und nickte. »Uns bleibt noch etwas Zeit. Wollen wir uns kurz setzen?«
»Ich würde Ihnen gern einen Kaffee anbieten …«
»Ah, keine Umstände. Oda, ich möchte Ihnen gern etwas über Ihren Vater erzählen.« Er faltete die Hände und legte die Fingerspitzen an sein Kinn. Goldene Krawattenknöpfe glänzten an seinen Manschetten.
»Wir haben uns vor zehn Jahren in Mailand kennen gelernt. Er kam auf Empfehlung zu mir. Es ging um ein geschäftliches Problem, aber das ist unwichtig. Was ich sagen möchte ist, dass ich in Walter einen Freund fand.« Useppe Matani räusperte sich und richtete den Blick in eine unbestimmte Ferne. »Er war keiner dieser typischen deutschen Geschäftsleute, die überheblich und ohne Sinn für das wirklich Wichtige im Leben sind. Nein, nein, er war anders und ich verstand ihn besser als ich erfuhr, dass er mit einer Italienerin verheiratet gewesen war. Er liebte dieses Land, dieses Haus.« Hier machte Useppe eine Pause und blickte Oda mit fragenden Augen an.
»Wenn Sie darauf anspielen, ob ich das Haus verkaufen will … Ich weiß es noch nicht.« Oda machte eine vage Bewegung mit den Händen.
Matani lächelte. »Nein, darauf wollte ich nicht hinaus, obwohl Sie sich das gut überlegen sollten. Aber das wissen Sie selbst am besten. Walter war ein zwiegespaltener Mann. Verschlossen, einsam, so kam er mir immer vor. Nur einmal, nachdem wir eine halbe Flasche Grappa geleert hatten, offenbarte er mir ein Stück seines Herzens. Er hat immer von Ihnen gesprochen, Oda. Sie waren längere Zeit in Indien, nicht wahr?«
Sie schluckte. »Ja, aber …«
»Als er damals von Ihrem Unglück erfuhr, war er drauf und dran, zu Ihnen zu fliegen. Er hat mir erzählt, dass Sie ihn nicht sehen wollten und mich gefragt, was ich an seiner Stelle tun würde. Ich habe ihm geraten, trotzdem zu Ihnen zu fliegen.« Useppe machte eine kurze Pause. »Er hat Ihren Wunsch respektiert, aber es hat ihn umgetrieben, ihn gequält. So traurig habe ich ihn nie wieder erlebt.«
»Oh nein …« So viele Fehler, so viel Unausgesprochenes.
»Er hat lange mit sich gerungen, sich ein Ticket bestellt und es wieder storniert.« Useppe Matani holte tief Luft und beugte sich vor. »Ich wollte Ihnen damit nur sagen, dass er immer Anteil an Ihrem Leben genommen hat. Ich wusste, dass sie beide zerstritten waren. Den genauen Grund habe ich nicht erfahren. Es tat mir nur immer schrecklich weh, ihn so leiden zu sehen. Er konnte einfach nicht aus seiner Haut. Ich möchte ihn nicht entschuldigen. Das nicht! Aber vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass Ihr Vater Sie sehr geliebt hat.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Useppe. Ich …« Odas Stimme wurde brüchig und sie musste aufstehen und einige Schritte machen. Als sie sich wieder gesammelt hatte, sagte sie: »Ich habe ihn auch geliebt, aber er hat mich allein gelassen als ich ihn am meisten gebraucht hätte. Als meine Mutter starb, hat er mich bei meiner Großmutter abgeladen.«
»Er hat es sicher gut gemeint«, wandte Useppe vorsichtig ein.
Oda schüttelte vehement den Kopf. »Er wusste, was für ein Mensch sie ist. Er wusste genau, wem er mich ausliefert …«
Der Anwalt stand ebenfalls auf und sagte langsam: »Es hat ihm immer leid getan, dass Sie sich nicht wohl fühlten bei seiner Mutter, aber er hielt es für das Beste. Er dachte, eine Frau könnte sich besser in ein kleines Mädchen hineinfühlen.«
»Ihnen hat er das gesagt. Warum nicht mir?«
»Es fiel ihm sehr schwer, überhaupt darüber zu sprechen, über sich, den Tod seiner Frau. Ich habe immer geglaubt, Walter wünschte sich insgeheim, dass seine Mutter sich Ihnen zuwendet, weil er das vermisst hat.« Matani lächelte voller Wärme. »Ich frage noch heute meine Mutter um Rat. Wie hat Ihre Großmutter die Nachricht aufgenommen?«
Vollkommen entgeistert erstarrte sie. »Sie weiß es noch nicht?«
»Nein. Sie sind der einzige Mensch, den er im Falle eines Unfalles zu benachrichtigen wünschte.«
Die Beerdigungszeremonie fand in der Kapelle auf dem Hügel statt. Im Schutz von Pinien und Korkeichen ragte ein Glockenturm auf, der in seiner Schlichtheit würdevoll über die Gräber wachte. Jahre waren seit ihrem letzten Besuch vergangen und Oda kam alles vor wie ein böses Dèjavu. Geblendet von ihren Tränen und der Sonne verschmolz das Meer aus weißen Grabsteinen, flimmernden Totenlichtern und Blumen in winzigen Plastikvasen vor ihren Augen. Auf den meisten Grabplatten waren Miniaturbilder der Verstorbenen zu sehen, nicht so auf dem Grab ihrer Eltern. Ihr Vater hatte nur den Namen seiner Frau und eine geknickte Rose eingravieren lassen. Oda hatte später einen steinernen Engel auf die Platte gesetzt. Der weiße Engel lächelte und hatte die Hände zum Gebet gefaltet. Während die letzten Glockenschläge verklangen und der Priester den letzten Segen sprach, legte Oda mit zitternden Händen eine Rose neben den Grabstein, auf dem jetzt zwei Namen standen. Sie und Signore Matani waren die einzigen Trauergäste, nur eine alte Frau, die eine Kerze in ein ewiges Licht auf das Nachbargrab gestellt hatte, nickte ihnen zu und bekreuzigte sich.
»Er hat gesagt, dass er hier in Casole seine glücklichsten Jahre verlebt hat. Ich glaube, er hat immer gehofft, dass Sie zurückkommen.«, sagte Signore Matani und bekreuzigte sich.
»Zu spät …«, flüsterte sie. Warum waren sie beide so stur gewesen? Sie hätte sich mehr Gedanken um ihren Vater machen müssen. Aber Dorle hatte alles kaputt gemacht. Es war allein ihre Schuld! Sie könnte ihr schreiben … Nein, dachte Oda. Nachher würde sie ihre Großmutter anrufen. Dorle Bergemann würde zumindest zuhören müssen.
Als sie den Friedhof verließen, schaute Signore Matani auf seine Uhr. »Ich habe leider noch einen Termin in Siena, sonst hätte ich Sie zum Essen eingeladen. Es gibt noch einiges zu besprechen. Am besten, Sie rufen mich an.«
Sie gingen auf einem staubigen Sandweg zum Parkplatz hinunter, wobei Odas Gedanken schon um das unliebsame Telefonat mit ihrer Großmutter kreisten, das ihr noch bevorstand.
»Soll ich Sie in die Stadt fahren?« Der Anwalt sah sie mitfühlend an.
»Ich …«, sie schüttelte hilflos den Kopf. »Danke für alles, Useppe, aber ich laufe lieber.«
Der Anwalt umarmte sie zum Abschied und ließ sie mit dem Gefühl ehrlicher Anteilnahme zurück. Langsam spazierte Oda den Kapellenhügel hinunter und fühlte, wie der Sand in ihre Slipper drang und zwischen ihren Zehen rieb. Auf halber Höhe blieb sie stehen und schüttelte die Schuhe aus. Vor ihr führte der sandige Weg in Serpentinen weiter ins Tal. Irgendwo dort hinten gab es eine Abzweigung und einen Parcours, auf dem ein Pferderennen, ein kleiner Palio abgehalten wurde. Er fand außer Konkurrenz statt und war längst nicht so spektakulär wie der berühmte Palio in Siena. Das traditionelle Pferderennen auf der Piazza del Campo galt als eines der brutalsten Rennen der Welt. Walter Bergemann hatte seine Tochter einmal in einem Sommer dorthin mitgenommen. Er hatte sie vor den Menschenmassen und dem brutalen Rennen gewarnt, doch Oda hatte sich nicht abschrecken lassen. Das Gedränge war zu ertragen gewesen, doch der Anblick eines Pferdes, das mit gebrochenen Vorderbeinen vom Platz geschleift wurde, hatte sie noch lange verfolgt. Ihr Vater hatte das vorausgesehen, weil er sie besser kannte als sie sich selbst. Und sie hatte sich nie die Mühe gemacht, auf ihn zuzgehen. DAfür war ihr nun die mürrische Dorle geblieben.
Oda starrte auf das Mobiltelefon in ihrer Hand, nahm ihren Mut zusammen und wählte die Hamburger Nummer.
»Hier bei Bergemann. Wer spricht?«, meldete sich eine brüchige Frauenstimme.
»Hilla? Sind Sie das? Ich bin es, Oda.«
»Fräulein Oda? Nein, was für eine Überraschung. Wie geht es Ihnen?« Die Hausdame ihrer Großmutter musste inzwischen an die siebzig Jahre alt sein. Wie hielt sie es nur dort aus? Sie hatte immer nur getan, was Dorle Bergemann ihr aufgetragen hatte. Hilla war wie eine graue Maus, die lautlos durch die Räume huschte.
»Nicht gut, fürchte ich. Hilla, ist meine Großmutter zu sprechen?«
»Oh, das tut mir leid. Ich werde sofort nach ihr sehen. Um diese Zeit sitzt sie meistens auf der Terrasse und trinkt ihren Tee.« Es klapperte, Türen gingen auf und zu und dann hörte sie Hilla leise zu ihrer Großmutter sagen: »Gnädige Frau, es ist Ihre Enkelin.«
»Was will sie? Ich möchte nicht gestört werden.«
»Es ist wichtig, denke ich.«
»In meinem Alter kann nichts mehr wichtig sein. Was soll sie wollen, außer Geld … Na, geben Sie schon her.« Geschirr klapperte demonstrativ und dann drang Dorle Bergemanns eisige Stimme an Odas Ohr. »Oda. Was willst du? Du rufst mich nur zu Festtagen an, und das nur aus Höflichkeit. Was war auch anderes zu erwarten von der Tochter einer …«
»Spar dir deine Boshaftigkeiten, Großmutter«, unterbrach Oda sie heftig. »Meine Mutter kann sich nicht mehr wehren«, sie machte eine Pause, »genauso wenig wie mein Vater. Er ist tot.«
Am anderen Ende schnappte Dorle Bergemann hörbar nach Luft. Einen Moment war es still, dann erklang die gewohnt eisige Stimme: »Du hättest einen Anwalt damit beauftragen können, mich zu benachrichtigen. Überhaupt wundert es mich, dass man mich nicht direkt informiert hat.«
»Du standest nicht auf der Liste der Menschen, die Vater im Notfall benachrichtigt wissen wollte.«
»Natürlich nicht. Er war zu weich und nachtragend. Wenn man es zu etwas bringen will, muss man vergessen können und nach vorn blicken. Unter welchen Umständen und wann ist er gestorben?«
Die nüchterne, überlegte Fragestellung hätte einem Polizisten alle Ehre gemacht, nur ging es um ihren eigenen Sohn. Oda war geschockt, obwohl sie nichts anderes erwartet hatte. »Vor zehn Tagen. Er wollte das Dach unseres Hauses in Casole reparieren und ist dabei gestürzt. Nach der Einäscherung fand heute die Beerdigung statt.«
»Dort, nehme ich an?«
»Ja, hier in Casole. Die Anreise und alles wäre sicher zu viel für dich gewesen.« Sie musste sich nicht entschuldigen und bereute im selben Moment, dass sie es versucht hatte.
»Was mir zuzumuten ist, entscheide ich. Man hätte mich benachrichtigen müssen. So gehört es sich. Aber ihr habt nie gewusst, was sich ziemt.«
»Liebe Güte, Großmutter! Was sich ziemt! Kannst du nicht einmal jetzt deine Anstandsregeln außer Acht lassen? Ich kann dir gern sagen, was sich gehört hätte, nämlich dass du mir und meinem Vater etwas Mitgefühl gezeigt hättest. Von Wärme oder Liebe spreche ich ja gar nicht. Ein wenig Achtung für deinen Sohn, der damals in seiner Verzweiflung bei dir um Hilfe suchte, weil er nicht für mich da sein konnte.« Oda grub ihre Schuhe tief in den staubigen Boden und spürte brennende Tränen auf ihren Wangen.
»Es wäre seine Aufgabe gewesen, für dich zu sorgen, nicht meine. Ich habe es getan, weil es meine Pflicht war. Wage es nicht, mich zu kritisieren. Du hast ja keine Ahnung! Mitgefühl? Wer hatte denn mit mir Mitleid als der Krieg mir die Familie nahm und ich allein ein Unternehmen zu retten hatte. Ich habe mich um meinen Jungen gekümmert und das Geschäft erfolgreich geleitet. Dein Vater hatte alles. Er brauchte praktisch nur weiterzuführen, was ich ihm übergab.«
»Vielleicht hat er das gar nicht gewollt? Vielleicht hat er es nur getan …« Damit du ihn liebst, wollte Oda sagen, brachte das Wort aber nicht über die Lippen.
Dorle Bergemann lachte trocken auf. »Du meinst, er wollte der gute Sohn sein? Unsinn. Er hätte tun und lassen können, wonach ihm der Sinn stand, nur hätte er dafür von mir keinen Pfennig bekommen. Ich hatte vor, ihn aus dem Geschäft zu werfen, ihn zu enterben, als er mir von seiner Ehe mit deiner Mutter erzählte, aber dann wäre es zu leicht geworden.«
Sie hatte sich am Schmerz und der Zerrissenheit ihres Sohnes ergötzt. Wie sonst sollte Oda dieses perfide Verhalten verstehen? »Eine Frage, Großmutter. Bitte, beantworte mir eine Frage. Ich habe dich sonst nie um etwas gebeten.«
Oda hörte sie scharf die Luft einsaugen. Vielleicht zog sie auch an einem ihrer Zigarillos. »Das stimmt. Darin bist du mir ähnlich.«
»Unter den Sachen meines Vaters habe ich ein Foto von Victor gefunden. Er war in der Toskana, im Krieg. Du hast das nie erwähnt. Was ist damals geschehen? Ist das der Grund für deinen Hass auf meine Mutter?«
»Was für ein Foto? Wieso, ich dachte, es gibt keine Bilder mehr … Woher zum Teufel hatte dein Vater das Bild …« Es hörte sich an, als legte sie den Hörer ab, dann knisterte es und sie fauchte: »Walter war geboren worden und Victor hatte extra Fronturlaub bekommen, um seinen Sohn zu sehen. Auf dem Weg zurück in sein Einsatzgebiet ist Victor ums Leben gekommen. So war das! Kurz zuvor war Thesi in Husum gestorben. Mein Gott, alle, die ich liebte, waren auf einmal fort! Du redest von einem alten Foto und weißt gar nichts! Ich soll deine Mutter gehasst haben? Warum denn? Walter ist doch zu mir zurückgekommen. Alle sind zu mir gekommen! Am Ende sind sie doch zu mir gekommen!« Es knackte und die Verbindung war unterbrochen.
Dorle Bergemann hatte einfach aufgelegt. Wenn das Foto keine Bedeutung für Dorle hatte, warum war sie dann so wütend geworden?