Die Osteria bestand aus einem winzigen Speiseraum und einer Terrasse, von der man über eine belebte Piazza blickte. An den wenigen Tischen saßen fast ausschließlich Einheimische. »Also, du bist eingeladen, Alessia. Kannst du mir etwas empfehlen?«
»Naja, das bifstecca alla fiorentina ist sehr gut. Du hast unsere Rinder gesehen. Dafür ist diese Gegend bekannt.«
Oda schüttelte den Kopf. »Kein Fleisch.«
Das Mädchen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auch eine von den Kaninchenfutteressern, na ja, muss jeder selbst wissen.« Sie fuhr mit dem Finger über die handgeschriebene Speisekarte. »Kein Zicklein, aber die Pasta mit den Porcini. Ein Glas Wein? Die haben einen guten Hauswein.«
Oda nickte und betrachtete die Piazza mit den anliegenden Gebäuden, während Alessia die Bestellung aufgab. Wolken zogen auf und eine frische Windböe kündigte einen Wetterwechsel an.
»Wir bleiben draußen sitzen, ja?« Alessia warf einen fachkundigen Blick zum Himmel. »Vor einer halben Stunde wird nichts runterkommen.«
»Du wirst es wissen. Verzeih, wenn ich so unverblümt frage, Alessia, aber ich möchte verstehen, was damals passiert ist. Mein Vater hatte dieses Foto, sprach aber nie darüber, genau wie meine Großmutter. Es ist nicht leicht für mich, weil ich überhaupt nichts über meinen Großvater weiß. Er könnte zu den schlimmsten Kommandos gehört haben, was hoffentlich nicht der Fall war. Aber auf dem Foto sieht es so aus, als hätte er ein gutes Verhältnis …« Sie stockte, jedes Wort schien ihr unpassend und sie schämte sich für die Vergangenheit, an der sie zwar keinen Anteil hatte, aber deren Erbe sie war. Also trug sie eine gewisse Mitverantwortung.
Eine Kellnerin brachte den Wein und Oda war froh über die Unterbrechung.
»Danke, Alessia, dass du dir die Zeit nimmst.«
Alessia probierte den Rotwein, bevor sie antwortete. »Du hast mich mitgenommen und spendierst mir ein Essen.«
Oda wartete, dass Alessia fortfahren würde und steckte sich eine schwarze Olive in den Mund. Sie schmeckte würzig und nicht zu sauer.
»Ich sags mal so, du wirst wohl kaum jemanden hier finden, der dir die Tür aufhält, wenn du mit deinem Foto ankommst. Aber weil nun mal meine Nonna drauf ist, interessiert es mich auch, irgendwie … Mir ist nicht alles egal, auch wenn es so aussieht.«
»Nicht für mich«, sagte Oda.
»Aber meine Mutter, mein Onkel und sogar Nonna denken das. Sie halten mich für egoistisch und faul.« Das hübsche Mädchen fuhr mit einem Finger über den Glasrand. »Ist wohl auch so, aber ich bin siebzehn! Giulia muss auch nicht für alles, was sie haben will, schuften!«
»Ich bin zweimal von zu Hause weggelaufen, bevor ich mit achtzehn endgültig einen Schnitt gemacht habe. Damals dachte ich, dass es überall besser sein würde als im Haus meiner Großmutter.«, sagte Oda.
»Du bist auch bei deiner Großmutter aufgewachsen?«
»Sie ist ein sehr spezieller Mensch, vorsichtig ausgedrückt. Ihre Villa war wie ein Gefängnis für mich.« Oda holte tief Luft. »Was ich sagen will, ist nur, dass es nicht besser wurde, nachdem ich fortgelaufen war.«
»Nein?«
»Nein«, antwortete Oda fest.
»Warum nicht?«
»Weil ich Fehler gemacht habe. Ich habe mich getäuscht. In mir, in einigen Menschen und meine Gleichgültigkeit hat jemanden das Leben gekostet.« Sie nahm einen großen Schluck Wein und schloss die Augen.
»Was könntest du getan haben?« Erwartungsvoll schaute Alessia sie an.
»Nicht getan, nicht getan … Das ist genauso schlimm …« Seufzend drehte Oda das Glas, sah die Menschen auf der Piazza, hörte ihr Lachen und Gesprächsfetzen, die der Wind herüber trug. Es tat auch nach Jahren noch weh, darüber zu sprechen. Die Zeit heilte nicht alle Wunden. Aber vielleicht war dies der richtige Moment und Alessia der richtige Mensch, ihre Geschichte zu hören. Das junge Mädchen hatte eine verwundete Seele, schien verzweifelt auf der Suche nach sich selbst und Oda wusste, wie leicht es war, sich zu verlieren. Jeder Mensch musste seine eigenen Fehler machen, aber es gab Dinge, die bereute man sein Leben lang. Und wenn sie Alessia mit ihren Erfahrungen helfen konnte, dann war das Grund genug, ihr von Indien zu erzählen.
Nach einem weiteren Schluck Wein räusperte Oda sich und sagte leise: »Ich bin nicht stolz auf diesen Teil meines Lebens, Alessia. Aber ich kann die Zeit nicht zurückdrehen …«
Das junge Mädchen richtete aufmerksam ihre dunklen Kajal umrandeten Augen auf Oda. »Erzähl es mir, bitte.«
»Beth war eine englische Studentin. Wir haben uns am Flughafen von Delhi kennengelernt und sind zusammen kreuz und quer durch Indien gereist. Gelebt haben wir von Gelegenheitsjobs in Hotels, als Reiseführer oder Dolmetscher. Wenn wir genügend Geld für einige Wochen gespart hatten, sind wir an die Küsten gefahren. Wer will, findet immer irgendwo eine Gruppe ausgeflippter Leute, die nach dem alternativen Leben und dem wahren Sein suchen. Natürlich waren auch Drogen im Spiel.« Sie wartete auf eine Reaktion, doch Alessia nickte.
»Ich verurteile dich nicht.«
Vor Odas innerem Auge verwandelten sich grüne toskanische Hügel in die weiten Strände von Goa. »An einem Strandabschnitt weitab vom touristischen Rummel gab es eine Art Hippiedorf. Ein Dutzend windschiefer Hütten, notdürftig aus Blech und Palmblättern errichtet, diente uns selbsternannten Lebenskünstlern als Unterkunft. Wir waren so dumm und eifrig bemüht, jeden Tag aufs Neue zu beweisen, dass wir all den Zivilisationsmist nicht brauchen. Von harten Drogen habe ich mich ferngehalten, aber Joints gehörten schon zum Frühstück dazu. Eines Tages ging ich mit Beth am Wasser spazieren. Das Meer war noch aufgewühlt vom nächtlichen Sturm und die Fischer konnten die gefüllten Netze gar nicht schnell genug an Land bringen. Wir kauften uns Fisch und brachten ihn unseren so genannten Freunden mit. Einige lagen zugedröhnt im Schatten der Palmen, andere hielten es so wie wir, meditierten und schleppten gern irgendwelche obskuren Gurus an. Die haben sich wahrscheinlich köstlich über die kaputten Westler amüsiert und uns nach Strich und Faden ausgenommen.
Am Nachmittag bekamen wir Hunger und bereiteten uns Reis und ein Fischcurry zu. Die frischen Ananas und Mangos waren so unfassbar billig und schmeckten fantastisch. Der Fisch roch nicht schlecht. Er kam ja direkt aus dem Meer! Ungefähr zwei Stunden nach dem Essen ging es bei Beth los.
›Mir läuft das Wasser nur so vom Körper. Ist dir auch so heiß, Oda?‹, fragte sie.
Ich sah sie an und fand, dass sie ziemlich elend aussah, aber das war nichts Außergewöhnliches. ›Soll ich dir eine Flasche Wasser holen? Trinken hilft gegen das Schwitzen.‹
Als ich mit einer Plastikflasche aus der Hütte zurückkam, saß sie im Sand und knetete ihre Füße. ›Die sind ganz taub. Ich glaube, wir sollten aufhören mit dem Kiffen.‹ Sie kicherte, dann wurde ihr übel, aber sie konnte sich nicht übergeben.
Ich verspürte kein Unwohlsein. ›Der Fisch kann es nicht sein. Wir haben beide davon gegessen. Die Früchte vielleicht? Aber die haben wir auch gemeinsam gegessen.‹
Wir machten uns weiter keine Gedanken. Aber dann wachte ich in der Nacht auf, weil Beth mit sich selbst sprach. ›Wieso ist das kalt? Scheiße, und das ist heiß! Oda! Guck doch mal. Hier, die Wasserflasche ist glühend heiß!‹
Wir schliefen nebeneinander auf Bastmatten. Ich nahm die Plastikflasche, die aus der Kühlbox kam, in die Hand. ›Ganz normal. Nicht super kalt, aber normal.‹
›Nein! Ich hätte mir eben fast die Finger dran verbrannt!‹, protestierte Beth und starrte mich verwirrt an.
Eine Weile ging das so hin und her. Ich dachte, sie macht sich einen Spaß mit mir, bis sie über Herzrasen klagte und in Ohnmacht fiel. Da erst begriff ich, dass sie nicht gescherzt hatte. Und da war es bereits zu spät. Bis der Notarzt kam, vergingen weitere Stunden.
Ich erzählte dem Arzt, was Beth mir über ihre Symptome gesagt hatte und da wurde der Mann ganz hektisch. ›Ciguatera‹, sagte er und seine Miene verhieß nichts Gutes.
Im Krankenhaus fiel Beth in ein Koma, aus dem sie nie wieder erwachte. Ich werde nie den Blick ihrer Mutter vergessen, als die an Beths Sterbebett trat. ›War es das wert?‹
Sie hat sonst kein einziges Wort mit mir gesprochen, ihre Tochter einäschern lassen und ist mit der Urne nach England zurückgeflogen.«
Oda leerte ihr Weinglas mit einem Zug. Nicht einmal ihrem Vater hatte sie die ganze Wahrheit erzählt. Zu schwer wog ihre Schuld und zu sehr schämte sie sich. Aber sie spürte, dass es richtig und notwendig gewesen war, sich preiszugeben, zu zeigen, was passieren konnte, wenn man blindlings davon rannte. Nur so konnte sie Alessias Panzer durchdringen.
»Aber deine Freundin wusste, was sie tat. Du warst nicht für sie verantwortlich«, meinte Alessia.
»Hätte ich meinen Verstand beisammen gehabt, wäre mir sofort aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt! Ich hätte Beth zum Arzt gebracht und sie wäre nicht gestorben! Das Taubheitsgefühl und das umgekehrte Kalt- und Warmempfinden sind eindeutige Anzeichen für eine Ciguatera-Fischvergiftung. Wir waren lange genug in Indien und hatten davon gehört. Aber keiner wollte wahrhaben, dass es auch uns treffen kann«, erwiderte sie.
»Ich habe noch nie davon gehört. Ist das ein spezieller Fisch?«
»Nein. Im Indischen und Pazifischen Ozean gibt es Algen an Korallenriffen, die von Kleinstlebewesen besiedelt sind. Kleinfische, wie der Papageienfisch, fressen die Algen und nehmen dabei das Gift auf, das sich in deren Gewebe ansammelt. Dann kommen große Raubfische, wie der Snapper oder der Barsch, und fressen die verseuchten Kleinfische. In den großen Fischen entwickelt sich die toxische Wirkung des Nervengiftes. Nach Stürmen ist die Gefahr besonders groß, dass die Fische vergiftet sind. Es passte alles!«
»Es hätte aber auch dich treffen können. Denkst du, deine Freundin hätte dich gerettet?«
Das Essen wurde gebracht und der Duft dampfender Pilzsauce stieg von ihrem Teller auf. »Ich weiß es nicht, Alessia. Und es spielt keine Rolle. Es ist passiert und ich muss damit leben.«
»Du bist deinen Weg gegangen. Jeder muss das für sich entscheiden. Du meinst es gut, aber ich will meine Fehler selbst machen, auch wenn sie wehtun. Ich weiß nicht, was ich eigentlich will, wer ich bin. Aber ich will selbst über mein Leben bestimmen. Ich liebe Nonna, aber sie verlangt zu viel von mir.« Sie schwieg, berührte ihre Gabel mit den Fingern und sagte schließlich: »Buon appetito. Lass es nicht kalt werden.«
Das Essen war tatsächlich hervorragend und Oda versuchte, die einzelnen Gewürze herauszuschmecken. Als die ersten dicken Regentropfen auf den Tisch klatschten, sah sie überrascht auf. Das umschlagende Wetter hatte sie vollkommen vergessen. Da sie mit dem Essen fast fertig waren, ließen sie die Teller stehen und suchten in der kleinen Osteria Schutz vor dem Schauer.
»Kaffee?«, fragte Oda, doch Alessias Aufmerksamkeit wurde von einer Gruppe in einer Ecke des Raumes in Anspruch genommen.
Alessia berührte sie an der Schulter. »Sei mir nicht böse, Oda. Ich muss los. Danke für das Essen.«
Aus der Gruppe schälte sich ein einzelner Mann heraus und machte Anstalten, auf sie zuzusteuern, was ihm in dem überfüllten Raum nicht leicht fiel. Oda erkannte ihn nicht sofort.
Alessia hatte einen Stift aus ihrer Tasche gekramt und kritzelte etwas auf eine Serviette. »Hier, meine Nummer. Ruf mich an.« Sie drückte Oda das Papier in die Hand, warf einen gehetzten Blick in den Raum und verschwand nach draußen.
Verwundert sah Oda ihr nach und überlegte, woher sie den Mann kannte, der hinter Alessia zur Tür hinaus lief und kurz darauf durchnässt wieder hereinkam. Als er vor ihr stand und sich die nassen Haare aus dem Gesicht strich, erinnerte sie sich. »Heute morgen. Sie haben mich gerettet.«
Der Weinhändler lächelte. »Es war mir ein Vergnügen.«
Stefano Luzzati, jetzt fiel Oda auch sein Name wieder ein. »Wie geht es Ihrem Onkel? Wollten Sie ihn nicht besuchen?«
»Daran erinnern Sie sich? Danke, heute hatte er einen guten Tag. Onkel Silvio erzählt gern von seiner aktiven Zeit. Er war bei den Partisanen, genau wie mein Vater.« Stefano bekreuzigte sich automatisch. »Mein Vater ist früh gestorben und mein Onkel hat sich mit um mich gekümmert, irgendwie, auf seine unvergleichliche Weise.«
Stefano schmunzelte. »Silvio Luzzati ist ein Original. Er hat viel erlebt. Nach dem Krieg war er in Russland!« Er sagte das in verschwörerischem Ton.
»War er ein Spion?«, fragte Oda halb im Scherz.
Luzzati schüttelte den Kopf. »Kommunist. Auch wenn er sich für einen Spion hielt, ich glaube es nicht. Aber damals war es schon gefährlich genug, Kommunist zu sein. In letzter Zeit lässt ihn sein Gedächtnis öfter im Stich. Deshalb freue ich mich für ihn, wenn er so gut gelaunt ist wie heute. Ich höre ihm gern zu, auch wenn ich die meisten Geschichten schon kenne. Er hat Witz und er liebt die Frauen! Ha!« Stefano grinste. »Das muss ich von ihm haben … Ich würde mich gern zu Ihnen setzen, aber meine Gruppe wartet.« Er deutete mit dem Kopf in die Ecke. »Amerikanische Touristen. Da Sie Alessia kennen, gehe ich davon aus, dass Ihr Besuch bei den Gambettis erfolgreich war?«
»Das würde ich nicht sagen, aber …« Sie machte eine vage Handbewegung. »Alessia ist mit mir in die Stadt gekommen.«
»Sie ist ein hübsches Ding und sie weiß es …«
So, wie er sich ausdrückte, hätte man den Eindruck gewinnen können, dass er und Alessia … Oda schüttelte den Gedanken ab. Er hätte Alessias Vater sein können. Die Mittagszeit neigte sich dem Ende zu und die Tische leerten sich nach und nach. Aus Stefano Luzzatis Gruppe erhob sich eine Blonde mit Schirmmütze, winkte und zeigte auf ihre Armbanduhr. »Ich glaube, man vermisst Sie!«
Mit gequältem Gesichtsausdruck wandte der geschäftstüchtige Weinhändler den Kopf. »Ja doch! Einen Moment!«, rief er durch den Raum und leiser zu Oda: »Wie lange sind Sie noch hier? Bitte, machen Sie mir die Freude und schauen Sie in meiner Enoteca vorbei! Versprochen?«
»Ich will es versuchen.« Vielleicht konnte sie herausfinden, ob er ihr die Geschichte über seinen Onkel absichtlich erzählt hatte.
Er hatte das Bild gesehen. Die Gambettis waren ihm bekannt. Ob er Nella Gambetti in der Eile hatte erkennen können? Selbst Alessia hatte sich das Bild genau ansehen müssen. Sie beglich ihre Rechnung und verließ die Osteria. Der Regen hatte zugenommen und die grauen Wolken sahen nicht so aus als würden sie in absehbarer Zeit verschwinden. Für heute hatte sie genug erlebt.
Auf der Rückfahrt nach Casole d’Elsa klingelte Odas Mobiltelefon dreimal. Nachdem die ersten beiden Anrufe von Eike waren, mit dem sie nicht sprechen wollte, ignorierte sie das dritte Klingeln und entdeckte erst bei ihrer Ankunft, dass ihre Großmutter versucht hatte, sie zu erreichen. »Ich kann jetzt nicht.« Müde warf sie das Telefon ins Sofa und öffnete die Terassentüren, um frische Luft hereinzulassen.
Es dämmerte bereits und aus dem Nebenhaus drang Musik. Oda schlang die Arme um ihren Körper und trat mit bloßen Füßen in das feuchte Gras. Hier hatte es auch geregnet, doch der goldrote Sonnenuntergang verhieß besseres Wetter. Das Telefon klingelte erneut, unerbittlich. Und wenn ihrer Großmutter etwas zugestoßen war? Immerhin war Dorle Bergemann vierundachtzig Jahre alt. Die Nachricht vom Tod ihres Sohnes konnte einen Schlaganfall hervorgerufen haben. Oda sah zum Nachbarhaus hinauf, während sie schweren Herzens über die Terrasse ins Haus ging.
Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam. Alles in diesem Haus erinnerte sie an die glücklichste Zeit in ihrem Leben, die viel zu kurz gewesen war. Ihr Zimmer, die Bilder ihrer Mutter. Oda wischte sich die Tränen aus den Augen.
Auf dem Sofa leuchtete das Display ihres Telefons und das penetrante Klingeln ertönte. »Ja?«
»Du könntest dich ruhig mit deinem Namen melden. Soviel Benehmen solltest selbst du haben.«
»So herzlich werde ich nur von dir begrüßt, Großmutter.«
»Deine Scherze sind unangebracht, Oda.«
»Genau wie deine Kaltschnäuzigkeit«, entfuhr es ihr.
Dorle Bergemann räusperte sich und sagte in versöhnlicherem Ton: »Es ist bedauerlich, dass wir uns nie nahe gekommen sind. Vor allem jetzt.«
»Vieles ist bedauerlich«, erwiderte Oda und dachte an ihre erste Begegnung.
»Es ist, wie es ist. Du bist meine Enkelin und selbstverständlich mache ich mir Gedanken um dich. Schließlich wird mein Besitz einmal dir gehören.«
»Ich mache mir nichts draus, Großmutter.«
»Nein? Vielleicht nicht jetzt. Später denkst du anders. Hast du das Bild noch?«
Die Frage kam so unvermittelt, dass Oda vollkommen perplex bejahte.
»Würdest du es mir schicken?« Dorles Stimme klang beinahe sanft.
Oda konnte nicht glauben, dass sie mit Dorle Bergemann sprach. »Äh, welches Bild meinst du? Das mit dir, Thesi und Großvater?«
»Nein«, sagte Dorle geduldig. »Davon habe ich einen Abzug. Es steht hier im Salon auf dem Tisch. Du wirst dich nicht erinnern.«
Doch, sie konnte jedes Zimmer der Villa vor ihrem inneren Auge aufrufen, genauso wie den Geruch von Mottenkugeln und Möbelpolitur, der in den unbewohnten Räumen hing.
»Warum?«
»Was geht …« Dorle räusperte sich und sagte ruhig: »Ich bin eine alte Frau. Was einem bleibt, ist die Vergangenheit. Dass dein Vater im Besitz der Fotografie war, wusste ich nicht. Was willst du überhaupt damit anfangen? Du kanntest Victor nicht!« Die eisige Kälte kehrte in ihre Stimme zurück.
»Ich hätte ihn gern gekannt. Du hättest mir von ihm erzählen können. Du willst das Bild doch nur haben, weil es hier in der Toskana aufgenommen wurde.«
»Du solltest vorsichtiger sein mit dem, was du sagst, Oda. Ich verbiete dir, in meiner Vergangenheit herumzuschnüffeln, denn das ist es doch, was du vorhast? Oder nicht?«
»Du hast doch selbst gesagt, dass ich deine Enkelin bin, also ist es auch meine Vergangenheit. Du kannst mir gar nichts verbieten!«
Dorles Atem ging rasselnd und Oda hörte, wie Hilla im Hintergrund hantierte und beruhigend auf Dorle einredete.
»Oda«, Dorles Stimme hatte wieder diesen ungewohnt bittenden Tonfall, »was im Krieg geschehen ist, ich meine, du weißt, gerade in der Toskana … Ich möchte einfach nicht, dass unser Name beschmutzt wird.«
»Dann weißt du also, was Victor dort getan hat?« Übelkeit schnürte Oda den Magen zusammen. Davor hatte sie sich gefürchtet, aber die Wahrheit war nie so, wie man sie gern hätte.
»Nein, nein, aber deshalb will ich ja nicht, dass jemand losgeht und Steine umdreht, die besser liegen bleiben.«
»Es könnte ein Skorpion darunter hervorkriechen?« Oda stieß ein freudloses Lachen aus.
»Wenn du es so ausdrücken willst. Ja, genau das meine ich. Würdest du einer alten Frau diesen Wunsch erfüllen?«
Sie hatte kein Recht, irgendetwas zu fordern, aber was kostete ein Versprechen? »Wie du meinst.«
»Ich danke dir. Auf Wiedersehen, Oda.«
Das Gespräch ging ihr nicht aus dem Kopf, nicht beim Abendessen, das sie in Giannis Bar einnahm und nicht auf dem Spaziergang, der Oda danach zur Kapelle führte. Sie betrachtete die weiße Marmorplatte, hinter der sich die Urne mit der Asche ihres Vaters befand.
»Du hast das Foto nicht ohne Grund aufbewahrt. Soll sie denken, dass sie mich eingewickelt hat. Sie macht mir keine Angst. Das Foto zeigt keinen Soldaten, der sich als Sieger inmitten der Besiegten ablichten lässt!«, murmelte Oda. Die Menschen auf dem Bild verband etwas. Und Alessias Andeutungen untermauerten ihre Annahme, dass die Gambettis eine Rolle in Victors Leben gespielt hatten.
Es gab nur einen Weg, mehr herauszufinden.
Sie holte ihre Tasche und suchte nach Alessias Telefonnummer. Oda sorgte sich um das junge Mädchen, das verzweifelt und einsam schien. Vielleicht konnte sie verhindern, dass Alessia denselben Fehler machte, wie sie selbst damals und alle Brücken hinter sich abbrach. Doch die Leitung blieb stumm.
Zurück in ihrem Haus goß Oda sich ein Glas Wein ein, den sie sich in einem kleinen Laden im Ort mitgenommen hatte, und ging damit nach oben in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Weit war sie nicht gekommen mit ihren Aufräumarbeiten. Oda nippte an ihrem Glas und zog ein kleines ledergebundenes Heft unter einem Stapel Notizzettel hervor. Die Eintragungen bestanden hauptsächlich aus Telefonnummern von Geschäftspartnern, Adressen von Stofflieferanten, Kritzeleien von Mustern und Gesprächsnotizen. Morgen Delhi anrufen, stand dort oder Antonio nach dem Restposten fragen. Dann stutzte sie. Victor, las Oda, eingekreist und mit einem großen Fragezeichen versehen. Darunter hatte ihr Vater Namen und Telefonnummer von Signore Matani notiert. Ein bloßer Zufall?
Weit nach Mitternacht ging Oda zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie schweißgebadet aufschreckte. Sie hatte oft Albträume, aber dieser war besonders bedrückend gewesen. Ihre Großmutter hatte weinend an einem Grab gestanden. In einem Erdhaufen steckte eine Schaufel und überall lagen weiße Marmorplatten herum. Es war eine nächtliche Szene. Aus dem Dunkel tauchte plötzlich Alessia auf. Mit wehenden Haaren preschte sie auf einem Pferd durch den Erdhaufen und ihre Großmutter stürzte in das Grab. Das nächste, was Oda sah, war Erde, die ihr ins Gesicht fiel. Aber sie war doch nicht gefallen oder doch? Ein Telefon klingelte und ein ernster dunkelhaariger Mann beugte sich über den Grubenrand. »Sie ist tot.« Das Gesicht, dachte Oda, sie kannte das Gesicht und streckte eine Hand nach ihm aus. »Victor!«, rief sie, aber als der Mann sich erneut vorbeugte, war es Sandro Gambetti.
Wieder dieses Klingeln. Doch diesmal war es real. Oda schlug die Decke zurück und schwang die Beine vom Sofa. Noch immer zog sie es vor, unten auf dem Sofa zu schlafen. Das Klingeln wurde vom Haustelefon verursacht. Mit schwerem Kopf stand sie auf. Die fast leere Weinflasche stand anklagend auf dem Tisch.
»Hallo?«, krächzte sie in den Hörer.
»Habe ich Sie geweckt, Signorina? Das tut mir leid. Ich wollte nur fragen, ob Sie noch etwas besprechen möchten, bevor Sie abreisen. Ich bin in Rom und komme heute Abend spät zurück. Wann geht Ihr Flug?«
»Signore Matani. Moment, bitte.« Oda ging zur Spüle und füllte ein Glas mit Wasser, das sie in einem Zug leerte. »Mein Flug geht übermorgen Abend. Kann ich Sie vorher noch sehen? Ich habe tatsächlich noch einige Fragen. Hat mein Vater eigentlich über meinen Großvater, Victor, mit Ihnen gesprochen?«
Es rauschte in der Leitung und der sonst so redegewandte Anwalt antwortete bedächtig: »Nein, tut mir leid, Signorina. Darüber haben wir nie gesprochen. Wie wäre es am Morgen vor ihrer Abreise? Giannis Bar?«
Doch dazu sollte es nicht kommen …