»Quante vite hai?«, klagte es melancholisch aus dem Radio. Gianmaria Testa gehörte zu Odas Lieblingssängern. Als sie den Liedermacher hörte, stellte sie das Radio lauter. »Wieviele Leben? Eins, nur eins und was, verdammt, habe ich damit gemacht?«
Sie lauschte dem melancholischen Text, in dem soviel Wahrheit steckte. »Wieviele Leben hast du in deinen Fingern? Eines entrinnt dir und du läufst ihm hinterher. Es ist schon vorbei …«, sang Testa mit rauchiger Stimme.
Beinahe hätte sie das Straßenschild nach Monte San Savino übersehen. Oda bremste abrupt, worauf sofort wild hinter ihr gehupt wurde und ein gelber Sportflitzer an ihr vorbeischoss. »Fahr doch! Meine Güte, man wird doch noch mal anhalten dürfen!«
Sie wendete und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung der kleinen Stadt ab, die für heute ihr Ziel war. Das Telefonat mit ihrer Großmutter hatte den Ausschlag gegeben. Vielleicht hätte Oda noch gezögert, als sie die Fotografie von Victor bei den Sachen ihres Vaters gefunden hatte, doch nach Dorles barscher Abweisung war ihr eines klar geworden: den Schlüssel für ihre Zukunft musste sie in ihrer Vergangenheit suchen.
Als Kind hatte Oda sich alle Mühe gegeben, ihrer Großmutter nie zu zeigen, wie sehr sie sich vor ihr füchtete. Sie hatte versucht, so stark zu sein wie Dorle Bergemann. Erst später verstand Oda, dass Dorles Stärke mit Härte und Verbitterung einherging. Und vielleicht war es mehr als das. Wenn jemand ein Geheimnis mit sich herumtrug, konnte ihn das misstrauisch und verschlossen machen. Ihre Großmutter hatte stets etwas vor ihr verborgen und Victor war ein Teil von Dorles Geheimnis.
Mein Gott, wie pathetisch das alles klang, aber es traf den Kern ziemlich gut, dachte Oda. Mit dem Tod ihres Vaters war eine Tür vor ihrer Nase zugeschlagen worden. Eine Tür, die sie schon längst hätte öffnen müssen. Sie wollte endlich verstehen, warum Dorle Bergemann ihrem Sohn und auch ihrer Enkeltochter keine Liebe entgegenbringen konnte. Liebe war nicht nur das Ausstellen von Schecks, das Aussuchen von Schulen, das Kaufen von Kleidung, Liebe war, ja, was bedeutete Liebe?
Oda war mit Sicherheit keine Expertin in dieser Frage. Zumindest was Beziehungen anging. Die Geborgenheit, die sie in ihrer Kindheit erfahren hatte, war die kleine Flamme, die ihr Herz wärmte, sie nicht verzweifeln ließ und ihr Hoffnung gab, sie wieder zu finden. Wenn sie jetzt an ihren Vater dachte, dann sah Oda ihn als einsamen Mann vor sich, der sich über die Gesellschaft seiner Tochter gefreut hätte. Immer vorausgesetzt, es stimmte, was Signore Matani gesagt hatte. Aber tief in ihrem Innern wusste Oda, dass es stimmte. Sie war zu verletzt gewesen, um den ersten Schritt zu tun.
In diesem Augenblick fällte Oda eine Entscheidung. Sie schwor sich, das Geheimnis ihrer Großmutter aufzudecken! Dorle Bergemann hatte mit ihrer Bitterkeit, ihrem Hass und ihrer Kälte das Leben von Oda und ihrem Vater vergiftet. In Gegenwart ihrer Großmutter hatte sich Odas Vater stets verändert. Er wurde schüchtern, trotzig und buhlte um ihre Gunst. Dafür hatte Oda ihn verachtet, das wurde ihr jetzt klar. Oda hatte nicht um Dorles Aufmerksamkeit gebettelt, weil sie die Liebe ihrer Mutter erfahren hatte. Das hatte Dorle ihr nicht nehmen können.
Monte San Savino. Oda lenkte den Wagen durch ein mittelalterliches Stadttor, die Porta Fiorentina, wie ein Schild erklärte. Seit sie sich dazu entschlossen hatte, Victors Spuren in der Toskana zu folgen, war die Starre, die sie seit Signore Matanis Anruf gelähmt hatte, verschwunden. Sie folgte dem Corso hinauf in die Altstadt. Auf den Bürgersteigen und unter den Arkadengängen drängten sich Touristen. In einer Seitenstraße fand Oda eine Parklücke. Es tat gut, sich eine Weile ins Getümmel zu stürzen. Souvenir- und Lebensmittelgeschäfte säumten den Corso, die Lebensader der kleinen Stadt. Der Geruch von frischen Porcini stieg ihr in die Nase. Ob sie ein Pfund der toskanischen Pilze mitnehmen sollte, die gegrillt ein Gaumenkitzler waren? Doch wer wusste, wie dieser Tag ausgehen würde? Vielleicht gestaltete sich ihre Suche nach den Gambettis schwieriger als erwartet und sie würde sich hier ein Quartier suchen müssen.
Seufzend stellte Oda das Körbchen mit den Pilzen wieder ab. Der Ladenbesitzer hob die Schultern und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Als Oda gedankenlos auf die Straße trat, knatterten zwei Motorroller so dicht an ihr vorbei, dass sie einen Schritt nach hinten machte, am Kantstein abrutschte und gefallen wäre, hätten nicht zwei geistesgegenwärtige Hände sie aufgefangen. Am kleinen Finger der Rechten blitzte ein goldener Siegelring.
»Alles in Ordnung, Signorina?«, fragte ein gut gekleideter Mann Anfang Vierzig. Er bückte sich nach ihrer Tasche, die auf dem Bürgersteig gelandet war. Odas Schlüssel und die Fotografie waren heraus gefallen. Während er ihr die Sachen reichte, warf er einen verstohlenen Blick auf die alte Fotografie.
»Danke, es geht schon«, erwiderte Oda.
»Darf ich Ihnen auf den Schreck einen Kaffee ausgeben? Gleich hier vorn ist eine …« Er hielt inne, als er ihre abweisende Miene sah. »Stefano Luzzati. Ich betreibe eine Weinhandlung und organisiere Touren für Touristen durchs Val di Chiana bis nach Civitella.«
Civitella. Der Name des kleinen Ortes nur wenige Kilometer nördlich von Monte San Savino ließ Oda erschauern. Ihre Recherchen hatten jede Menge unerfreuliche Dinge über das Wüten der Wehrmacht in der Toskana zu Tage gefördert. Victor Bergemann hatte zu einem Fallschirmjägerregiment gehört, wie Oda anhand seiner Uniform recherchiert hatte. Zu welchem Regiment er gehört hatte, ließ sich auf die Schnelle nicht herausfinden. Im Sommer 1943 hatten verschiedene Regimenter auf dem Rückzug vor den Alliierten eine blutige Spur in der Toskana hinterlassen. Es gab andere dort stationierte Einheiten, die hauptsächlich mit der Bekämpfung des Widerstandes befasst waren. In diesem Zusammenhang war sie auf Civitella gestoßen. Bei den Einheimischen musste der Name dunkle Erinnerungen aufkommen lassen. Im Sommer 1944 hatte eine Division der deutschen Wehrmacht in Civitella 250 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, erschossen, eine Vergeltungsmaßnahme für einen Partisanenanschlag auf vier Wehrmachtssoldaten.
Was hatte sie sich eigentlich bei ihrer überstürzten Abfahrt gedacht, fragte sich Oda. Dass sie den Leuten ein altes Foto von einem Soldaten vor die Nasen halten und auf Antworten hoffen konnte? Jeder, der hier lebte, würde als erstes an ein Massaker wie das von Civitella denken.
»Sie sehen blass aus, Signorina. Kommen Sie.« Er nahm ihren Arm und dirigierte sie sanft aber bestimmt zu einem Stuhl vor einer kleinen Bar.
Oda holte tief Luft und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Tut mir leid. Das ist nicht meine Art. Die letzten Tage waren …« Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten und schlug die Hände vors Gesicht. In Gesellschaft eines Fremden die Fassung zu verlieren, war das letzte, was sie wollte. Fahrig suchte sie nach einem Taschentuch, fand keines und griff nach der Serviette, die auf dem Tisch lag.
Luzzati hatte Kaffee bestellt und als der Duft des aromatischen Getränks in Odas Nase stieg, gewann sie endlich ihre Fassung zurück. »Mir ist das sehr peinlich. Wirklich. Glauben Sie mir, das ist …«
»Bitte, das kann doch jedem passieren. Ich hoffe nur, ich habe nichts Falsches gesagt?« Er musterte sie prüfend und tippte sich mit einem Finger ans Kinn. »Ihr Akzent verwirrt mich ein wenig.«
»Meine Mutter war Italienerin.« Oda stellte sich kurz vor und fügte erklärend hinzu: »Ich bin zur Beerdigung meines Vaters hergekommen. Er hat hier in der Nähe gelebt. Deshalb …«
Stefano Luzzati schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. »Mein Beileid. Sagen Sie nichts weiter. Es war mir eine Freude, Ihnen behilflich sein zu können.« Er winkte jemandem zu und erhob sich. »Meine Enoteca liegt direkt an der Einfahrtsstraße, wenn man von Siena kommt. Da kommt meine Freundin. Schöne Frauen darf man nicht warten lassen.«
Eine üppige Brünette eilte auf erstaunlich hohen Pumps über das Kopfsteinpflaster. »Sofia! Mein Engel!«
»Du hast es vergessen! Und warum hast du es vergessen, weil du schon wieder mit einer anderen flirtest! Stefano, du bist …«, fauchte die wütende Frau und schleuderte der erstaunten Oda vernichtende Blicke entgegen.
Der Angeklagte hob die Hände. »Nicht doch, Sofia. Ich habe keineswegs vergessen, dass wir meinen Onkel besuchen wollen. Übrigens habe ich Signorina Bergemann vor einem Unfall bewahrt.«
Sofias Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ach ja? Komm jetzt!« Sie entfernte sich mit einer schwungvollen Drehung.
Oda war die Szene unangenehm, aber da sich die Bekanntschaft mit Stefano Luzzati nun einmal ergeben hatte, wollte sie die Gelegenheit nutzen. »Eine Frage noch, Signore Luzzati.«
Er lächelte erfreut. »Stefano, bitte.« Die wütende Freundin schien vergessen.
»Stefano, sagen Sie, kennen Sie die Gambettis? Ich bin auf der Suche nach einem Hof oder einer Familie mit diesem Namen, die hier ansässig sind. Familienforschung. Bisher habe ich nur flüchtig im Internet gesucht und einen Ugo Gambetti, sowie eine Rinderzucht mit dem Namen gefunden.«
»Wirklich? Was für ein Zufall. Ich kenne die Gambettis tatsächlich. Verwandte in Deutschland haben sie nie erwähnt.« Er musterte sie interessiert. »Die alte Nella leitet seit Jahren das Gut oben bei Verniana. Ich bin mit ihrem Enkel, Sandro, zur Schule gegangen. Soweit ich weiß, haben sie einige Probleme. Versuchen Sie Ihr Glück, Oda, aber erwarten Sie nicht zuviel.«
»Bei Verniana? Geht es genauer?«
»Sie wollen da wirklich rauffahren? Das sind unbefestigte Feldwege. Schwer zu erklären. Hinter dem Dorf auf der Straße nach Villa Montaltuzzo steht irgendwo ein Schild, und wenn Sie die Chianinarinder sehen, dann sind Sie richtig. Da oben sind die Gambettis die einzigen, die Rinder züchten.«
»Stefano! Gleich reicht es mir!«, keifte Sofia, die vor einem Schaufenster stehen geblieben war.
»Bis bald, hoffe ich!«, rief er im Davongehen.
»Danke, für alles!« Auf die wenig ermutigende Auskunft hin bestellte Oda sich einen Ristretto, aß ein Panini mit Mozzarella und Tomate und machte sich anschließend auf den Weg in die Hügel des Val di Chiana.
Im Vergleich zum Elsatal waren die Hügel hier höher und die Landschaft schien wilder und ursprünglicher, zumindest dort, wo sie bewaldet war. Immer wieder unterbrachen riesige Waldflächen die Felder, Weiden, Olivenhaine und Weinberge. Sie dachte an die Zeit, in der ihr Großvater hier gewesen war. Das Val di Chiana war für seinen Waldreichtum bekannt und Unterschlupf für Partisanen hatte es hier reichlich gegeben. Heute zeigten Hinweisschilder an, dass viele kleine Höfe Ferienwohnungen vermieteten. Agriturismo nannte man diese Art von Ferienunterkünften. Während der Fahrt waren Oda die vielen einheimischen Produkte aus ökologischem Anbau aufgefallen, die in Hofläden angeboten wurden. Besser, die Leute behielten ihre Höfe und verkauften nicht an die Immobilienhaie, die mit ihren hässlichen Wohnanlagen die Landschaft verschandelten.
Nachdem sie die belebte Strada del Vino verlassen hatte, folgte Oda einer Landstraße hinauf in den Wald. Eichen, Kastanien und Pinien zeigten sich in sattem Grün. Zu ihrer Rechten sah sie ein gepflegtes Anwesen mit Swimmingpool oberhalb eines Weinberges. Ein großes schmiedeeisernes Tor versperrte die Zufahrt, aber der Name neben dem Briefkasten lautete nicht Gambetti. Langsam lenkte sie den Wagen über die jetzt ausgefahrenen Spurrinnen und als die Räder über den ersten Weiderost ratterten, war sie sicher, die richtige Abzweigung genommen zu haben.
Nach zwei scharfen Kurven lag hangabwärts eine Weide mit wunderschönen beigefarbenen Rindern. Unweigerlich hielt Oda den Wagen an, um die berühmten Chianinarinder aus der Nähe zu betrachten. Die Herde graste friedlich in der Vormittagssonne. Oda wollte sich die Kühe näher ansehen als ein Wagen um die Kurve geschossen kam, scharf abbremste und sie beim Überholen fast über den Haufen gefahren hätte.
»Eh, pass doch auf!«, brüllte sie und schüttelte ihre Faust dem Geländewagen hinterher, der sie in einer Staubwolke stehen ließ.
»Na, wenn das einer von den Gambettis ist …«, murmelte Oda und stieg wieder ein.
Der Ausblick, der sich ihr hinter der nächsten Biegung bot, war atemberaubend schön. Die Hügel wurden von einem Teppich aus grünen, braunen und ockerfarbenen Feldern bedeckt, durchzogen von mäandernden Straßen und Zypressenalleen, unterbrochen von bewaldeten Hügelrücken. Eichen und Buschwerk wuchsen auch zu ihrer Linken, machten jedoch schlagartig einem weiten Hof Platz, der sich hinter einer Kurve vor ihr eröffnete. Ein Weidenrost hielt auch hier die Tiere davon ab, auf die Straße zu gelangen.
Sobald die Eisentrallen unter den Wagenrädern klapperten, schlug ein Hund an. Der Geländewagen, der sie überholt hatte, stand schmutzverkrustet vor den weit offenen Türen eines Stallgebäudes. Energisch stieg Oda aus. Ein Mann war dabei, einen Pferdeanhänger anzukoppeln, als ein junges Mädchen schrie: »Diva! Nein, Onkel Sandro! Du darfst sie mir nicht wegnehmen!«
»Das ist nicht meine Entscheidung, Alessia. Du hast den Bogen überspannt. Nonna hatte dich gewarnt.« Die Stimme des Mannes war ruhig, doch das Mädchen schien außer sich vor Wut.
Sie stürmte an Oda vorbei. Tränen liefen über das hübsche Mädchengesicht. »Nonna!«, brüllte sie, hob einen Kiesel vom Boden auf und lief vor das Wohnhaus, ein einstöckiges Gebäude aus den Steinen der Gegend erbaut.
Oda stockte der Atem. Das war es! Genau auf diesem Hof hatte ihr Großvater vor fast sechzig Jahren gestanden. Sie sackte mit klopfendem Herzen gegen ihren Wagen. Mein Gott, dachte Oda, so lange war das her und doch war die Vergangenheit plötzlich lebendig. Die Fensterläden, der Treppenaufgang, nichts schien sich verändert zu haben. Selbst der große weiße Hund passte. Und dann entdeckte sie das Gehege mit den Fasanen. »Es gibt sie tatsächlich …«, murmelte sie und ging darauf zu, ohne nachzudenken.
Auf der Fotografie hatten die schönen Vögel auf eine seltsame Art unwirklich gewirkt. Die anmutigen Vögel schienen wie ein Relikt aus friedlichen, glücklichen Zeiten, in denen Hunger und Gewalt nicht regierten.
»Und was glauben Sie, was Sie hier tun? Spazieren hier einfach herein, ohne zu fragen!«
Sie fuhr herum und sah den Fahrer des Geländewagens auf sich zukommen. Im Gegensatz zu seinem Vehikel machte sein Besitzer einen sauberen Eindruck. Arrogant, fügte sie in Gedanken hinzu, als der gut aussehende Mann vor ihr stand. Er trug Jeans, Poloshirt und Mokassins. Falls er Landwirt war, beschränkte er sich wohl aufs Delegieren, was bei dem heruntergekommenen Eindruck, den der Hof machte, wenig erfolgreich zu sein schien.
»Äh, Oda Bergemann. Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze. Ich hätte anrufen sollen.« Nur wäre sie dann sicher schon am Telefon abgewimmelt worden.
»Was wollen Sie? Wenn Sie vom Ministerium oder einem Konkurrenten kommen, der uns mal wieder angezeigt hat, können Sie gleich wieder verschwinden. Oder sind Sie etwa Anwältin?« Er warf einen vielsagenden Blick in Richtung des Hofhundes, der sofort die Ohren spitzte und auf ein Kommando zu warten schien.
»Nein, bitte, ich bin nur zufällig hier, das heißt …«, stotterte Oda und sah, wie das Mädchen den Kiesel gegen ein Fenster im ersten Stock warf.
»Welche Lektion habe ich gelernt, Nonna?«, rief das Mädchen nach oben, schluchzte und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die verweinten Augen. »Dass du die Herrin bist und nimmst und gibst, wie es dir beliebt? Ich scheiße auf das alles hier, hörst du? Mir ist der ganze Mist egal!«
Eine zierliche Frau kam aus dem Haus. Sie war mindestens zwanzig Jahre älter als das Mädchen, doch die Ähnlichkeit war unverkennbar. Die Bewegungen der Frau waren von zerbrechlicher Eleganz und ihr Gesichtsausdruck von tiefer Melancholie geprägt. Theatralisch legte die Mutter des Mädchens die Hände an die Schläfen. Fasziniert beobachtete Oda die perfekte Darbietung dieser Frau, die ihre Tochter scharf fixierte.
»Was ist denn los, mein Engel?« Die Stimme war wenig mehr als ein Hauchen. Sie nahm die Fremde nicht wahr und umarmte ihre Tochter, die sich die Liebkosung widerwillig gefallen ließ.
»Nonna nimmt mir mein Pferd weg. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich mehr kümmern werde, aber sie will mich nur verletzen!« Das Mädchen sprach lauter und sah zum ersten Stock hinauf.
Hinter dem geöffneten Fenster bewegte sich etwas und Oda hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurden.
»Red keinen Unsinn, Alessia. Nonna wird ihren Grund haben, dass sie so streng ist.«
»Du verteidigst sie? Sonst beschwerst du dich bei mir über sie und jetzt nimmst du sie in Schutz!«, fauchte das Mädchen.
»Das ist etwas anderes. Sie ist meine Mutter. Du hast keine Ahnung, was das bedeutet.« Die zierliche Frau packte ihre Tochter am Arm und sagte kalt: »Wir sind auf die Güte deiner Großmutter angewiesen, vergiss das nie! Wenn man etwas will, muss man dafür arbeiten!«
»Ach ja? Ich bin siebzehn Jahre alt und ich will nicht mein Leben lang nur schuften und am Ende allein und mit einem Haufen Schulden dastehen …«
Die Hand der Mutter klatschte schallend auf die Wange des Mädchens. Oben bewegte sich eine Gardine und für eine Sekunde sah Oda das Profil einer alten Frau.
Endlich ergriff der Mann, der mit vor der Brust verschränkten Armen unbeteiligt zugehört hatte, Partei. »Emilia, Schläge sind ein Ausdruck von Hilflosigkeit. So erzieht man Kinder nicht!«
Das Gesicht der Frau war weiß vor Wut und ihre Lippen zitterten. »Das muss mir jemand sagen, der seine Kinder zweimal im Jahr sieht. Ach, kümmert euch doch alle um euren eigenen Mist! Und Sie auch!«, fuhr sie Oda an und rauschte zurück ins Haus. Die Tür knallte hinter ihr ins Schloss.
Das Mädchen ging mit ausgestreckter Hand auf Oda zu. »Hallo, ich bin Alessia Gambetti. Sie müssen einen schönen Eindruck von unserer Familie haben. Denken Sie sich nichts dabei. Das ist hier so üblich.« Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände.
»Oda Bergemann. Ich versuchte gerade zu erklären, dass ich gekommen bin, weil ich eine Frage habe. Es ist ungewöhnlich, persönlich …« Sie suchte nach den passenden Worten, was ihr angesichts der finsteren Miene des Mannes nicht leicht fiel.
»Für ungewöhnliche Fragen habe ich keine Zeit. Sind Sie von der Presse? Zum Teufel, wir haben noch mehr zu tun!«, herrschte er sie an.
»Mensch, Sandro, lass sie doch ausreden. Nach einer Journalistin sieht sie nicht aus. Sind Sie an der Uni? Das Haus ist dreihundert Jahre alt!«, fügte Alessia nicht ohne Stolz hinzu.
Da Oda keine Ausrede vorbereitet hatte, sagte sie: »Einen Moment, bitte«, eilte zum Wagen und holte die Fotografie aus ihrer Handtasche. Alles oder nichts, dachte sie und zeigte zuerst Alessia das Foto des Gutes aus dem Krieg.
Das Mädchen strich sich die Haare aus dem Gesicht und pfiff durch die Zähne. »Das ist doch Nonna! Ja doch, das ist Nonna, und da, neben dem Soldaten, der dort könnte Nonno sein. Unglaublich! Wo haben Sie das her?«
Der Mann schaute dem Mädchen über die Schulter, erstarrte und sagte schneidend: »Ich bin Sandro Gambetti und verbiete Ihnen, uns mit solchen Kriegsgeschichten zu belästigen! Verlassen Sie meinen Hof, sofort. Nehmen Sie das mit und lassen Sie sich nie wieder hier blicken!«
»Was ist denn mit dir los? Du weißt doch gar nicht, warum Sie uns das zeigt. Tut mir leid …«, sagte Alessia.
Hilflos schüttelte Oda den Kopf, nahm die alte Fotografie wieder an sich und lief zum Wagen. Vergeblich blinzelte sie gegen die Tränen an, die ihre Sicht verschleierten, und stocherte blind mit dem Autoschlüssel neben dem Lenkrad herum. Als jemand gegen die Scheibe klopfte, fuhr sie auf. Es war das junge Mädchen. Oda drehte das Fenster herunter.
»Nehmen Sie mich mit?«
»Wohin?«, fragte Oda.
»Egal, ich brauche einen Tapetenwechsel. Hier ist dicke Luft.«
»Wem sagen Sie das.«
Während Oda den Wagen vom Hof fuhr, sah sie Sandro Gambetti im Rückspiegel zum Stall gehen. Er wirkte eher nachdenklich als zornig. Das Mädchen machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem und kurbelte das Fenster herunter.
»Ah, frische Luft! Wissen Sie …«
»Von mir aus können wir uns gern duzen. Die Umstände unserer ersten Begegnung hätten es verdient.« Oda verzog den Mund zu einem halben Grinsen und sah sie an.
Ihr Fahrgast schien erleichtert. »Gerne, Oda. Hübscher Name, klingt aber nicht deutsch …?«
»Nein, meine Mutter hatte eine Vorliebe für Märchen und seltsame Namen und sie war mit meinem Vater in Japan. Da gibt es eine Stadt mit meinem Namen.« Sie konzentrierte sich auf die schmale Straße.
»Das ist wunderschön! Ich glaube, deine Mutter würde mir gefallen. Meinen Onkel Sandro und meine Mutter, Emilia, hast du kennengelernt. Sie ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich kaum bemerkt, und wenn, dann wird sie hysterisch. Niemand kann ihren Ansprüchen gerecht werden, nicht einmal sie selbst. Sie ist anstrengend!«
»Sie ist da.«
Betroffen schaute Alessia sie an. »Du meinst, deine Mutter ist …?«
Oda nickte. »Ich war gestern auf der Beerdigung meines Vaters.« Sie erklärte in wenigen Worten die Umstände ihres Hierseins. Das junge Mädchen war ihr sympathisch, vielleicht, weil sie sich in seine Lage versetzen konnte. Alessia wirkte so traurig und zerrissen und gleichzeitig schien sie stark, doch ihre Kraft verpuffte in kindlichem Trotz. Wohin einen das führen konnte, hatte Oda nach schmerzhaften Erfahrungen bitter bereut. Auf einen Teil ihres Lebens war sie weiß Gott nicht stolz und wünschte sich, ihn rückgängig machen zu können. Nun, sie war hier. Das war ein Anfang.
»Ach, Oda, und dann kommst du ausgerechnet auf unseren Hof. Die Gambettis sind nicht gerade ein liebenswerter Haufen. Aber ab und an zeigen wir auch unsere guten Seiten. Ist wohl bei jeder Familie so, ach, vergiß es einfach … kannst du mir das Foto noch mal zeigen?«
»In meiner Handtasche.« Oda fuhr einfach denselben Weg zurück, den sie gekommen war. »Was hältst du von einem Mittagessen in Monte San Savino?«
»Ja, gut. Ich bleibe heute bei meiner Freundin. Die wohnt in Monte. Ihre Eltern sind stinkreich.« Alessia hatte ein ebenmäßiges Profil und wenn Oda an die Fotografie dachte, dann fand sie, dass das Mädchen der Frau neben Victor Bergemann ähnlich war. »Das ist Nonna, hunderprozentig.« Alessia tippte auf die junge Frau, die mit leuchtenden Augen und stolzer Haltung neben dem deutschen Besatzer stand.
»Du siehst ihr ähnlich.«
»Das sagen alle, außer meiner Mutter. Sie kann Nonna nicht leiden. Weißt du, im Grunde komme ich gut mit Nonna klar. Sie ist nur schrecklich streng und immer muss alles nach ihrer Nase gehen.«
Ihre Stimme klang weicher und es sprachen Liebe und Respekt daraus.
»Warum will sie dir das Pferd fortnehmen?«
Alessia hob den Blick. »Pass auf! Radfahrer.« Dann schrie sie einige Flüche aus dem Fenster, doch die Touristen auf den Rädern schüttelten nur die Fäuste und lachten. »Ich habe meine Arbeit nicht gemacht. Du hast den Hof gesehen. Er ist in katastrophalem Zustand. Deshalb ist mein Onkel Sandro auch hier. Eigentlich hat er selbst Probleme und ist geflüchtet. Er hat Weinbau studiert und oben im Piemont ein Gut geleitet. Naja, es gehört seinem Schwiegervater. Ehe kaputt, Job futsch.« Sie hob die Hände und das Foto flatterte beängstigend im Fahrtwind.
Oda hielt es für das Beste, Alessia einfach reden zu lassen. Die Fotografie landete sicher auf ihrem Schoß und sie näherten sich langsam einer Kreuzung.
»Also das Pferd, mein Pferd, Diva, hat Nonna mir geschenkt. Man kann Geschenke nicht geben und dann demjenigen wieder wegnehmen, nur weil man meint, er oder sie hätte es nicht verdient. Das kann man nicht! Weißt du, Sandro ist eigentlich in Ordnung, er hat im Moment eben selbst viele Probleme. Ich hoffe, dass er Diva bei einem Freund unterstellt und ich sie am Ende des Sommers zurückbekomme. Das ist der Plan, denke ich …« Sie kaute nervös an ihren Fingernägeln, spuckte die abgebissenen Stücke aus und versteckte die Hand im Ärmel ihrer ausgeleierten Strickjacke.
»Deine Großmutter, wie heißt sie?«
»Nella und der da neben dem Soldaten ist ihr Mann, Alcide. Da gehe ich jede Wette ein. Ich habe alte Fotos bei Nonna gesehen. Sie spricht nie über die Zeit. Dabei ist sie sehr stolz auf das, was sie alle damals getan haben. Nonna ist noch viele Jahre zu diesen Treffen gegangen.«
»Welche Treffen?« In der Ferne waren die Umrisse von Monte San Savino zu sehen, das wie Casole malerisch auf einem Hügel thronte.
»Na die vom ANPI. Associazione Nazionale Partigiani d’Italia, die alten Kämpfer eben. Ich war zweimal mit. Das hat mir gereicht. Wenn sie dann anfingen ›Bella Ciao‹ zu singen, hatte ich die Faxen dicke.« Alessia lehnte sich aus dem Fenster und winkte einer Vespafahrerin zu, die am Straßenrand wartete. »Halt mal an, Oda!«
Das Mädchen auf der Vespa war in Alessias Alter und trug, wie die meisten hier, keinen Helm. Sie hatte raspelkurzes blondiertes Haar, war klein und stämmig und zündete sich eine Zigarette an. Nase, Ohren und Augenbrauen waren gepierct.
»Ciao, Giulia. Wir sind auf dem Weg nach Monte«, sagte Alessia. »Kann ich heute zu dir?«
Giulia grinste und entblößte einen Schmuckstein auf ihrem Vorderzahn. »Hast du wieder Ärger mit deiner Mutter?«
»Diesmal mehr mit Nonna. Sie will Diva verkaufen.«
»Heftig. Wenn es wegen der Kosten ist, frag ich meine Eltern. Vielleicht kannst du sie bei uns einstellen, zumindest übergangsweise, du weißt, wie die sich anstellen …« Giulia hob entschuldigend die Schultern und zeigte auf Oda. »Wer ist das?«
»Oda. Was ist, Giulia, geht das mit heute abend klar?«, fragte Alessia.
»Ja, aber ich habe Probe. Wird spät. Ruf mich an.«
»Bis dann, ciao.« Alessia ließ sich wieder in den Sitz sinken und Oda setzte die Fahrt fort.
»Giulia spielt Schlagzeug in einer Band. Sie ist richtig gut. Vielleicht studiert sie Musik.«
»Und du? Weißt du schon, was du machen willst?« Lieber hätte Oda sie über Nella Gambetti ausgefragt, aber sie spürte, dass man sich Zeit für Alessia nehmen musste.
»Keine Ahnung. Hast du das eben von Giulia gehört? Das ist typisch! Übergangsweise könnten sie Diva einstellen! Ha! Denen gehört eines der größten Weingüter hier in der Gegend. Giulias Mutter hat sechs Pferde, ach, scheißegal, sollen sie doch machen … Ich vertrau da noch eher auf Sandro. Der weiß, was mir mein Pferd bedeutet.«
»Scheint so, als hätte Giulia nicht viel zu entscheiden«, wandte Oda vorsichtig ein. Die gesamte Aufmachung von Alessias Freundin schrie nach Aufmerksamkeit und war wahrscheinlich Giulias Antwort auf den goldenen Käfig, in dem sie lebte.
Sie fuhren durch die neu erbauten Wohnhäuser unterhalb der Altstadt. Mit ihren roten Ziegeldächern und dem toskanischen Baustil störten sie das mittelalterliche Gesamtbild kaum. Doch wie in viel zu vielen Teilen der Toskana setzte auch hier die Zersiedelung ein. »Noch ist einiges an Waldbestand erhalten, aber wie lange wird es dauern, bis auch hier alles den Immobilienhaien zum Opfer gefallen ist …«, dachte Oda laut.
»Sag das deinen Landsleuten oder den Russen und Engländern, die alles aufkaufen. Nonna hat immer gern von den ruhigen Zeiten früher erzählt als die Wälder noch riesig waren. Auf unserem Hof hat sich nicht viel verändert, das zeigt auch dein altes Foto. Aber ringsherum ist viel passiert. Nonna liebt das Land hier und wenn sie mal vom Krieg gesprochen hat, dann davon, wie sie und die anderen sich tagelang in den Wäldern versteckt haben. Weiter oben in den Bergen haben die Partisanen damals monatelang unentdeckt gelebt. Pass auf, da vorn links.«
Hinter einer halbhohen Mauer brachte Oda den Wagen zum Stehen. Die Osteria lag oben und Oda war gespannt, was Alessia ihr noch über die Fotografie erzählen konnte.