»Großer Gott, was für ein fürchterlicher Lärm!« Dorle erhob sich mühsam von ihrem Tagesbett. Mit Hilfe eines Handstocks ging sie langsam zum Fenster und stieß die Flügel auf.
Im Garten der Bergemannschen Villa schien eine Marmorwerkstatt eingerichtet worden zu sein. Wo vorher Rosenstöcke gestanden hatten, klaffte ein riesiges Erdloch. Ein Haufen Grassoden und frische Erde lagerten daneben und auf einer Schubkarre drängten sich einige der gewaltsam entwurzelten Rosenstöcke. Der schrille Ton, der in Dorles Kopf gedrungen war, wie eine Pistolenkugel, wurde von einer Steinsäge verursacht. Einer der Steinsetzer vermaß die Marmorplatten für den Sockel des Brunnens.
»Hätte ich das bloß nie angezettelt …«, murmelte Dorle und schlug die Fenster zu. Ihre Mutter war tot, genau wie ihr Onkel.
Johanna hatte den Unfall in Nordfriesland mit leichten äußerlichen Verletzungen überstanden, war seitdem jedoch noch verschlossener. Die anderen Dienstboten hatten Angst vor der mürrischen Frau, deren ernste dunkle Augen eine einzige Anklage waren. Seit dem Tod der Hausherrin hatte sie das Regiment über Küche und Wäschekammer übernommen und keiner machte es ihr streitig.
Thesi hatte acht Wochen im Krankenhaus gelegen. Mehrere Rippen waren gebrochen, der linke Ellbogen und die linke Hand hatten Splitterbrüche und Schnittwunden an Hals und Armen mussten verheilen. Im Großen und Ganzen hatte Thesi Glück im Unglück gehabt. Eine gebrochene Rippe hatte den rechten Lungenflügel nur knapp verfehlt. Sie war in Erikas ehemaligem Zimmer einquartiert worden, weil dort mehr Platz für das Krankenbett war. Doch auch nachdem das eiserne Bettgestell gegen ein Mahagonimöbel ausgetauscht worden war, blieb Thesi in Erika Arndts ehemaligem Zimmer wohnen. Weder Dorle noch ihr Vater störten sich daran.
Mit Ausbruch des Krieges war die Villa zu einer Enklave inmitten zunehmendem Wahnsinns geworden. Nach dem Tod seiner Frau schloss sich Herbert oft im Salon ein. Volle Aschenbecher und leere Cognacflaschen zeugten am nächsten Morgen von einsamen Versuchen, der Wirklichkeit zu entfliehen. Dorle hob mit ihrem Handstock eine Bluse auf, die auf den Boden gefallen war, und warf sie auf einen Stuhl.
»Armer Vati. Du vermisst sie mehr als du dir je hättest träumen lassen«, sagte Dorle zu einer gerahmten Fotografie ihre Mutter, die auf ihrem Sekretär stand. Jedes Mal, wenn sie ein Bild ihrer Mutter sah, durchzuckte sie ein Stachel aus Schuldgefühlen und Scham. Ihre Reaktion auf die schreckliche Nachricht war, milde betrachtet, verhalten gewesen. Natürlich hatte Dorle auf der Beerdigung geweint und sie trauerte um den Verlust. Doch im Grunde berührte sie die Trauer ihres Vaters mehr als dass sie Erika vermisste. Der Druck war endlich fort. Dorle fühlte sich nicht länger vom Erwartungsdruck ihrer Mutter in die Enge getrieben.
Noch brauchte sie den verdammten Stock und humpelte zur Tür. Irgendwann würden auch die kleinsten Fußknöchelchen wieder zusammengewachsen sein. Außer dem Trümmerbruch ihres Fußes hatte sie nur unwesentliche Schnittwunden erlitten. Klaus hatte die Kontrolle über den Wagen verloren. Das war vorauszusehen gewesen, aber ihre Mutter hatte sie ausgelacht. Nun war sie tot. Hässliche Gedanken, dachte Dorle und zog ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Sie brauchte Thesis Zuspruch und drückte die Türklinke herunter.
Sie trat ohne Anzuklopfen in Thesis Zimmer. Ihre Freundin stand vor Erikas Kleiderschrank. Auf dem Boden waren drei Paar Schuhe aufgereiht, allesamt mit hohen Absätzen. Nachdem sie sich kurz umgewandt hatte, sagte Thesi: »Schätzchen, wie geht es dir? Brauchst du den dummen Stock immer noch? Schmeiß ihn weg. Wir wollen tanzen! Ich halte diesen Trübsinn nicht mehr aus.«
Dorle warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Ich kann noch nicht tanzen, aber wir können trotzdem ausgehen. Wir müssen unter Leute.«
Erschrocken riss Thesi die Augen auf und umarmte Dorle. »Ich schäme mich so. Ich bin eine schreckliche selbstsüchtige Person! Deine Mutter ist gestorben und ich will mich amüsieren. Verzeihst du mir, Dorchen?«
»Es ist jetzt fast ein Jahr her, Thesi. Machen wir uns nichts vor. Das Leben geht weiter. Sie wird nicht wieder lebendig, wenn wir uns in diesem alten Kasten einmotten«, versuchte Dorle sich und ihre Freundin zu entschuldigen.
Thesi warf die auf Kinnlänge gekürzten blonden Locken zurück und wischte sich eine Träne von der Wange. Leicht schnüffelnd seufzte sie: »Genauso ist es. Wie weit sind die Arbeiten an Erikas Brunnen? Das ist wundervoll, Dorle. Ein schneeweißer Brunnen aus italienischem Marmor mit Engeln und Delphinen. Sie hätte sich so darüber gefreut. Und du machst das für sie! Du bist so gut!« Überschwänglich bedeckte Thesi die Wangen ihrer Freundin mit Küssen.
»Schon gut, Thesi.« Mit leichtem Unbehagen befreite sich Dorle aus der Umarmung der Freundin. Ihre Motive, den Brunnenbau zu initiieren, basierten auf reinem Pflichtgefühl, und das war keineswegs etwas, um es an die große Glocke zu hängen. Sie stocherte mit ihrem Stock in einem Wäschehaufen und stutzte. Die kleine Schachtel mit dem grünweißen Schriftzug kam ihr bekannt vor. »Sind das nicht …?«
»Was denn?« Thesi hob die Schachtel auf und grinste. »Aber ja doch.« Sie schüttelte die Packung »Fromms«. »Steht kein Verfallsdatum drauf und wir sind ja nun auch wieder in Form …«
Dorle schnitt eine Grimasse. »Du vielleicht.« Sie hasste den Gedanken, dass sich ihre Freundin einem Mann hingeben wollte. Seit jenem schrecklichen Unfall hatte sie eine Ängstlichkeit entwickelt, die sie vorher nicht gekannt hatte. Das Autofahren machte ihr keine Schwierigkeiten. Dorle war rational genug, die Schuld am Unfall ihrem alkoholisierten Onkel zuzuschreiben. Der Tod ihrer Mutter hatte ihre heile Welt, ihre sichere Bastion erschüttert. Plötzlich sah sie ihren Vater mit anderen Augen. Er war längst nicht so stark und selbstsicher, wie sie immer geglaubt hatte. Und nun der Krieg, der die gesamte Welt aus den Fugen zu heben drohte. Nicht, dass sie sich viel damit beschäftigte. Sie war eine Meisterin im Verdrängen geworden und hatte angeordnet, die Rundfunkempfänger auszustellen, sobald Schreckensmeldungen ausgerufen wurden. Auf ihr Geheiß wurde amerikanische Swingmusik gespielt, was ihr in letzter Zeit öfter vorwurfsvolle Blicke von Johanna eintrug. Der Swing war noch nicht so verpönt wie die moderne Kunst, aber sich als Anhänger dieser ausländischen Musik zu zeigen, konnte einen in Schwierigkeiten bringen.
Thesi liebte die lebensbejahende Musik genauso wie sie. Ihre wunderschöne zarte Thesi. Erneut breitete sich ein würgendes Angstgefühl in Dorle aus – die Angst, ihre geliebte Freundin zu verlieren. Sie deutete auf die Schachtel als es an der Zimmertür klopfte.
»Ja, bitte!«, rief Thesi, warf Fromms hygienischen Gummischutz in den Schrank und stieß die Türen zu.
Herbert Arndt kam herein. Wenn er überrascht war, seine Tochter anzutreffen, ließ er sich nichts anmerken. Doch Dorle spürte seine Irritation. »Ah, hier bist du, Dorle«, sagte er und vermied es, Thesi anzusehen. »Der Architekt wollte dich sprechen. Du bist die einzige, die genau weiß, wie Erika sich den Brunnen vorgestellt hatte.«
»Das ist nun auch übertrieben. Mutter hat mir gegenüber das Projekt erwähnt und es mit irgendwelchen italienischen Adligen verglichen«, sagte Dorle bescheiden und beobachtete Thesi und ihren Vater. Gab es ein heimliches Einvernehmen zwischen den beiden? Würden sie es wagen, sie zu hintergehen. Aber nein! Sie musste sich ihren Vater nur ansehen, wie er dort mit Tränensäcken unter den traurigen Augen stand, der Leib wölbte sich mächtig über dem Hosenbund. Er hatte wahrlich andere Sorgen als sich einer blutjungen Frau, die seine Tochter sein konnte, zu nähern. »Wartet der Architekt jetzt unten?«
»Ja. Er hat heute nicht allzu viel Zeit, weil er zu einem der großen Stadtprojekte hinzugezogen wurde«, sagte Herbert düster und ging mit schweren Schritten ans Fenster.
»Was sind das denn für Projekte?«, fragte Thesi.
»Der Speer will aus Hamburg das größte Welthandelszentrum machen. Dafür sollen ganze Straßenzüge abgerissen und neu aufgebaut werden«, erwiderte Herbert.
»Ist das keine gute Sache? Modernisierung ist doch etwas Positives!«, meinte Thesi und prüfte im Spiegel den Sitz ihres Haares.
Herbert Arndt verschränkte die Hände auf dem Rücken und wippte bedächtig vor und zurück. »Wir zahlen einen Blutzoll, der uns noch das Genick brechen wird.«
»Kommst du mit, Thesi?« Dorle wollte der bedrückenden Stimmung entfliehen. Ihr Bein schmerzte und Thesi hatte Pläne, die ihr missfielen.
»Geh ruhig vor. Es ist so kalt heute. Ich werde mir etwas Wärmeres anziehen«, sagte ihre Freundin mit einem um Verständnis suchenden Lächeln.
»Und du, Vater? Kommst du nicht mit?« Mit der Hand auf dem Türgriff wartete sie beharrlich und Herbert Arndt setzte sich schwerfällig in Bewegung.
»Noch hat es nicht viel geregnet, aber das wird sich ändern. Dann wird die Erde weggeschwemmt. Die sollten sich mit dem Fundament beeilen«, meinte er und hielt seiner Tochter die Tür auf.
»Was sagen denn die Wetterfrösche? Wird es einen harten Winter geben?« Dorle ging neben ihrem Vater über den Flur.
Aus dem Erdgeschoss stiegen vertraute Gerüche von gebackenen Äpfeln und irgendetwas Eingekochtem auf. Doch wo sonst reges Klappern und Gezänk oder Lachen zu hören gewesen war, erklang nur noch gelegentlich gedämpftes Gemurmel. Zum einen mochte das an Erikas Tod liegen, zum anderen an Johannas strengem Regiment.
»Es wird zumindest davon ausgegangen. Dorle, Schatz, ich will dich nicht unnötig belasten mit meinen Sorgen, aber ich möchte wissen, dass du nicht allein bist, falls ich nicht mehr bin«, sagte ihr Vater unvermittelt und strich ihr über die Wange.
»Was redest du da? Geht es dir nicht gut? Verschweigst du mir etwas?« Erschrocken hielt Dorle sich am Treppengeländer fest.
»Nein, nein. Ich bin so gesund, wie ein Mann meines Alters es eben sein kann, der zuviel isst und trinkt.« Herbert klopfte sich auf den Leib. »Ein Victor Bergemann, Major, hat mich kürzlich im Geschäft angesprochen. Er berief sich auf eine Bekanntschaft mit dir und … in Husum.« Herr Arndt räusperte sich und fuhr mit belegter Stimme fort: »Ist das richtig?«
»Ach, der Major. Ja, ich erinnere mich.« Über dem Unfall und der langen Rekonvaleszenz hatte sie den Major vergessen. Nun, er hatte sich nicht gemeldet. Wäre er interessiert gewesen, hätte er vorgesprochen.
»Ein adretter Mensch. Ach, Dorle, mach es mir nicht so schwer. Wäre es nicht an der Zeit, an Heirat zu denken?«
»Damit ich nicht allein bin? Ich habe dich und Thesi.« Energisch setzt sie den Stock auf die nächste Stufe und humpelte weiter die Treppe hinab.
»Die Thesi ist ein liebes Kind, aber sie wird immer jemanden brauchen, der für sie sorgt. Jetzt sind wir es.«
»Ich werde für sie da sein und sie für mich. Wir sind wie Schwestern!«, betonte Dorle und ging in den hinteren Salon, von dem aus man direkt in den Garten gelangte.
Ihr Vater schob den Vorhang vor der Terrassentür zurück, öffnete jedoch nicht sofort. »Das sehe ich. Allerdings scheint mir euer Verhältnis etwas zu eng geworden. So eng, dass es fast ungesund erscheint.« Er fixierte seine Tochter in ungewohnt scharfer Weise.
»Ungesund?« Dorle schürzte die Lippen und schaute nach draußen, wo die Arbeiter einen Delphin aus Marmor auspackten.
»Obsessiv. Unnormal. Versteh mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen Thesis Anwesenheit, aber du bist so fixiert auf sie, dass du für niemand anderen Interesse hast. Früher hattest du Freundinnen. Heute gibt es nur Thesi dies und Thesi das«, ereiferte sich Herbert.
»Wir hatten einen Unfall«, sagte Dorle sehr langsam und sehr kühl. »Dein Bruder und Mutter sind dabei ums Leben gekommen. Thesi war dabei. Wir beide haben überlebt. Sie lag halbtot auf mir und ihr Blut lief über meinen Körper.«
Unangenehm berührt riss Herbert den Terrassenflügel auf. »Du weißt genau, was ich sagen will. Denk einfach über eine Hochzeit nach. In diesen Zeiten braucht eine Frau einen Mann an ihrer Seite. Vor allem muss der das richtige Parteibuch haben.«
Ohne einen weiteren Kommentar ging Dorle an ihrem Vater vorbei und suchte im Garten nach dem Architekten, einem schlanken Mann mit überheblichen Gesichtszügen. Sein grauer Anzug war stets tadellos gebügelt und sie wunderte sich, wie er es fertig brachte, so makellos auf Baustellen zu bleiben. Die Arbeiter waren damit beschäftigt, weitere Marmorfiguren aus ihren Strohbetten in Holzkisten zu befreien.
»Herr Schneider?«, rief Dorle laut und sah die Arbeiter und Steinmetzen hilfesuchend an. Einer deutete Richtung Elbe.
Von oben sah sie den wehenden Mantel des Architekten, der seelenruhig an einer Lerche lehnte und eine Zigarre rauchte. »Na, Sie haben ja die Ruhe weg!«, sagte sie als sie ihn erreichte.
Ruckartig ließ der Mann die Zigarre sinken und drehte sich um. »Fräulein Arndt, es freut mich, dass Sie da sind.«
»Wieso werden die Marmorfiguren schon ausgepackt? Wenn es einen frostigen Winter gibt, müssen die Skulpturen sowieso wieder eingeräumt werden.« Es war immer gut, die Leute mit einem Fehler in ihre Schranken zu weisen. Dann wurden sie sich ihrer untergeordneten Stellung bewusst.
»Sie wollen doch sicher sehen, was Sie gekauft haben, oder nicht?« Er hob eine Braue.
»Es hätte auch gereicht, den Deckel der Kisten zu öffnen, oder nicht?«, äffte sie ihn bissig nach.
Schneider paffte an seiner Zigarre und zwang sich zu einem Lächeln. »Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, sich kurz mit mir zu besprechen, Fräulein Arndt. Ich möchte Sie auch gar nicht lange in Anspruch nehmen. Bitte.« Er hielt ihr seinen Arm hin, doch Dorle ignorierte ihn und stützte sich beim Hinaufsteigen des Hügels auf den Stock.
»Über den zweistöckigen Brunnenaufbau und die wasserspeienden Delphine waren wir uns einig. Ich hatte zudem vorgeschlagen, den Brunnen, der ja äußerst repräsentativ ist, in ein Ensemble einzubinden. Ein Säulenhalbrund, ähnlich der Villa Frascati, vielleicht eine Sirene mit Löwenpaar, Buchshecken im Parterre, ein Labyrinth …«
Schneider redete ohne Unterbrechung und seine Pläne schienen den gesamten Park der Villa Medicea einzuschließen. Dorle konzentrierte sich auf die letzten Stufen, die auf das Rasenplateau vor der Villa führten und sah oben auf der Terrasse eine aufgeregt winkende Johanna.
»Fräulein Dorle!«, rief sie und schwenkte einen Briefumschlag.
»Da ist etwas passiert …«, murmelte Dorle und bewegte sich, so schnell es ihre Kondition zuließ, über den Plattenweg.
»Ja, aber … was ist denn nun mit den Erweiterungen?«, hörte sie Schneider rufen.
»Später, später!« Außer Atem humpelte Dorle auf Johanna zu, die ihr bereits entgegenlief.
»Oh, gut, dass Sie da sind. Ich weiß nicht, wie ich es der Thesi beibringen soll. So ein schreckliches Unglück!« Johannas vergrämtes Gesicht wirkte noch trauriger, die grauen Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Die sonst selbstbeherrschte Frau wirkte vollkommen aufgelöst. Sie hielt Dorle den Brief hin. »Jetzt ist es passiert, jetzt haben sie ihn umgebracht.«
»Jetzt beruhige dich doch, Johanna. Wer wurde umgebracht?« Sie nahm der Hauswirtschafterin den Brief ab und drehte ihn um. Als Absender stand dort: Heilanstalt Sonnenstein. Böses ahnend zog sie den Brief heraus und überflog die mit Maschine geschriebenen Zeilen. »Arme Thesi! Ich verstehe das nicht, sie hat doch vor zwei Wochen mit ihm telefoniert und da war alles in Ordnung …«
»Nicht wahr? Sie denken auch, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist?« Johanna folgte ihr ins Haus.
Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters ertönten Stimmen und Dorle erkannte die ihrer Freundin. »Komm ruhig mit hinein, Johanna. Wir sagen es ihr gemeinsam.« Dorle klopfte kurz an die angelehnte Tür und ging hinein.
Herbert Arndt saß in seinem wuchtigen Stuhl hinter dem Schreibtisch, Thesi stand mit einer aufgeschlagenen Dokumentenmappe vor ihm. Als sie die beiden Frauen sah, klappte Thesi die Mappe augenblicklich zu und legte sie ab als sei es etwas Nebensächliches. »Hallo ihr beiden! Ihr schaut ja so ernst.«
Als Dorle die Lippen zusammenpresste und betreten auf den Brief sah, hielt Thesi sich am Schreibtisch fest. »Lies es mir vor, Dorchen.«
Herbert beugte sich vor und sah gespannt von einem zum anderen.
»Sehr geehrtes Fräulein Pape«, las Dorle und schluckte zweimal, bevor sie weitersprechen konnte. »Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Friedrich Pape, daselbst Patient in der Heilanstalt Sonnenstein, in den Morgenstunden einem Herzleiden erlegen ist.«
»Was? Das ist doch nicht … das kann nicht sein! Er war doch gar nicht herzkrank!«, schluchzte Thesi und starrte Dorle fassungslos mit aufgerissenen Augen an.
»Die haben ihn umgebracht.«, sagte Johanna dunkel und packte plötzlich Dorles Arm mit eiskalten Händen.
Erschrocken sah sie Thesis Tante ins Gesicht und spürte, wie eine Gänsehaut ihren Nacken hinaufkroch.
Johannas Augen flackerten nervös. »Wir leben in Zeiten, wo die Menschen einfach von den Straßen verschwinden, wo kranke Menschen in Sanatorien ermordet werden! Ich weiß, dass sie Friedrich umgebracht haben, ich weiß es genau, weil ich es gehört habe …«
Die geflüsterten Worte hingen bedrohlich in der unnatürlichen Stille des Raumes.
»Das ist Geschwätz, Tante Johannna, du mit deinen düsteren Visionen! Und wenn Vater wirklich krank war? Wie wollen wir das wissen? Ich habe ihn lange nicht besuchen können und du warst auch nicht in Pirna!«
Johannas kalte Finger lösten sich von Dorles Arm, auf dem sie weiße Druckstellen hinterlassen hatten. »Ihr hört nicht hin, keiner von euch! Auf der Straße flüstern sie einem das zu. Man muss nur stehen bleiben und den Schattengestalten zuhören. Sie sind so dünn, so schrecklich dünn und die Steine viel zu schwer! Wer soll das tragen, wer?«
»Was meinst du denn, Johanna?« Dorle bezwang ihre Ungeduld. Die Frau stand unter Schock und redete wirr.
»Abgeholt werden sie. Sie holen alle zum Hannoverschen Bahnhof«, sprach Johanna monoton weiter, den Blick nach innen gerichtet, die Hände in verzweifelter Geste von sich gestreckt.
»Von wem sprichst du, Tante?« Thesi hatte sich gefasst und wollte ihrer Tante einen Arm um die Schultern legen, doch die wich vor ihr zurück.
»Die den Stern tragen. Die Schatten an den Straßen. Ich bin hingegangen«, fuhr sie mit brüchiger Stimme fort.
Geduldig fragte Thesi: »Wohin?«
»Zu diesem Bahnhof. Ich wollte es sehen. All diese vielen Schatten. Sie wurden getrieben, wie Vieh und es war so schrecklich still. Die Lampen. Sie quietschten an langen Ketten, die aus dem Himmel kommen.« Die Grauhaarige reckte eine Hand nach oben als wollte sie die Ketten fassen. »Sie quietschten und wiegten sich im Wind.«
Johanna legte den Kopf zur Seite und schloss die Augen als könne sie das durchdringende Geräusch so aus ihrem Gedächtnis vertreiben. Und dann sang sie plötzlich mit gebrochener Altfrauenstimme: »In Nischni-Nowgorod, in Nischni-Nowgorod, da gibt’s kein Kussverbot und keine Hungersnot, und es wird Abendrot und es wird Morgenrot und alle Welt schläft ein wie tot.«