Kapitel 2

Aus der Goebbelsschnauze, wie das Radio im Volksmund genannt wurde, plärrte ein Kinderchor ein Lied über eine Linde vor einem Tor. Dorle stellte das Gerät ab. »Das hält man ja nicht aus!«

Seit einigen Jahren verbrachten sie nun jeden Sommer an der Nordseeküste. Früher hatte Dorle sich gefreut, wenn es zu den Verwandten an die See ging. Aber da hatte sie auch noch Holzpantinen getragen und war auf dem alten Brauereipferd über die Felder zum Deich geritten. Inzwischen hatte sie das Gymnasium beendet, trug Riemchenpumps und hörte am liebsten Carlo Minari oder andere Swinggrößen und schwang dazu das Tanzbein.

»Wippel nicht so herum!«, fuhr Erika ihre Tochter an. »Nimm dir ein Beispiel an Thesi, die hält ihren Mittagsschlaf! Das einzig vernünftige, was man bei dieser Hitze tun kann. Wenn nur die schrecklichen Fliegen nicht wären …« Erika Arndt fächelte sich verzweifelt Luft mit einem Magazin zu.

Thesi lag in einem geblümten Badekostüm auf einer Sonnenliege. Ihr Gesicht wurde von einem Strohhut bedeckt, doch Dorle konnte sehen, wie die Mundwinkel ihrer Freundin zuckten.

»Und stell das Radio wieder an, Dorle. Gleich kommen die Nachrichten«, befahl Erika.

Murrend drehte Dorle den Schalter herum, stellte das Radio jedoch leise. »Wo ist eigentlich Johanna? Ich habe Durst!«

Sie befanden sich im Garten eines nordfriesischen Bauernhofes. Der alte Haubarg war mit Reet gedeckt und vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Hier im Norden, weit entfernt von der Hansestadt und ihrem großen Hafen, in dem alles auf einen Krieg hindeutete, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Außer dem Gackern der Hühner, dem Brüllen der durstigen Kühe oder dem Bellen des Hofhundes störte nur das Radio das Idyll.

Der Hof gehörte Herbert Arndts Cousin, Klaus, einem lebenslustigen Mittvierziger, der sich der Jagd und dem schönen Geschlecht verschrieben hatte. Letztere Passion war seiner Gattin ein Dorn im Auge und machte die Feriengäste des Öfteren zu unfreiwilligen Zeugen handfester Ehestreitigkeiten. Thesi rekelte die schlanken Glieder auf der Liege und schob den Hut aus dem Gesicht. »Lass uns Limonade holen gehen, Dorle.«

Dorle steckte ihre Sonnenbrille ins Haar und bewunderte Thesis geschmeidige Bewegungen. Aus dem zarten Mädchen war eine anmutige junge Frau geworden, doch Dorle war keineswegs eifersüchtig auf die Schönheit ihrer Freundin. Thesi stand ihr näher als irgendein anderer Mensch. Mit ihr verband sie eine tiefe, unverbrüchliche Freundschaft, die von Loyalität und Ehrlichkeit geprägt war. Schneeweißchen und Rosenrot, sagten die Leute manchmal, wenn sie die beiden jungen Frauen nebeneinander stehen sahen. Weiche blonde Locken umrahmten Thesis Puppengesicht mit großen grünen Augen, die voller Neugier und Unschuld schienen. Ihr Mund, die Bewegungen, alles an ihr war sanft und weich und zog die Männer an wie die Motten das Licht. Daneben wirkte die dunkelhaarige Dorle mit ihrem spitzen Kinn, den hellen Augen, die keine Regung verrieten, und dem vom frühen Ballettunterricht gestählten Körper fast androgyn.

Dorle trug ein hellblaues Wickelkleid und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. »Hinter der Scheune sieht uns keiner.«

Kichernd zog sich Thesi eine Zigarette aus der Schachtel und klemmte sie sich zwischen die Lippen. Vor einem offenen Fenster des Haubargs blieb sie stehen. »Dorle, komm her!«, flüsterte sie.

Aus dem Hausinnern klangen verräterische Laute. Jemand stöhnte und eine Frau seufzte. Die Freundinnen lugten vorsichtig in die Kammer. Mit dem Rücken zu ihnen saß der Bauer auf einem Stuhl und hielt mit beiden Händen die Hüften einer Magd, die sich rhythmisch auf ihm bewegte.

»Der lässt wirklich nichts anbrennen. Das gibt Ärger!«, unkte Dorle.

»Es scheint ihr Spaß zu machen. Sollten wir es nicht auch mal ausprobieren?«, flüsterte Thesi und starrte fasziniert auf das Paar im Halbdunkel des Raumes.

Dorle duckte sich unter dem Fenster hindurch und lief über den Hof zur Scheune. Als Thesi sie einholte, waren deren Wangen leicht gerötet. »Komm schon, Dorle, alle tun es, selbst die Ziegen und die Pferde machen es gern. Hast du gestern den Hengst gesehen, ich meine …« Thesi machte eine unmissverständliche Bewegung.

»Hör auf damit! Ich will nicht von irgendeinem Bock besprungen werden! Hast du mal überlegt, was passieren kann?« Dorle ließ ihr Feuerzeug aufschnappen und zündete sich eine Zigarette an. Mit geschlossenen Augen inhalierte sie den ersten Zug und ließ langsam den Rauch aus ihren Lungen.

»Ich will es ja nur testen. Man muss doch wissen, was da auf einen zukommt, wenn man heiratet.« Thesi beugte sich vor und hielt ihre Zigarette an die Glut. Sie lehnte sich an die hölzerne Scheunenwand und beobachtete die Kühe, die träge über die Weide schritten und jedes ausgerissene Grasbüschel mit Hingabe kauten. Dicke blaue Fliegen saßen auf dem verwitterten Gatter und neben einem Strohballen hatte sich eine Katze eingerollt. »Aber wahrscheinlich heirate ich gar nicht.«

»Warum nicht? Was willst du sonst machen? Arbeiten?«, fragte Dorle erstaunt.

»Leben, mich amüsieren. Mein Gott, wir sind nur einmal jung. Und mal ehrlich, Dorle, wenn wir beide heiraten, glaubst du, dass wir uns dann noch oft sehen?« Thesi legte den Kopf schief und schaute Dorle direkt an.

Deshalb waren sie sich so nah, dachte Dorle, deren Gedanken in letzter Zeit oft ähnliche Wege gingen. Sie lächelte. »Niemand wird uns trennen.«

Sie wandte sich den Pferden zu und stellte einen Fuß auf das Gatter. »Wenn du’s ausprobierst, musst du mir genau erzählen, wie es ist.«

Warmer Zigarettenrauch traf Dorles Nacken. »Du kannst zusehen, wenn ich es tue.«

Dorle lachte leise. »Das Gesicht eines Engels und eine schwarze Seele.«

»Wir sind Seelenverwandte oder nicht?«

Als Dorle den Kopf drehte und in Thesis unergründliche Augen schaute, erschauerte sie.

Die Sommerhitze hielt sich noch drei Tage. Prasselnde Gewitterregen schenkten Natur, Vieh und Mensch eine erholsame Pause und ein Großereignis versprach zusätzliche Ablenkung. In der nahen Kreisstadt Husum war Viehmarkt! Der Husumer Viehmarkt war der größte Deutschlands und nicht nur für Viehhändler und Landwirte ein wichtiges Ereignis. Die gesamte Stadt schien an solchen Tagen aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen und verwandelte sich für kurze Zeit in einen einzigen großen Markt. In den Gaststätten wurde getafelt, die Händler und Käufer feierten ihre erfolgreichen Geschäfte und von überall kamen die Leute, um sich die Rinder, Ziegen, Schafe, Kaninchen und was sich sonst noch ausstellen ließ, anzuschauen.

Klaus Arndt stand mit einem selbstgefälligen Grinsen in seinem Sonntagsanzug neben seinem auf Hochglanz polierten Automobil. Als er Erika und die Mädchen sah, stieß er einen anerkennenden Pfiff aus. »So schmucke Deerns! Dass ihr mir nicht unter die Räder kommt …«

»Bitte, Klaus, nicht solche Scherze. Ich habe die Verantwortung für die Mädchen«, konstatierte Erika und warf Thesi einen strafenden Blick zu. »Leg dir das Tuch um die Schultern. Der Ausschnitt ist reichlich frivol.«

»Das ist jetzt Mode, Mutter. Hätte ich so einen schönen Busen, wie Thesi, dann würde ich es auch tragen. Aber ich bin flach wie ein Brett, da guckt eh keiner hin«, meinte Dorle.

Klaus Arndt, ein muskulöser Hühne ohne erkennbare Ähnlichkeit mit seinem Bruder Herbert, hielt den Damen die Wagentür auf. »Auf jeden Topf passt ein Deckel, mien Deern.«

Als Thesi einstieg, ließ Klaus seine Hand länger als nötig auf ihrer Hüfte liegen und Erika drängte sich dazwischen. »Unverbesserlich. Fragt sich, auf wen ich aufpassen sollte. Warum kommt deine Frau nicht mit, Klaus? Ein wenig Abwechslung würde ihr gut tun.«

»Einer muss sich ja um den Hof kümmern, während ich weg bin. Viehmarkt ist Männersache. So, einsteigen und los geht’s!« Klaus schlug die Tür des dunkelblauen Opel zu. Er wechselte ständig vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche und Dorle amüsierte sich über ihre Mutter, die über die derben Scherze des Schwagers die Nase rümpfte.

Überhaupt war Erika schwermütiger geworden und ihre Mirgräneanfälle häuften sich. Vielleicht hing es mit den ernsten Gesprächen zusammen, die ihre Eltern nun oft hinter verschlossenen Türen führten. Doch auf ihre Nachfragen erntete Dorle nur eisiges Schweigen oder Ausflüchte. Die Mädchen saßen mit Johanna auf der Rückbank, Erika vorn neben ihrem Schwager. Johanna trug ihre Haare wie immer streng aufgesteckt. Der einzige Hinweis auf den Festtag war eine goldene Brosche an Johannas grauem Kostüm.

Dorle klappte ihre Handtasche auf und fluchte leise. »Ich habe mein Feuerzeug vergessen.«

»Das Rauchen ist eine fürchterliche Angewohnheit, Dorle! Nicht genug, dass dein Vater diese grässlichen Zigarren … «, beschwerte sich Erika und hielt sich am Armaturenbrett fest, weil Klaus hinter einem Traktor in die Bremsen ging. »Himmel, pass doch auf!«

»Habe ich doch, sonst wären wir hinten drauf gefahren.« Klaus steckte den Kopf zum Fenster hinaus und brüllte dem Fahrer des Traktors zu: »Peter, wir sehen uns gleich in der Stadt! Mein Bulle gewinnt!«

Dann trat Klaus aufs Gaspedal und schoss auf der schmalen Fahrbahn an dem laut hupenden Traktor vorbei. »Ich habe eine Wette laufen mit Peter. Wer den höchsten Preis für seinen Bullen erzielt, zahlt heute Abend alles! Ha, der kann sich schon mal freuen und seine Börse locker machen. Ist kniepig, der Bursche!«

Dorle, die zwischen Thesi und Johanna saß, beobachtete, wie die Hausangestellte einen zerknitterten Brief aus ihrer Tasche zog. »Was hast du da, Johanna? Doch keine schlechten Nachrichten?«

»Nein, ach …« Unglücklich strich die Ältere den Brief auf ihrem Schoß glatt.

»Ist es wegen Vater, Tante?« Im Umgang mit ihrer Tante pflegte Thesi einen besorgten und gleichzeitig leicht herablassenden Ton.

»Es ist ja schwierig mit ihm. Ich weiß das wohl. Und da ist sicher alles zu seinem Besten. Aber nun ist er nach Pirna verlegt worden. Da haben sie eine Heilanstalt in einem Schloss. Sonnenstein heißt das. Ist wohl besser für ihn da, aber so weit fort.« Johanna schüttelte unglücklich den Kopf und reichte Thesi abwesend den Brief. »Wie sollen wir denn da hinkommen, wenn wir ihn besuchen wollen …«

»Pirna. Wo liegt das überhaupt?«, fragte Dorle.

»An der Elbe, bei Dresden«, rief Klaus und drehte dabei den Kopf nach hinten, was Erika zu hektischen Bewegungen veranlasste. »Schon gut, Schwägerin, habe alles im Griff.«

»Ich verstehe das nicht!« Thesi hob die Augen von den knappen Zeilen auf der formellen Benachrichtigung. »Er war doch gut aufgehoben. Was soll das? Warum machen die sich plötzlich soviel Mühe mit einem Patienten, der keine Mittel hat. Oder habt ihr …?« Fragend sah Thesi von Dorle zu deren Mutter.

»Nein! Mutter, habt ihr Thesis Vater verlegen lassen?« Dorle konnte sich das nicht vorstellen, denn es gab keinen Grund, nicht darüber zu sprechen.

»Natürlich nicht! Wir mischen uns nicht in Johannas Angelegenheiten. Das haben wir noch nie getan, nicht wahr, Johanna?«, erwiderte Erika entrüstet.

»Nein, Frau Arndt. Nur bei Thesi haben Sie eine Ausnahme gemacht und dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.« Johanna nahm Thesi den Brief ab und faltete ihn sorgsam zusammen. »Es passieren viele merkwürdige Dinge in letzter Zeit. Ich habe Angst, Frau Arndt. Manchmal wache ich nachts auf und will schreien, aber ich habe keine Stimme. Das ist nicht gut, was in diesem Land vor sich geht, nein, nein …«

»Beruhige dich, Johanna. Alles wird sich klären und heute wollen wir einen schönen Tag in der Stadt verbringen. Verdirb den Mädchen nicht die Laune«, ermahnte Erika sie.

»Soweit ist Dresden ja gar nicht weg. Da nehmen Sie sich mal zwei Tage frei und besuchen Ihren Mann, Johanna«, schlug Klaus vor.

»Mein Bruder, Herr Arndt. Der Friedrich ist mein Bruder und der Vater von der Thesi.« Johanna starrte düster vor sich hin und weder Thesi, noch Dorle vermochten die verstörte Hauswirtschafterin aufzumuntern.

Sie fuhren auf einer schnurgeraden Straße nach Husum hinein und mussten mehr als einmal einem Viehtreiber und seinen Tieren ausweichen. »Da vorn seht ihr den Jägerkrug«, erklärte Klaus. »Die Straße hier gehört zum alten Ochsenweg. Da wurden früher die Tiere von Jütland bis an die Elbe runtergetrieben. Überall gab es Gasthöfe für die Treiber. So eine Ochsentrift bestand meist aus einhundert bis zweihundert Tieren. Zwei Wochen brauchte man damals von Nordjütland nach Husum. In besten Zeiten wurden fünfundzwanzigtausend Rinder und dreißigtausend fette Schafe auf einem Viehmarkt verkauft!«

Sie hatten die Stadtgrenze erreicht und fuhren nun Schritttempo, denn Straßen und Gehwege waren angefüllt mit Rindern, Treibern und Leuten im Festtagsstaat. Der Viehmarkt selbst fand auf der Neustadt statt und als die Damen ausstiegen und den riesigen Platz mit tausenden von Rindern sahen, waren sie überwältigt.

Klaus parkte seinen Opel und kam in einem schneeweißen Kittel zu ihnen. »So, jetzt wird gehandelt und dann wird gefeiert!« Er lachte und rieb sich die Hände.

Dorle kannte die Prozedur der Kaufgespräche von früheren Besuchen und war jedes Mal aufs Neue überrascht. Die Händler stachen in ihren weißen Kitteln aus der Menschen- und Tiermasse hervor, wie Senfeier im Spinat. Aber das war wohl der Sinn der Kittel. Verhandelt wurde lautstark, wortreich und mit großer Ernsthaftigkeit. Beschlossen wurden die Geschäfte per Handschlag. Der galt mehr als der Papierkrams, wie Klaus zu betonen pflegte.

Von den Leibern und den Ausscheidungen der Tiere stiegen Wärme und strenge Gerüche auf. Die Luft war noch feucht vom vorangegangenen Gewitter und die Temperaturen kletterten auf dem Thermometer bereits wieder in die Höhe.

»Ich halte das hier nicht lange aus, Dorle!« Stöhnend fächelte Thesi sich Luft mit einem Blatt zu, das sie aus einem Korb gefischt hatte.

Eine Gruppe junger Männer kam an ihnen vorbei. » …Rödemis und Osterhusum werden eingemeindet und die Kaserne wird gebaut«, sagte einer.

»Dann bauen sie auch den Flugplatz, werdet schon sehen.«, meinte ein anderer.

Dorle schaute zu ihrer Mutter, die ebenfalls nach einer Möglichkeit, dem Gestank und dem Gedränge des Marktes zu entkommen, Ausschau hielt. »Was hat das zu bedeuten, Mutter?«

»Ach, gar nichts weiter. Es geht sicher um finanzielle Zuwendungen. Eine Stadt muss über eine gewisse Einwohnerzahl verfügen, um Anspruch auf staatliche Baumaßnahmen zu haben. Gott, ist das heiß! Wir gehen jetzt einkaufen und dann in ›Hensens Garten‹. Da können wir älteren Damen im Schatten Tee trinken und ihr könnt tanzen. Die Kapelle soll passabel sein«, beschloss Erika Arndt und dirigierte die kleine Gruppe in Richtung Innenstadt. »Johanna, jetzt mach nicht so ein Gesicht.«

»Ist Recht, Frau Arndt.« Ein Lächeln war Johanna Pape jedoch nicht zu entlocken. Als eine Gruppe grölender SA-Männer, eine Hakenkreuzfahne schwenkend, auf sie zuhielt, sprang Johanna verschreckt zur Seite.

»Reiß dich am Riemen, Johanna.«, zischte Erika.

»Deine Tante wird immer seltsamer. Sie war nie verheiratet, oder?«, fragte Dorle leise, während sie die Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes betrachteten.

»Nein. Sie hat ja auch noch ihren Mädchennamen, Pape, genau wie ich. Scheußlicher Name, findest du nicht? Ich glaube, wenn ich mal heirate, dann nur, weil ich einen schönen Nachnamen haben möchte.« Thesi grinste und warf kokett die Haare zurück. »Weißt du, so einen Namen, der nach was klingt.«

»Mir ist das egal. Mein Mann muss etwas darstellen. Aber wir haben noch so viel Zeit!« Dorle ergriff Thesis Hand. »Komm, jetzt kaufen wir die hübschen Tücher dort.«

Während sie die bunten Seidenschals begutachteten, stand Johanna mit finsterer Miene an der Tür. Thesi nahm ein tannengrünes Tuch und ging damit zu ihrer Tante. »Das ist doch hübsch. Gefällt es dir? Wir schreiben Vater gleich morgen und dann besuchen wir ihn in Pirna.«

»Hübsch, jaja.« Abwesend strich Johanna über die Seide und schaute durch das Fenster auf die Straße, wo Mädchen der Hitlerjugend in weißen Kleidern Spendenbüchsen schwenkten.

Hensens Garten war eine Gaststätte in der Nordbahnhofstraße. Wenn nicht gerade Markttag war oder eine Festlichkeit gefeiert wurde, fanden hier Versammlungen statt. Heute jedoch war der Garten mit Lampions und Lichterketten geschmückt, auf einer Holzbühne spielte eine Kapelle traditionelle Tanzmusik und vor dem Getränketresen drängten sich die Durstigen. Auf einigen Tischen standen Reservierungsschilder und Erika Arndt sah sich hilfesuchend nach einem Kellner um.

»Wenn es den Damen nichts ausmacht, wäre es mir eine Freude, Sie an meinem Tisch begrüßen zu dürfen.« Ein Offizier hatte sich bei ihrem Anblick höflich erhoben. Er saß allein an einem großen Tisch.

Dorle musterte den hochgewachsenen Mann. Sein schmales Gesicht war blass, die Augen lebhaft und ein humorvoll spöttischer Zug charakterisierte seinen Mund. Kein typischer Soldat, dachte sie, eher ein Träumer.

»Danke, das ist ganz reizend von Ihnen …?« Fragend schaute Erika Arndt ihren Tischherrn an.

»Pardon. Bergemann. Major Victor Bergemann«, stellte er sich vor und winkte einem der Kellner. »Champagner für alle, bitte. Die Karte. Haben Sie Hunger oder eher nicht? Die Hitze ist erdrückend.«

Die Frauen setzten sich, stellten sich ebenfalls vor und waren für den schattigen Platz dankbar. Nach einem Schluck eisgekühlten Champagners taute die reservierte Erika auf. »Bergemann scheint mir kein hiesiger Name. Ihre Anwesenheit hier im Norden hat eventuell mit dem geplanten Flugplatz zu tun?«

»Ganz richtig. Husum ist jetzt Garnisonsstadt und wir quartieren derzeit sechstausend Soldaten hier ein.« Der etwa dreißigjährige Major warf einen flüchtigen Blick in die Speisekarte. »Gemüseeintopf oder ein Schnitzel. Haben die Damen Appetit?«

»Meine Güte, wo sollen denn so viele Soldaten untergebracht werden?«, fragte Dorle.

Johanna murmelte vor sich hin und schüttelte immer wieder ihren Kopf.

»Wir bauen Kasernen. Bevor die fertig sind, werden Quartiere gefunden. Das bringen große Unternehmungen so mit sich.« Victor bemerkte mit einem Seitenblick auf Johanna: »Geht es ihr nicht gut?«

Thesi lächelte entschuldigend und hatte sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit des Offiziers. »Meine Tante hat heute einen Brief mit unerwarteten Nachrichten erhalten. Im Grunde betrifft er uns beide, denn mein Vater wurde in ein Sanatorium nach Pirna verlegt und das scheint uns doch sehr weit weg von Hamburg.«

»Sie kommen aus Hamburg?«, fragte Victor und fuhr auf das einstimmige Nicken der Damen fort: »Mütterlicherseits komme ich aus Glücksstadt. Hamburg ist mir sehr vertraut. Den größten Teil meiner Jugend verbrachte ich in Frankfurt. Nach Pirna, sagten Sie? Nun, derzeit wird vieles neu geordnet. Wir befinden uns im Umbruch.«

»Was sagen Sie zum Husumer Viehmarkt?« Erika schien die Richtung nicht zu gefallen, die das Gespräch nahm. »Mein Schwager züchtet Shorthornrinder.«

»Ich habe noch nie so viele Rinder auf einem Patz gesehen. Schade nur, dass keine Pferde zu sehen sind, die hätten mich mehr interessiert.«, sagte Victor.

»Pferdemarkt ist erst im Herbst. Sie reiten?« Erika sah missbilligend zu, wie Dorle ihre Zigaretten hervorholte.

»Leidenschaftlich gern. Es gibt nur zu wenige Gelegenheiten. Darf ich Ihnen Feuer geben, Fräulein Arndt?«

Dorle berührte beim Entzünden der Zigarette am silbernen Feuerzeug leicht die Hand des Majors und spürte, wie Thesi sie unter dem Tisch anstieß. Dieser Tag versprach weitaus mehr als sie noch am Morgen gedacht hatte.

Alle bestellten Schnitzel mit Wurzelgemüse und waren noch am Essen als Major Bergemann einem Soldaten winkte, der suchend auf der Terrasse stand. »Wachtmeister Müller, darf ich Ihnen meine charmante Runde vorstellen?«

Der rundliche kleine Mann, dessen Uniform ihn, genau wie seinen Vorgesetzten, als zu den Fallschirmjägern gehörig auswies, salutierte höflich, schien aber mehr an den Schnitzeln als an den Damen interessiert.

»Na, komm, setzen, Fritz, ich bestell noch eine Portion.«, schlug Bergemann jovial vor.

»Das nenn ich anständig, Herr Major. Bei den ganzen Viechern, die man draußen laufen sieht, kriegt man ja gehörig Appetit.« Der Wachtmeister legte seine Mütze auf die Knie und kratzte sich den kahl rasierten Schädel. Als der Kellner mit einem Tablett voller Bierkrüge vorbeilief, griff der Soldat sich schnell einen vollen Krug.

»So geht das aber nicht!«, beschwerte sich der Kellner, dessen Tablett bedenklich schwankte.

»Nu mal langsam, das geht schon, Freundchen! Heil Hitler!« Müller hob den Krug und prostete dem Kellner zu, der sich wortlos umdrehte. »Na, Madamchen, was ist Ihnen denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«, wandte sich Müller an Johanna, die mit ausdrucksloser Miene in ihrem Essen herumstocherte.

Bevor Johanna etwas sagen konnte, wandte Erika sich an den Vorgesetzten des Wachtmeisters. »Sind Sie mit Pferden groß geworden, Herr Major, oder woher rührt die Leidenschaft fürs Reiten?«

Bergemann legte sein Besteck ab und wischte sich mit einer Serviette die Mundwinkel sauber. »Wir haben ein Gut bei Stettin. Meine Mutter liebt es urbaner und deshalb sind wir später nach Frankfurt umgezogen.«

»Und was bevorzugen Sie? Stadt oder Land?«, fragte Dorle. Der Major war kein Träumer, korrigierte sie sich, aber auch kein typischer Militarist. Zumindest nicht so ein dreister Kerl wie dieser Müller. Sie verabscheute diese ungehobelten Klötze, die sich in ihrer Uniform allmächtig fühlten.

»Kommt ganz darauf an. Beides hat seine Vorzüge. Letztlich entscheidet die Gesellschaft, in der man sich befindet.« Sein Lächeln war einnehmend.

Die Kapelle spielte einen Walzer und Thesi wippte mit einer Fußspitze. Sehnsüchtig schaute sie zur Tanzfläche, die sich langsam füllte. Ein warmer Lufthauch ließ die Lichterketten in den Bäumen hin- und herschwingen. Im Zwielicht der Dämmerung strömten mehr und mehr Besucher in den Garten. Auffällig viele Uniformen waren vertreten und die einheimischen Burschen hockten mit missmutigen Mienen über ihren Gläsern. Auf die ländliche Damenwelt machten Schulterstücke und Tressen großen Eindruck.

Wachtmeister Müller spülte sein Schnitzel mit einem zweiten Bier hinunter und erhob sich. »Und nun ein Verdauungstänzchen. Darf ich bitten?« Das Selbstbewusstsein des korpulenten Wachtmeisters war so ausgeprägt, dass er eine Ablehnung nicht in Betracht zu ziehen schien.

Thesi starrte überrascht auf die fordernd ausgestreckte Hand. »Das ist sehr freundlich, aber …«, stotterte sie und sah verlegen zu ihrer Freundin.

»Wir warten noch auf unser Dessert, Herr Müller«, sagte Dorle und streichelte Thesis Arm.

Der Abgewiesene schnaufte, strich seinen kleinen Schnauzer glatt und schlug zackig die Hacken zusammen. »Dann entschuldigen Sie mich.« Energisch steuerte auf eine weniger hübsche, aber tanzwillige junge Frau an einem Nebentisch zu.

»Danke«, flüsterte Thesi ihrer Freundin ins Ohr und ihre Lippen streiften Dorles Haut.

Der Major beobachtete die beiden Frauen und ließ sein Feuerzeug auf und zu schnappen. »Wo logieren Sie mit Ihrer Familie, Frau Arndt?«, wandte er sich an Erika, die sich Luft mit einer Speisekarte zufächelte.

»Auf dem Hof meines Schwagers. Er züchtet Rinder und Pferde, deshalb sind wir heute hier. Er will einen preisgekrönten Bullen verkaufen.« Erika senkte ermattet die Karte. »Diese Hitze ist unerträglich, aber in Hamburg ist es noch schlimmer. Ich werde einen größeren Springbrunnen in unserem Garten bauen lassen. Dann hat Alfred endlich eine große Aufgabe.« Erklärend fügte sie hinzu: »Alfred ist unser Gärtner, ein fähiger Mann. Er hat eine Oase der Erholung aus einem Acker gemacht.«

Johanna sah kurz auf, sagte aber nichts.

»Warum bauen wir keinen Swimmingpool? Die Hermanns und die Vogts haben auch schon einen!«, sagte Dorle.

»Neureiche Emporkömmlinge. Ein Pool ist so ordinär, nein, wir werden einen Springbrunnen bauen, so wie in den alten Gärten der Medici.« Erika winkte einem Kellner. »Bringen Sie mir eine Schale mit Eiswürfeln.«

»Haben Sie ein besonderes Faible für das Italienische?«, fragte Victor Bergemann.

»Wollen Sie damit andeuten, dass ein germanisches Erdloch passender wäre?«, erwiderte Erika scharf, hielt sich jedoch sofort die Schläfen und verzog leidend den Mund.

»Hast du deine Tabletten dabei?«, fragte Dorle und war erstaunt, dass ihre Mutter derartig abweisend reagierte.

»Ja, nein, die Eiswürfel werden helfen. Wo bleibt denn der Kellner?«, fauchte Erika.

Victor Bergemann erhob sich und ließ das silberne Feuerzeug in seine Uniformtasche gleiten. »Ich kümmere mich darum. Übrigens bin ich ganz Ihrer Meinung, Frau Arndt. Ich halte die italienische Kultur der unseren für überlegen. Nur äußern Sie das nicht in Gegenwart von Wachtmeister Müller. Der hätte dafür kein Verständnis.« Der Major deutete mit dem Kopf in Richtung Tanzfläche, wo Müller der Schweiß in den Kragen lief, während er einer kräftigen Brünetten auf die Füße trat.

»Was für ein reizender Mann! Wer hätte das gedacht!« Erika entspannte sich als Bergemann außer Hörweite war und winkte den Mädchen, sich vorzubeugen. »Dorchen, wir sollten ihn einladen. Was hältst du davon?«

»Nichts. Ich weiß genau, was du vorhast, aber ich bin nicht interessiert.« Unter dem Tisch drückte Thesi ihren Schenkel gegen Dorles Bein.

»Schön, dann werde ich das in die Hand nehmen«, beschloss Erika, den Protest ihrer Tochter ignorierend. »Herbert wird ihn überprüfen lassen. Heutzutage kann man ja nicht vorsichtig genug sein. Außerdem kenne ich dich, Dorle. Der Mann interessiert dich.«

»Lass mir doch wenigstens die Illusion, dass ich eine einzige wichtige Entscheidung in meinem Leben selbst treffe, Mutter.« Zorn flammte in Dorles Augen auf als sie heftig mit der Hand auf den Tisch schlug.

»Du bist eine Arndt, Dorle!«, zischte Erika. »Du hast Verpflichtungen. Das eine ist, was man will, das andere, was man muss. So ist das nun einmal. Geht es dir nicht gut? Entbehrst du etwas? Sieh dich mal um, Dorle. Es hat sich einiges geändert, auch wenn wir das nicht so spüren. Ohne die richtigen Kontakte und Freunde verschwindet man ganz schnell. Hast du mal überlegt, wie sich die Vogts das alles leisten können? Er ist Schlachter!«

»Ein Portion Eis, direkt aus der Arktis.« Schwungvoll stellte Victor Bergemann die Schüssel mit dem ersehnten Gefrorenen vor Erika auf den Tisch. »Möchten die Damen …«

Weiter kam Victor nicht, denn Dorle stand auf. »Entschuldigt mich, bitte.«

»Mich auch, pardon.« Thesi folgte ihrer Freundin und schlang den Arm um Dorles Hüfte. »Komm schon, sei nicht wütend auf deine Mutter. Irgendwie hat sie ja Recht. Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Das kann einem schon Angst machen. Die Leute sind so aufgedreht, dann wieder aggressiv. Alles ist so übertrieben, so irreal. Lass uns das Leben auskosten, Dorle. Morgen ist Morgen und heute sind wir hier. Ich muss dir was zeigen.« Thesi sah sich um. Sie waren in die Gastwirtschaft gegangen. Überall drängelten sich Besucher und Kellner mit Tabletts voller Gläser und Speisen. Neben den Schwingtüren zur Küche befand sich ein kleiner Korridor, der zu den Toiletten führte. Davor stand eine Telefonkabine, deren Tür Thesi aufzog. »Komm schon.«

»Ist das heiß hier drinnen!« Dorle wischte sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn.

»Tataa!« Triumphierend holte Thesi eine kleine Pappschachtel aus ihrer Handtasche. Der Schriftzug auf der grünweißen Schachtel lautete ›Fromms‹.

»Mensch, Thesi, was ist denn das?«, fragte Dorle genervt.

»Das sind Überzieher, du Gänseblümchen.« Thesi fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und strich sich eine verklebte Locke aus der Stirn. »Ich will’s wissen. Du nicht auch?«

Dorle öffnete die Schachtel und zog ein flaches Papiertütchen heraus. »Hygienischer Gummischutz«, las sie laut.

»Pack wieder ein. Die sind teuer! Aber ich habe so meine Quellen. Heute Nacht, Dorle. Da sind sowieso alle betrunken.«

Dorle schaute zweifelnd. »Na, dann wird es wohl nichts …«

»Lass mich mal machen. Jörg, der Knecht, du weißt schon, der mich immer so anschaut. Der wartet heute in der Scheune auf uns.«

»Auf uns?« Entsetzt starrte Dorle auf das Päckchen in ihrer Hand und stopfte es schnell in Thesis Handtasche. »Wenn meine Mutter davon erfährt …«

»Wird sie ja nicht. Er weiß nichts von dir, du wirst dich vorher in der Scheune verstecken. Komm schon, Dorle, das wird unser Geheimnis. Außerdem bin ich für deine Mutter fast unsichtbar.«

Auf Thesis Oberlippe hatte sich ein feiner glänzender Film gebildet. Schweißtropfen rannen Thesis Hals hinunter, sammelten sich oberhalb der Schlüsselbeinknochen und verliefen von dort über die seidige Haut ihrer weiblichen Rundungen. Unbewusst war Dorle ihren Gedanken mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand gefolgt. Als sie die Augen hob, begegnete sie Thesis sphinxhaftem Lächeln. »Ich will dich nicht verlieren«, flüsterte Dorle heiser.

»Wir haben geschworen. Nur der Tod kann uns trennen.« Es blitzte schelmisch in den unergründlich grünen Augen von Theresa Pape.

Dorle drückte die Tür nach außen auf. »Nur der Tod.« Aber sie lächelte nicht.

Die Stunden bis zu jener bedeutungsvollen Verabredung in der Arndtschen Scheune vergingen wie in einem zu langsam abgespielten Film. Dorle ertappte sich öfter dabei, wie sie den Gesprächen der anderen zwar lauschte, aber kein Wort verstand. Ihr gesamtes Denken kreiste um das, was Thesi geplant hatte. Ihre Freundin, ihre geliebte Thesi, würde ihren Körper von einem Fremden berühren lassen und mehr noch. Dorle nahm einen Eiswürfel und strich damit über ihr Dekolletee. Vielleicht würde die körperliche Vereinigung mit einem Mann Thesi verändern? Sie ihr entfremden. Es war unausweichlich. Das wusste sie. Thesi wollte diese Erfahrung machen. Darin unterschieden sie sich. In diesem einen Punkt waren sie von Anfang an gegensätzlicher Meinung gewesen. Aber seit sie Thesi gesehen, ihren Duft geatmet, ihre samtweiche Haut gefühlt, ihre Hand umschlossen und das Mädchen in ihre Obhut genommen hatte, seit ihrem fünfzehnten Geburtstag wusste Dorle, dass sie Thesi liebte.

Über die Art ihrer Liebe hatte sie sich lange keine Gedanken gemacht. Das hübsche blonde Mädchen mit dem Madonnengesicht hatte sich ihr vertrauensvoll angeschlossen. Dorle hatte sie angezogen, wie man eine Puppe ankleidet. Johanna hatte jedes alte Kleid, das sie ihr gab, umgeändert. Manchmal beschwerte die Tante sich, kehrte die Angestellte heraus und betonte, dass Thesi nicht Dorles Schwester sei. Jeder müsse wissen, wo sein Platz im Leben sei, pflegte Johanna zu sagen. Dorle fand, dass Thesi an ihre Seite gehörte. Was sollte das dumme Gerede? Ihre Eltern hatten genügend Geld. Wen störte es, ob ein kleines Mädchen, das kaum mehr aß als ein Spatz, bei ihnen wohnte?

Letztlich hatte sogar Erika eingesehen, dass Thesi eine Bereicherung für die Harmonie innerhalb der Familie war. Ihr Vater fand das Blondchen entzückend. Dorle wäre eifersüchtig gewesen, wenn Thesi sich deshalb aufgespielt oder Herberts Großzügigkeit ausgenutzt hätte, doch das tat sie nicht. Für diese Loyalität schätzte Dorle ihre Freundin umso mehr und überhäufte sie ihrerseits mit Geschenken.

»Dorchen, wir wollen losfahren! Was bist du nur für eine Träumerin! Hast Du Dich auch nett von dem Herrn Major verabschiedet?«, rief Erika aus dem Wagen, der vor der Gastwirtschaft parkte.

Dorle verdrehte die Augen. Der Major war auch nur hinter ihrer Mitgift her. Es war kurz vor Mitternacht und Klaus saß mit gerötetem Gesicht und stolzgeschwellter Brust hinter dem Steuer seines Automobils. »Mädels, es geht heim! Wenn wir nicht fahren, zieht meine Frau mir eins mit dem Nudelholz über.« Seine Aussprache war leicht verwischt, doch er lachte dröhnend.

Dorle schaute zweifelnd ihren Onkel hinter dem Lenkrad an und trat an Erikas heruntergekurbeltes Fenster. »Sollten wir uns nicht lieber ein Taxi nehmen? Ich meine …«

»Das habe ich gehört, Dorle!«, rief Klaus und ließ den Motor aufheulen. »Die Strecke zu meinem Hof kann ich im Schlaf fahren. Das ist nicht mein erster Viehmarkt! Und nicht meine erste gewonnene Wette!« Lachend schlug er auf das Lenkrad. »Immer rein mit dem jungen Gemüse!«

»Stell dich nicht an, Dorle. Was soll schon passieren? Wir sind auf dem Land, da sagen sich Hase und Igel gute Nacht.« Erika winkte ungeduldig.

»Wird schon schief gehen …« Thesi gab Dorle einen sanften Schubs und sie setzen sich neben die wartende Johanna.

Der Wagen setzte sich gemächlich in Bewegung und bald entfaltete das Motorenbrummen seine einschläfernde Wirkung auf die Fahrgäste. Johanna gab laute Schnarchgeräusche von sich, was Thesi veranlasste, sich näher an Dorle zu schmiegen. »Kein Wunder, dass deine Tante nie einen Mann abbekommen hat.«

»Nein, ganz so war es nicht.«, flüsterte Thesi. »Sie hatte einen Verlobten, der aber im großen Krieg gefallen ist.«

Der Verkehr auf der Landstraße Richtung Norden wurde immer spärlicher und bald erschienen nur noch selten Lichter entgegenkommender Fahrzeuge. Klaus summte einen Gassenhauer vor sich hin und Erika hatte sich in ein Tuch gehüllt.

»Wie traurig. Ich habe nie über ihr Privatleben nachgedacht. Sie ist schon so lange bei uns.« Dorle kuschelte sich an Thesi. »Müssen wir das heute Nacht wirklich tun? Ich bin so müde.«

»Du schaust doch nur zu. Abenteuergeist, Fräulein Arndt, das ist es, was das junge Deutschland braucht.«

Und als plötzlich eine zarte Hand sanft über ihre Brüste strich und sich langsam tiefer wagte, schloss Dorle die Augen und seufzte verhalten.

Gleißende Lichter, lautes Scheppern und Quietschen und ein unnatürlich hoher Schrei rissen Dorle aus der Wärme lustvoller Fantasien. Die Wärme ihres Schosses verwandelte sich in unerträglichen Schmerz. Die Welt stand Kopf, der Himmel war unter ihr, Glas splitterte, Knochen barsten und als endlich wieder Ruhe einkehrte, schien die Stille tödlich. In der undurchdringlichen Dunkelheit tastete Dorle vorsichtig ihre Umgebung ab. Etwas drückte auf ihren Brustkasten und verstopfte ihren Mund. Sie würgte und wollte sich von der erstickenden Last befreien. Als sie die Lippen bewegte und nach ihrem Mund fasste, begriff sie, dass sie auf Thesis Locken biss. Der seltsame Geschmack rührte von Blut. War es ihr eigenes oder das ihrer Freundin? Dorle konzentrierte sich auf ihren Körper und rief nacheinander ihre Gliedmaßen ins Bewusstsein. Alle ließen sich zumindest bewegen.

»Thesi«, murmelte sie, denn mehr erlaubte ihre Lage nicht.

Der schlanke Körper lag schwer auf ihr. Er war so warm oder war es das Blut, das mit jedem Herzschlag aus Thesi herausströmte? Warum half denn niemand? Wie lange sie so gelegen hatte, konnte sie nicht sagen, doch irgendwann ertönten Motorengeräusche und fremde Stimmen. Licht schien in den Innenraum des umgestürzten Wagens und jemand sagte: »Heiliger Düwel! Wenn von denen noch einer lebt, ist das ein Wunder.«