»Dorchen!«, rief Erika Arndt. »Willst du denn deine Geschenke nicht auspacken? Hier unten warten alle auf dich.«
Schneeflocken schwebten lautlos vom Himmel, bildeten kleine Kristalle am Fenster und eine flauschige weiße Schicht auf dem Fensterbrett. Dorle presste ihre Stirn gegen die Scheibe und starrte auf die Bäume, die mit ihren vereisten Zweigen wie gläserne Skulpturen wirkten. Die Figuren des Springbrunnens hatten sich unter dicken Schneehauben in tapsige Eisbären verwandelt und von der Elbe drangen nur leise Geräusche herauf. Selbst der gewaltige Fluss, der sonst die Aussicht dominierte, hatte sich dem Winter unterworfen und war zu einem Rinnsaal in mitten einer dicken Eisschicht geworden.
»Ich bin die Schneekönigin!« Dorle schnippte gegen das Fenster, dass es klirrte und hob das spitze Kinn. Heute war ihr fünfzehnter Geburtstag und ihre Eltern, Freundinnen und die gesamte Dienerschaft warteten unten in der Halle darauf, dass sie die Treppe herunterkam. Sie nahm die weiße Stola vom Sessel und strich über das seidige Fell. Die Innenseite war mit blauer Seide gefüttert und passte zur Farbe ihres Kleides. Kritisch betrachtete sie sich im Ankleidespiegel. Sie war etwas zu dünn, das Gesicht zu schmal und die Lippen nicht so voll, wie man es sich wünschen würde. Dorle verzog den Mund. Dafür war sie die Tochter von Herbert Arndt, einem reichen Hamburger Stoff- und Möbelhändler. Ihre Mutter entstammte einer angesehenen Familie und man verkehrte in der besseren Gesellschaft. Heutzutage, dass hatte Dorle verstanden, war die Zugehörigkeit zu diesen Kreisen entscheidend.
Ihre Mutter liebte Festlichkeiten und nutzte jeden Anlass, Familie und Freunde einzuladen. Sie tat das, weil sie gern im Mittelpunkt stand, weil ihr Komplimente für ihre Garderobe, das Essen, die Villa und den Garten Genugtuung verschafften. Dorle steckte die Nase in das weiche Fell auf ihrer Schulter. Für Zärtlichkeiten hatte Erika Arndt nichts übrig. Man konnte sich ihre Anerkennung verdienen, zu größeren Gefühlen ließ sich Erika nicht hinreißen. Seit Dorles Vater in die Partei eingetreten war, sah sie ihn noch seltener. Das junge Mädchen warf ihrem Spiegelbild einen koketten Handkuss zu. Ein gelegentliches wohlwollendes Tätscheln auf die Wange war Herberts väterliche Zuneigungsbezeugung. Dafür war er nie knauserig und erfüllte ihr jeden Wunsch und das, dachte Dorle, ist das mindeste, was mir zusteht.
Mit einem Ausdruck blasierter Selbstsicherheit schritt Dorle die Treppe hinunter. Obwohl Erika Arndt großes Aufhebens um den Geburtstag ihrer Tochter machte, wusste diese, dass es im Grunde nicht um sie ging. Die kunstvoll verpackten Geschenke auf dem Tisch im Salon dienten dem Renommee der Arndts, genau wie die silbernen Tabletts, auf denen Dienstboten in gestärkten Uniformen Canapées und Sektschalen anboten. Ihre Freundinnen standen neben dem Flügel, an dem ein junger Mann im Frack die Geburtstagshymne anstimmte. Erika Arndt wirkte wie immer sehr elegant. Ihr kastanienbraunes Haar umspielte in weichen Wellen das ovale Gesicht und Erikas Lippen leuchteten in demselben Rot wie ihre polierten Fingernägel. Auf einer zweistöckigen Sahnetorte brannten Kerzen und die Hausherrin nickte, worauf die Gäste zu singen begannen.
Dorle lächelte höflich und ließ den Blick über ihre Geburtstagsgesellschaft gleiten. Neben ihrer Mutter standen Hedwig, deren Vater kürzlich zum Leiter des Finanzamtes befördert worden war, Renate, wegen ihrer roten Haare wurde sie Feuerschopf genannt, und die dicke Ilse. Eigentlich war Ilse nur etwas rundlich, aber Hedwig hatte irgendwann einmal von der dicken Ilse gesprochen und daraus war ihr Spitzname geworden. Aber Ilse machte sich nichts daraus, denn wenn ihr etwas zu bunt wurde, setzte sie ihre Fäuste ein. In der Hinsicht kam sie nach ihrem Vater, einem Fleischermeister, der es in der neuen Partei nach ganz oben gebracht hatte.
»… und viel Glück!« Der Gesang verklang und alle klatschten begeistert in die Hände. »Los, Dorle, Geschenke auspacken!«
»Schau, Dorchen, das hier ist von deinem Vater und mir«, sagte ihre Mutter und drückte ihr ein in Goldpapier eingeschlagenes flaches Kästchen in die Hand. »Herzlichen Glückwunsch, mein Engel.«
»Danke, Mutter.« Dorle zerriss das Papier. »Wo ist Vater?«
»Herbert ist auf einer Parteiversammlung. Aber er lässt dich herzlich grüßen und wird heute Abend zum Essen hier sein«, sagte Erika mit zuckersüßem Lächeln.
»Immer ist er bei diesen komischen Versammlungen. Hat er vorher doch auch nicht gemacht. Jetzt sehen wir ihn gar nicht mehr«, beschwerte sich Dorle. In dem Lederetui lag auf rotem Samt eine goldene Halskette mit einem dreiteiligen Anhänger.
»Oh, das ist hübsch!«, rief Renate, die ihren Kopf über das Kästchen drängte. »Glaube, Liebe, Hoffnung. So einen wollte ich auch immer haben!«
Ilse betrachtete missbilligend den aus einem Kreuz, einem Herz und einem Anker bestehenden Schmuck. »Mein Vater sagt, dass die Kirche bald gar nichts mehr zu sagen hat.«
Dorle klappte das Kästchen zu. »Du sollst das ja auch nicht tragen, Ilse. Wär’ für deinen Hals eh zu klein!«
Ilse zuckte mit den Schultern. Der weiße Gürtel ihres dunkelblauen Kleides markierte die nicht vorhandene Taille. »Ihr werdet schon noch sehen … Ich habe Hunger, beeil dich, Dorle. Ich will die Torte probieren!«
Dorle verdrehte die Augen und alle lachten. Nur Johanna, die Hauswirtschafterin der Arndts, blieb ernst und schien sich nicht mitfreuen zu können. Die bescheidene, ältlich wirkende Frau war im Haus, seit Dorle denken konnte. »Was ist denn mit dir, Johanna? Du schaust ja, als hättest du einen sauren Hering verschluckt!«
Johanna Pape senkte verlegen den Blick und schüttelte den Kopf. »Fräulein Dorle, meine herzlichsten Glückwünsche auch.« Sie machte einen Knicks. »Es ist nur so, ach Frau Arndt, ich hätt’s Ihnen ja gesagt, aber ausgerechnet heute …« Unglücklich sah Johanna auf und wurde leichenblass, denn alle Augen waren neugierig auf sie gerichtet.
»Na, nun heraus damit, Johanna. So schlimm kann es ja gar nicht sein.«, ermunterte Erika Arndt sie, einen ungeduldigen Unterton unterdrückend.
»Theresa, komm her!«, rief Johanna nach hinten in die Küche und ein Mädchen in Dorles Alter kam herein.
»Meine Nichte«, flüsterte Johanna und umfasste ängstlich die schmächtigen Schultern des Mädchens.
Doch Theresa schien keinerlei Scheu vor den Fremden zu empfinden. Sie stand gerade vor ihrer Mutter und nahm mit ihren großen Augen neugierig Maß. Neugierig, nicht trotzig oder verschämt, sondern abwägend betrachtete Theresa Pape die Gesellschaft, zu der ihresgleichen keinen Zutritt hatte. »Ich bin Thesi.«, sagte sie mit fester Stimme.
Dorle war sofort fasziniert von dem Mädchen mit den hellblonden Haaren, die sich in weichen Locken auf ihren Schultern ringelten. Eine Aura der Zerbrechlichkeit umgab das Mädchen, dessen schönes Puppengesicht aus Porzellan gemacht schien. Sie wollte dieses elfengleiche Geschöpf beschützen, damit niemand es verletzen konnte. Unbewusst streckte Dorle die Hand nach dem Überraschungsgast aus, doch ihre Mutter runzelte verärgert die Stirn.
»Musik, bitte!«, befahl Erika Arndt. »Johanna, komm mit in die Küche. Was hat das zu bedeuten? Eine Nichte? Warum wusste ich davon nichts?«
Johanna zog ihre Nichte mit sich, die jedoch flehentlich zu Dorle sah. Der Pianist spielte einen Walzer und die Mädchen fingen an zu schnattern. Einige versuchten sich in Tanzschritten, die sie in der Tanzschule gelernt hatten.
»Komm schon, Dorle, lass uns tanzen. Wiener Walzer. Was schaust du denn? Das war doch nur die Tochter einer Dienstbotin. Hast du das Kleid gesehen?« Hedwig lachte. »Das sah aus wie ein alter Gardinenstoff!«
Ilse grinste und griff nach einem Lachscanapée. »Vielleicht ist die auch noch Jüdin!«
»Jetzt hört aber auf. Heute ist mein Geburtstag und ihr macht, was ich sage!«, fauchte Dorle.
Renate rümpfte die Nase. »Seid nicht so gemein, Ilse. Wenn bei uns zu Hause gefeiert wird, dürfen auch alle dabei sein.«
»Ach ja, dein Vater ist ja auch Sozialist!«, rief Hedwig und Ilse lachte meckernd.
Sofort war eine hitzige Diskussion im Gange, doch Dorle überließ die streitlustigen Mädchen sich selbst und lief in die Küche, wo sie am missmutigen Gesichtsausdruck ihrer Mutter ablesen konnte, dass es Ärger geben würde.
Johanna wirkte verzweifelt. »Ich wusste nicht mehr ein noch aus, gnädige Frau! Mein Bruder ist so krank, dass er ins Sanatorium musste. Das Kind kann doch nicht allein in der Wohnung bleiben. Die Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Bitte, es wäre nur für einige Wochen. Sie schläft in meiner Kammer und hilft in der Küche oder bei der Wäsche. Sie wird ja gar nicht auffallen.«
»Ich kann auch nähen«, sagte Thesi und strich über ihren grauen Rock, unter dem wollene Strümpfe und mehrfach geflickte schwarze Stiefel zu sehen waren.
»Heute ist mein Geburtstag, Mutter. Ich möchte, dass Thesi mit uns feiert.«, sagte Dorle.
Thesi schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Dorle einem Menschen verbunden. »Sie soll bleiben, Mutter. Wir haben genug Platz und viele meiner Kleider müssen ausgebessert werden.«
»Von mir aus.« Entnervt fuhr Erika mit dem Handrücken über ihre Stirn. »Hoffentlich bekomme ich keine Migräne. Ich mag es nicht, wenn man mich so überfällt. Immer stehe ich allein vor solchen Sachen. Wenn doch nur dein Vater hier wäre …«
Herbert Arndt kam später als erwartet an diesem Abend und Erika entschuldigte sich nach dem Dessert mit Kopfschmerzen. Als Zigarrenrauch das Esszimmer erfüllte, stand Dorle auf und legte ihrem Vater die Arme um die Schultern. »Vati, ich möchte gern, dass die Nichte von der Johanna, die heute gekommen ist, bei uns bleiben darf.«
»Hast du mit Mutter darüber gesprochen? Sie sagt, dass wir eigentlich genug Personal haben.« Der Geschäftsmann tätschelte die Hände seiner Tochter und betrachtete eine aufgeschlagene Mustermappe, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Wenn unsere Partei drankommt, Dorchen, dann krieg ich den Auftrag! Neue Möbel, neue Bezüge für das Rathaus und für das Hotel, in dem die Herren immer absteigen. Die Parteizentrale wird auch neu gemacht. Es wird viel passieren! Deutschland wird noch ganz groß, Dorchen, dann ist die Schmach vom Krieg vergessen …«
Dorle lächelte und küsste ihren Vater auf die Wange. Er trug seine Haare jetzt sehr kurz über den Ohren, was ihr nicht sehr gut gefiel und bei seiner fülligen Statur auch nicht vorteilhaft wirkte. »Aber wenn du so gute Geschäfte machst, dann könnte doch die Thesi auch hier bleiben.«
Herbert Arndt schmunzelte. »Mein Dorchen, gewitztes Kätzchen. Ja, soll sie halt bleiben, die Resi.«
»Thesi. Danke, Vati!« Überglücklich über ihren Erfolg, stieg Dorle bald darauf die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Es war bereits spät und außer ihrem Vater, der noch im Salon rauchte, hatten sich alle Bewohner der Villa zur Nachtruhe begeben.
Als Dorle ein kratzendes Geräusch vernahm, blieb sie stehen und lauschte in das Treppenhaus. Es raschelte oben an der Treppe und etwas Helles huschte vorbei. Da sie keine Haustiere hatten und Dorle nicht an Geister glaubte, stieg sie die Treppe hinauf und knipste das Licht an.
»Mach das Licht aus! Ich bin hier!« Thesis blonde Locken erschienen für einen Moment hinter einem Sessel, der den Flur vom Treppenaufgang abgrenzte.
Dorle kicherte. »Wie bist du hier herauf gekommen? Hat Johanna nichts gemerkt?«
Rasch schaute sie sich um, doch die Türen der angrenzenden Schlafräume und Salons waren verschlossen.
»Die hat die Reste aus allen Weingläsern getrunken und schläft wie ein Stein.« Thesi schlug die Arme um den Körper. Sie war barfüßig und schien unter einer Strickjacke nur das Nachtgewand zu tragen. Durch die hohen Fenster zog die Kälte in das ungeheizte Treppenhaus. »Ich wollte mich bei dir bedanken, Dorle.«
»Und deshalb schleichst du dich extra hier herauf?« Dorle war es nicht gewohnt, dass sich jemand bei ihr bedankte. Für gewöhnlich tat sie sich nicht durch Großzügigkeit oder Mitleid hervor.
Die Umarmung kam so unerwartet, dass Dorle für eine Sekunde zur Salzsäule erstarrte, bis sie spürte, dass das Mädchen, das sie umschlungen hielt, an ihrer Schulter weinte. Sie räusperte sich und klopfte Thesi ungelenk auf den Rücken. »Sch, nicht weinen, Thesi. Komm mit. Komm schon!« Sie ergriff eine schmächtige Hand und zog das Mädchen mit sich.
Nachdem sie sacht die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen hatte, schob sie die schluchzende Thesi zu ihrem Bett. »Setz dich.«
Dort legte sie ihr einen Schal um die Schultern und setzte sich neben sie. »Du musst nicht weinen, Thesi. Ich habe meinen Vater gefragt und du kannst hier bleiben. Wie alt bist du eigentlich?«
Sie nahm ein Spitzentaschentuch aus der Schublade ihres Nachtschränkchens und gab es der schniefenden Thesi.
Ehrfürchtig betrachtete das Mädchen das fein bestickte Tuch. »Nein, das ist viel zu schön.« Sie wollte es Dorle zurückgeben, doch die winkte ab.
»Ich habe Dutzende davon.« In Thesis Blick hatte sie Bewunderung, Angst und eine Regung, die sie nicht einzuordnen wusste, bemerkt. Neid war es nicht gewesen, eher Misstrauen.
Thesi tupfte sich vorsichtig Nase und Augen trocken. »Danke, Dorle. Du hast keine Ahnung, wie glücklich ich heute war, weil du mich eingeladen hast! Nach allem, weißt du … Es war schrecklich … Die Fahrt hierher, zu Hause, als sie meinen Vater abgeholt haben. Ich konnte nichts machen. Ich bin dreizehn. Niemand hört auf ein dreizehnjähriges Mädchen …«
Zaghaft legte Dorle den Arm um Thesi. »Hier tut dir keiner was, Thesi. Ich pass auf dich auf.« Von Wärme und Mitleid für dieses hilflose Geschöpf, das ihre Hilfe brauchte, überwältigt, drückte Dorle das Mädchen an sich. »Freundinnen. Sind wir Freundinnen, Thesi?«
Die beiden Mädchen sahen einander an und reichten sich die Hände. »Ewige Freundschaft. Nichts und niemand darf uns trennen«, sagte Dorle mit feierlicher Stimme.
Es flackerte ängstlich in Thesis Augen. »Müssen wir uns jetzt die Arme aufritzen?«
Dorle grinste. »Das machen nur dumme Jungs. Ich gebe dir mein Wort, Thesi. Und du gibst mir deins.«
Thesi nickte. »Freundinnen, auf Gedeih und Verderb.« Unter ihren seidigen Wimpern warf sie Dorle einen langen Blick zu. »Das bedeutet mir sehr viel, viel mehr als du ahnst, Dorle.«
Der Frühling hatte Einzug gehalten, die Eisschollen auf den Flüssen schmolzen, den Bäumen wurde zartes Grün an die Zweige gezaubert und die Vögel zwitscherten. Dorle und Thesi saßen nebeneinander auf einer Bank am Alsterufer und knabberten gebrannte Mandeln. In den vergangenen Monaten hatte man kaum eine von beiden allein gesehen. Sogar Dorles Mutter, die sich anfangs sehr gegen die ständige Anwesenheit des fremden Mädchens gesperrt hatte, fragte nun nach Thesi, wenn sie einmal nicht bei ihrer Tochter war. Herbert Arndt hatte darauf bestanden, dass das Blondchen, wie er Thesi freundlich nannte, mit Dorle die Schule besuchte. Wenn seine Tochter eine schwesterliche Freundin hatte, dann sollte die auch gesellschaftlich tragbar sein.
Thesis Locken waren gekürzt und zu ordentlichen Zöpfen frisiert worden. Ihre bleichen Wangen hatten Farbe bekommen und in Dorles abgelegten Kleidern, die Johanna abnähte, sah niemand dem Mädchen seine ärmliche Herkunft an.
»Sieh nur, Dorle. Ein Segler!«, rief Thesi, doch ihre Augen verdunkelten sich.
»Warum schaust du denn so traurig?« Dorle hatte sich inzwischen an die wechselnden Stimmungen ihrer Freundin gewöhnt. Meist war Thesi gut gelaunt und freute sich über alles, was Dorle ihr zeigte oder schenkte. Genauso schnell konnte sie jedoch in eine tiefe Melancholie verfallen, weinte und schämte sich dafür. Dorle versuchte, ihr zu entlocken, woher die Traurigkeit rührte, doch Thesi konnte verschlossen wie eine Auster sein. »Ist es wegen deinem Vater?«
»Ach, Dorchen. Weißt du, ich habe doch erzählt, dass er abgeholt wurde.« Thesi sprach leise und hielt die Augen auf das Segelboot gerichtet, das gemächlich seine Kreise auf der Alster zog.
»Er war lange krank. Das kann doch passieren. Jetzt pflegen sie ihn im Sanatorium. Du kannst das ja nicht machen und …«
»Nein, Dorle.« Thesi sah sie kurz an. »Er war schon oft im Sanatorium. Nur dieses Mal ist es für immer.«
»Wieso für immer? Wenn sie ihn gesund gemacht haben, kann er doch wieder nach Hause!«
»Jeden Sonntag hat mein Vater mich mit an den Hafen genommen. Wir haben uns die Schiffe angesehen. Er kannte alle beim Namen, wusste genau, wie schnell sie fahren können, wie viel Tonnen sie laden und welche Fracht da aus Argentinien oder vom Kap kommt. Sein ganzes Leben hat er auf der Werft gearbeitet. Er ist doch nicht verrückt!« Thesi presste eine Hand gegen ihre Lippen und eine Träne lief ihre Wange hinunter.
»Wieso verrückt? Ich denke, er ist krank?« Dorle wusste nur von einer entfernten Tante, über die eisern geschwiegen wurde, weil sie versucht hatte, sich und ihre Kinder anzuzünden.
»Ist man denn schon krank, wenn man traurig ist? Manchmal ist er ganz abwesend und spricht mit sich selbst, manchmal will er allein sein. Er weint dann viel und sagt zu mir ›Thesilein, jetzt hat der Vati seinen Weltschmerz. Das geht vorüber, bist ein liebes Mädchen.‹« Bei den letzten Worten brach Thesis Stimme und sie lehnte ihren Kopf an Dorles Schulter.
»Meine Mutter weint auch viel, wenn sie ihre Migräne bekommt. Aber deshalb muss sie nicht ins Sanatorium. In den Urlaub fahren wir oft, weil der Klimawechsel ihr gut tut.« Dorle schwieg und drückte Thesi beruhigend an sich.
»Mein Vater ist ein paar Mal verschwunden, auch als Mutter noch lebte. Manchmal drei, einmal fünf Tage. Mir haben sie nichts gesagt, aber ich habe gelauscht. Er wollte sich etwas antun. Der Arzt kam oft zu uns ins Haus und Vater muss Medikamente nehmen, aber die nimmt er nicht immer. Er sagt, die machen einen anderen Menschen aus ihm. Wenn er die einnimmt, spricht er langsam, ganz seltsam und bewegt sich merkwürdig. Aber zu mir hat er gesagt, dass er sich nie etwas antun wollte, schon meinetwegen nicht! Ich glaube ihm das, Dorle!«
Was sollte sie dazu sagen? Niemand würde wahrhaben wollen, dass die Eltern geistig nicht normal sind. »Aber vielleicht können sie deinem Vater in einem Sanatorium besser helfen.«
Thesi richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Die stopfen ihn mit Tabletten voll, bis er nicht mehr weiß, wer er ist. Ich habe das einmal gesehen. Meine Mutter hat mich damals mit in die Klinik genommen, in der er vier Wochen war. Bei unserer Ankunft saß er auf einem Stuhl und wippte vor und zurück. Mein Vater hat nichts gesagt und nur den Kopf geschüttelt, wenn Mutter versuchte, mit ihm zu sprechen. Ich habe gesehen, dass ihm der Speichel aus dem Mund lief. Das war schrecklich!«
»Aber wenn er das nicht will, die Tabletten, meine ich?«, fragte Dorle.
»Gegen die Ärzte kann man nichts machen. Die entscheiden das. Wir haben sonst keine Verwandten, die uns helfen würden. Nach Mutters Tod war ich mal ein halbes Jahr bei Tante Lotte in Bremen. Die hat mich nur den zusätzlichen Fresser genannt. Für mein Essen musste ich arbeiten, Kohle schleppen, Gemüsebeete jäten und umgraben, Brombeeren aus den stacheligen Büschen pflücken, feudeln, putzen …ach, alles eben. Wenn ich nicht getan habe, was sie wollte, hat sie gedroht, mich in die Anstalt zu schicken. Ich sei genauso verrückt wie mein Vater!«
»Aber …«, wollte Dorle einwenden.
»Lass gut sein, Dorle«, unterbrach Thesi sie schroff, änderte jedoch sofort ihren Ton. »Dass ich zu Tante Johanna durfte, war meine Rettung. Du warst da. So gut wie hier ging es mir noch nie! Ich meine, schau mich nur an. Ich habe wunderschöne Kleider, gehe auf ein Gymnasium, sitze mit dir an der Alster und esse Mandeln!«
Dorle erwiderte den enthusiastischen Händedruck. »Ja, wir haben es gut! Und weißt du, wenn du verrückt bist, bin ich es wohl auch!«
Die Mädchen lachten und fielen sich in die Arme. Die Tüte mit den Mandeln rollte von der Bank auf den Boden. Als Dorle sich danach bückte, war ihr schon jemand zuvorgekommen. Ein brauner Hemdsärmel schob sich in ihr Gesichtsfeld.
»Bitte sehr, gnädiges Fräulein. Was rausgefallen ist, lassen wir besser liegen. Dann haben die Tauben auch noch was davon.« Ein junger Mann in brauner Uniform reichte Dorle die Papiertüte mit dem verbliebenen Naschwerk.
»Oh …« Verlegen ergriff Dorle die Tüte.
Einige Schritte entfernt warteten weitere Uniformierte und grinsten. Einer sprach so laut, dass die Mädchen es hören konnten: »Schau mal das blonde Püppi. Wenn die soweit ist, wär ich gern dabei.«
Dorle fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Ob Scham oder Zorn überwogen, konnte sie nicht sagen, weil sie die anzügliche Bemerkung nur ansatzweise verstand. Abrupt stand sie auf und zog Thesi mit sich. »Komm, lass uns gehen.«
Das jüngere Mädchen drehte sich neugierig nach den Männern um, die in ihren braunen Uniformen und mit den hohen Stiefeln eine auffällige Erscheinung waren. »Wieso, was war denn?«
»Mal nicht so empfindlich, Fräuleinchen! Sie waren wohl in Potsdam nicht dabei?«, rief derjenige, der die Mandeln aufgehoben hatte, begleitet vom Gelächter seiner Kameraden.
Dorle beschleunigte ihren Schritt. Aus dem Alsterpavillon schallte Tanzmusik und sie entdeckte eine ganze Horde von braunen Uniformen. »Nachmittagstanztee. Gehen wir lieber rüber. Meine Mutter wird noch bei der Anprobe sein. Schauen wir halt zu.«
»Und was war in Potsdam? Sind das Polizisten?«, fragte Thesi.
Der Sieg der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen hatte alles verändert. Allerdings war von der anfangs euphorischen Stimmung im Hause Arndt nach den gewaltsamen Ausschreitungen von Hitlers Schlägertruppen in Berlin nichts mehr zu spüren. »Jetzt haben wir eine Diktatur«, hatte Dorles Vater eines Abends gesagt und zwei Gläser Cognac in einem Zug geleert.
»Der Tag von Potsdam, Thesi. Hedwig hat doch von der großen Feier erzählt mit den Aufmärschen, und die Prinzessin von Hohenzollern war in der Garnisonskirche«, sagte Dorle und sah sich nach den Uniformträgern um. Doch die schenkten einer Gruppe junger Mädchen vor einem Bootsverleih ihre Aufmerksamkeit.
»Hedwig hat wirklich Glück, dass ihr Vater so ein hohes Tier bei der Stadt ist. Die kommt überall hin. Ich möchte auch mal eine echte Prinzessin sehen«, sagte Thesi und schwenkte ihre Zöpfe.
»So hübsch soll die gar nicht gewesen sein. Vergiß nicht, was danach passierte! Hedwig war mit ihrer Mutter in Berlin unterwegs als ganze Horden von Braun-Hemden vor der Kroll-Oper aufmarschiert sind. Das sind keine Polizisten, Thesi, das ist die SA. Vor denen sollen wir uns in Acht nehmen, hat Vati gesagt. Mit denen ist nicht zu spaßen.« Hand in Hand liefen die Mädchen über die belebte Straße, welche die Alsterpromenade vom Jungfernstieg mit seinen vornehmen Geschäften trennte.
»Ach, das ist doch übertrieben. Ich finde die Feiern und die Fackelzüge und das alles ganz hübsch. Endlich ist mal was los! Schau, ist das nicht deine Mutter?«
Dorle folgte Thesis ausgestreckten Arm und sah ihre Mutter in ein Gespräch mit mehreren Frauen vertieft. Die Damen standen vor einem Juweliergeschäft. »Die Mütter von Renate und Hedwig sind dabei. Dann haben sie viel Geld ausgegeben. Für uns ist bestimmt auch etwas abgefallen.«
Die Augen des blonden Mädchens leuchteten. Wenn man etwas von Thesi wollte, brauchte man ihr nur ein hübsches Geschenk zu machen. Fast wie bei einem Hund, dachte Dorle und grinste. »Guten Tag! Hallo Mutter, wir dachten, du wärest noch in der Anprobe.«
Höflich begrüßte sie ihre Mutter und deren reiche Freundinnen. Die Damen schienen aufgekratzt und Erika wirkte nervös. »Gut, dass ihr da seid, mein Schätzchen. Wir fahren sofort nach Hause. Man hat den Laden der Weizmanns geschlossen! Stell dir das vor! Das ist doch ein Skandal! Sie schneidert die besten Kostüme, hat die feinsten Stoffe, übrigens auch von uns und …«
Hedwigs Mutter, Vera Engel, war eine große Frau mit langen vorstehenden Zähnen, die Dorle an ein Pferd erinnerten. »Jetzt sei um Himmels Willen nicht so laut, Erika. Es gibt genügend andere gute Schneiderinnen. Ich jedenfalls jammere nicht drum und mein Mann sagt, dass wir uns auch einen neuen Anwalt suchen. Wer will sich noch von einem Juden vertreten lassen …«
»Das finde ich aber auch!«, pflichtete die korpulente Gattin eines Reeders bei. »Wir müssen unsere Männer jetzt unterstützen und ein gesellschaftliches Zeichen setzen. Schließlich profitieren wir ja alle vom Erfolg unsere Göttergatten, oder nicht?« Ihr Lachen stieg scheppernd aus den Tiefen ihres enormen Resonanzraumes empor.
Erika Arndt zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Ihr habt ja Recht. Dorchen, lass uns noch rasch nach ein paar Ohrringen für dich schauen, ja? Dir fehlen noch welche, die zu deinem neuen Kleid passen. Thesi, für dich finden wir auch noch etwas.«
Aufgeregt hüpfte Thesi vor dem Juweliergeschäft von einem Bein aufs andere.
»Sei nicht so zappelig, das ziemt sich nicht für eine junge Dame«, wurde sie von Erika ermahnt.
»Ein reizendes Ding und die hübschen blonden Locken«, bemerkte Vera. »Da habt ihr euch eine nette kleine Freundin für Dorle ins Haus geholt. Obwohl …« Sie warf einen vielsagenden Blick in die Runde. »Man muss schon wissen, woher die Leute kommen.«
»Was willst du damit sagen, Vera?«, fragte Erika verärgert. »Thesi ist Halbwaise und die Nichte meiner Hauswirtschafterin.«
»Du kennst die Familie. Das ist gut. Nicht, dass man sich ohne es zu wissen, ein Kuckucksei ins Nest legt. Das könnte heutzutage bös auf einen zurückfallen.« Vera lächelte unschuldig und sah auf ihre goldene Armbanduhr. »Du meine Güte, ich muss eilen. Liebste Erika, es war wieder ein Vergnügen mit dir.«
Als Dorle kurz darauf neben ihrer Mutter im Juweliergeschäft vor einer Vitrine mit Ohrringen stand, fragte sie leise: »Was meinte denn Hedwigs Mutter mit Kuckucksei? Thesi kann doch nichts dafür, dass ihr Vater krank ist.«
»Nein, es geht um Leute wie die Weizmanns. Sie sind gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel. Obwohl das …« Erika unterbrach sich als ein Verkäufer zu ihnen kam.