Monte San Savino, Mai 2001

Kapitel 1

Als folgenschwerer Fehler erwies sich Odas Entscheidung, die pittoreske Nebenstrecke von Siena nach Monte San Savino zu nehmen. Die hügelige Landschaft war atemberaubend schön, doch die Straßen waren so eng und an den Rändern kaum befestigt, dass an Überholen nicht zu denken war. Da sich anscheinend alle Landwirte verabredet hatten, ihre Felder zu bestellen, sah man endlose Autokarawanen hinter riesigen Traktoren durch die Hügel ziehen. Während Oda krampfhaft darauf achtete, die Abzweigung nach Villa Montaltuzzo nicht zu verpassen, versuchte sie wiederholt, Alessia zu erreichen. Doch das junge Mädchen nahm nicht ab und rief auch nicht zurück. Hoffentlich hatte sie keine Dummheiten gemacht, dachte Oda seufzend.

Natürlich verpasste sie die Abzweigung und die Nadel der Tankanzeige näherte sich bedenklich dem Reservebereich. Als Oda einen unbefestigten Feldweg mit einem handbemalten Wegweiser nach Verniana sah, bog sie kurz entschlossen ab. Weit konnte es nicht mehr sein. Der einspurige Weg war mit Schlaglöchern und Steinen übersät, die dem Leihwagen schwer zusetzten. Nach wenigen Minuten auf der sandigen Piste war sie von einer Staubwolke eingehüllt und musste die Scheibenwischer anstellen, um überhaupt etwas sehen zu können. Die Kurven wurden enger, Weinreben bedeckten die sonnenbeschienen Hänge und auf der anderen Seite erstreckte sich dichter Wald. Nach einer weiteren Kurve war sie auf beiden Seiten von Eichen und Kastanien umgeben und kurbelte die Fenster herunter, um den Geruch besser wahrnehmen zu können.

In der Erwartung, das gesuchte Gehöft hinter der nächsten Kurve zu finden, trommelte Oda auf dem Lenkrad, doch plötzlich gab der Motor ein gluckerndes Geräusch von sich, ruckte zweimal und der Wagen blieb stehen. Ungläubig klopfte Oda auf die Tankanzeige, deren Nadel nun auf Null stand. »Von wegen Reserve …!«, fluchte sie.

Es blieb ihr nichts anderes übrig als den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Oda stöhnte. Mit etwas Glück traf sie auf die zänkische Mutter oder den schlechtgelaunten Sandro Gambetti, der womöglich den Hund auf sie hetzte. Doch ohne Benzin kam sie nicht weiter. Sie lief etwa fünf Minuten durch den Wald, bis sie links ein heruntergekommenes Gebäude sah. Die Straße wurde von einem Weiderost unterbrochen und Oda wusste, dass sie den Grund der Gambettis erreicht hatte.

Der Weg schien hier kaum befahren, denn überall wucherte Unkraut, aber es gab einen Trampelpfad, der den Blick auf eine Weide freigab. Als sie friedlich grasende beigefarbene Rinder sah, seufzte sie erleichtert auf. Am anderen Ende der Weide sah Oda die Umrisse der Stallungen und des Gutshauses der Gambettis. Aus Richtung des Gutes kam ein Mann auf die Weide. Die Tiere hoben die Köpfe als der Mann, den sie aus der Entfernung auf über sechzig Jahre schätzte, sanfte Lockrufe von sich gab. Um die Herde, die aus einem Dutzend Kühen und Kälbern bestand, nicht zu erschrecken, bewegte Oda sich weiter am Waldrand entlang.

Doch irgendetwas schien die Muttertiere zu beunruhigen, denn sie begannen plötzlich laut zu muhen. Die Kälber drängten sich zwischen die Kühe, die ihre Nüstern blähten und mit den Hufen scharrten. Der Mann blieb stehen und sprach weiter auf die Tiere ein und als eine der Kühe sich in Odas Richtung drehte und auf sie zuzurennen begann, stolperte sie und fiel rückwärts in dorniges Gestrüpp. Dann ertönte ein lauter Knall. Sofort rappelte sie sich auf und stürzte nach vorn, wo sie die Herde in kopfloser Panik über die Weide rennen sah.

Wo war der Mann? Sie konnte den Mann nicht sehen! Hatten die Kühe ihn etwa überrannt? Bevor sie über den Zaun kletterte, nahm sie auf ihrer Höhe am Waldrand eine Bewegung wahr und sah jemanden davonrennen. Für weitere Beobachtungen blieb keine Zeit, denn nun schrie der Mann auf der Weide um Hilfe. Oda hielt sich an einem Pfosten fest und sprang mit einem Satz über den elektrischen Weidezaun. So schnell es ihre Sandalen erlaubten, lief sie über die Weide, trat dabei in einen nassen Kuhfladen und fiel zu Boden. Etwas Schreckliches war passiert. Noch nie hatte Oda einen Schuss gehört, aber der Knall klang nach und ihre Angst steigerte sich mit jedem Schritt.

Einige Kühe waren in die hinterste Ecke der Weide zum Stall gelaufen, doch drei Tiere standen schnaubend neben dem am Boden liegenden Mann. Oda schlug eine Hand vor den Mund, um nicht zu schreien als sie das blutverschmierte Hemd sah. Er lag auf dem Rücken und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie kniete sich neben ihn und nahm seine Hand, die er mit röchelndem Atem zu heben versuchte.

Oda hatte keine Ahnung, was sie tun musste. »Hilfe!«, brüllte sie Richtung Hof und hörte den Hund bellen. »Hilfe, hier draußen! Wir sind hier draußen bei den Kühen!«, schrie sie und drückte die Hand des Verwundeten.

Er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und weiße Stoppeln bedeckten seinen Kopf. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, schüttelte sie den Kopf. »Nicht anstrengen. Es kommt jemand. Gleich ist Hilfe da.«

Vorsichtig öffnete sie mit einer Hand das blutige Hemd und sah die Einschusswunde in der Schulter, aus der das Blut quoll. Das musste aufhören war alles, was sie denken konnte, nahm ihre Sweatshirtjacke und drückte sie auf die Wunde. Der Mann schloss die Augen und presste vor Schmerzen die Lippen zusammen. Oda hob den Kopf und sah endlich den Hund, gefolgt von Sandro Gambetti und einer älteren Frau über die Weide laufen.

»Basilio! Was ist denn los?«, rief Sandro Gambetti und starrte entsetzt von Oda zu dem Verletzten.

Die ältere Frau schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »Basilio, nein, nein, was … oh heilige Mutter Gottes …«

Sandro Gambetti kniete sich neben Oda. »Rosa, ruf einen Krankenwagen und die Polizei! Sofort!« Mit fahrigen Händen holte er sein Handy aus der Hosentasche und warf es der völlig aufgelösten Frau zu.

Weinend befolgte die Frau die Anweisung.

»Ich glaube, das war ein Schuss«, sagte Oda vorsichtig, während sie weiter ihre Jacke auf die Wunde presste.

»Haben Sie jemanden gesehen? Was machen Sie überhaupt hier? Ich hatte Ihnen doch verboten, herzukommen«, fuhr er sie an und legte die Hand auf die Stirn des Verletzten.

»Ich wollte zu Alessia. Aber das ist jetzt wohl kaum wichtig. Er verblutet! Sehen Sie doch!« Ihre Jacke war vollkommen mit Blut durchtränkt.

Die Kühe schnaubten und liefen panisch hin und her. Sandro Gambetti erhob sich. »Rosa, gib ihr deine Schürze!«

Weinend riss sich die Frau ihre Kittelschürze vom Leib und hielt sie Oda hin. »Mein Basilio, was haben sie dir nur angetan? Warum? Er ist ein guter Mann! Will keinem was Böses …« Sie rang verzweifelt die Hände.

»Können Sie damit einen Druckverband anlegen? Ich hole den Wagen. Wir müssen ihn von der Weide schaffen.« Sandro sah Oda fragend an.

»Ich tue, was ich kann.« Ohne zu wissen, ob sie überhaupt das Richtige tat, aber die Blutung zu stoppen schien ihr das einzig Vernünftige zu sein, knotete sie die Schürze stramm über die Wunde.

»Hallo! Sandro! Rosa!«, rief jemand ängstlich.

Oda drehte den Kopf und sah eine schlanke Frauengestalt am Gatter zum Hof stehen.

»Rosa, kümmere dich um Signora Gambetti. Sie soll auf keinen Fall herkommen«, befahl Sandro.

»Nein, ich lass ihn nicht allein. Nein, das kann ich nicht«, wimmerte die Frau, fiel auf ihre Knie und presste die Hand des schwach Atmenden an sich.

Verärgert rannte Sandro davon und Oda starrte auf das stetig blasser werdende Gesicht des Verletzten. Die bangen Minuten bis zu Sandro Gambettis Rückkehr kamen ihr endlos vor. Rosa weinte und murmelte vor sich hin und Oda beobachtete die Signora am Gatter, die auf ihren Enkel wartete und dann kurz mit ihm sprach. Oda sah, wie sie den Kopf schüttelte und loslief. Je näher sie kam, desto schneller schlug Odas Herz. Nella Gambetti. Was musste die Signora denken, wenn sie erfuhr, wer Oda war? Welche Ironie des Schicksals hatte Oda ausgerechnet in diesem Moment hergeführt? Gewalt und Blut. Victor Bergemann gehörte zu jenen, die genau das in die Toskana gebracht hatten.

Als Signora Gambetti in Begleitung eines zotteligen weißen Hundes bei ihnen ankam, war Odas Mund trocken. Sie öffnete ihn stumm, schloss ihn wieder und bewunderte stattdessen Nellas noch immer schöne, ausdrucksvolle Züge. Sie wirkte wesentlich jünger und vitaler als Dorle Bergemann, obwohl sie ebenfalls das achte Lebensjahrzehnt erreicht haben mochte. Ihr kurzes dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen, das energische Kinn hatte sie an Alessia vererbt. Jetzt musterte sie Oda aus neugierigen dunklen Augen, bevor sie sich an Rosa wandte: »Lass mich sehen, Rosa.«

Ohne Rücksicht auf ihren hellen Leinenanzug kniete Signora Gambetti sich in das blutverschmierte Gras und legte ihre Hand prüfend auf Basilios Stirn. Dann hob sie eines seiner Augenlider. »Er ist nicht ohnmächtig.« Sie klopfte sacht seine Wangen. »Nicht schlafen, Basilio. Gleich kommt Hilfe.«

Der Hund schnupperte erst den Boden und dann den Verletzten selbst ab. Basilios Augenlider flatterten und er stöhnte.

»Haben Sie den Verband angelegt?«, wandte sich Signora Gambetti an Oda.

»Ja, ich weiß nicht …« Oda ließ die Jacke los.

»Das haben Sie gut gemacht. Ging die Kugel durch?«

Ratlos sah Oda die alte Dame an. Darauf hatte sie nicht geachtet.

Motorengeräusche ertönten und Sandro brachte seinen Wagen neben ihnen zum Halten. Sie hoben den Verletzten auf die Rückbank, wo Rosa sich zu ihm setzte.

Sandro zögerte kurz, bevor er einstieg. »Ich fahre runter bis zur Kreuzung. Willst du nicht mitkommen, Nonna?«

»Ich bleibe hier. Die Polizei kommt doch sicher gleich. Und die Signorina scheint mir einen Grappa verdient zu haben«, sagte Nella Gambetti fest, und Sandro stieg in den Wagen, obwohl seine Miene keine Zustimmung ausdrückte.

»Die armen Tiere. Sehen Sie, wie verängstigt sie sind? Sie fühlen wie wir, wollen ihre Kälber beschützen«, sagte Nella Gambetti und sprach beruhigend auf die Herde ein. Plötzlich bückte sie sich, hob etwas vom Boden auf und steckte es in ihre Tasche. »Es wird Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis sie sich beruhigt haben. Der Schock sitzt tief und verdirbt das Fleisch.«

Oda nahm die pragmatische Einstellung der Signora zu ihren Rindern ernüchtert zur Kenntnis und folgte ihrer Einladung zum Haus. Als sie in Begleitung des Hundes durch das Gatter in den Hof traten, hörten sie in der Ferne eine Polizeisirene.

Nella Gambetti packte Odas Arm und sah sie durchdringendend an. »Woher kenne ich Sie?« Sie legte die Fingerspitzen an die Lippen. »Es ist lange her. Sie erinnern mich an jemanden …« Mehr zu sich selbst sagte sie: »Das ist unmöglich. Ich werde alt.«

Doch sie ließ Odas Arm nicht los und musterte sie weiter eingehend. Oda hätte sich unwohl fühlen können, doch es lag keine Feindseligkeit in diesem Blick, sondern fast etwas Hoffnungsvolles. »Ihre Augen«, murmelte Nella Gambetti. »Sie haben seine Augen. Ist das möglich? Wie heißen Sie?«

»Oda. Victor Bergemann war mein Großvater«, sagte Oda und fügte schnell hinzu: »Aber ich habe nichts mit dem Unfall, dem Angriff meine ich … zu tun.« Stammelnd suchte sie nach Worten, doch über Nellas Gesicht huschte der Anflug eines abwesenden Lächelns. Sie schien in ihren Erinnerungen zu versinken und ließ Odas Arm los.

Ohne die Augen von Odas Gesicht zu lassen, streckte Nella Gambetti die Hand nach ihr aus. Zärtlich berührten ihre Fingerspitzen Odas Wange. »Sie glauben, das könnte ich denken, nur weil …? Ja, man könnte es annehmen. Aber so ist es nicht. Victor …« Als sie den Namen aussprach brach ihre Stimme. Sie wandte sich ab und unterdrückte ein Schluchzen. Nachdem sie sich gefangen hatte, glitt ihr Blick zum Hof und blieb am Fasanengehege neben dem Wohnhaus haften.

Zwei Hennen saßen in dem Gehege, drehte die Köpfe und beäugten sie. Währenddessen stand der Hund wachsam bei ihnen und lauschte auf die sich nähernden Sirenen. Signora Gambetti holte tief Luft. Ihre Hände zitterten, sie räusperte sich und tätschelte den Kopf des großen Tieres. »Guter Bruno. Du hättest es nicht verhindern können. Was ist passiert?«, fragte sie Oda sachlich.

»Ich wollte Sie besuchen, dass heißt, ich wollte zu Alessia …« Oda fasste ihre abenteuerliche Anfahrt kurz zusammen und ließ auch ihre Beobachtung am Waldrand nicht aus.

»Ob es eine Frau oder ein Mann war, konnten Sie nicht sehen?«, fragte Nella.

Oda bewunderte die Haltung der alten Dame. »Nein. Dafür ging alles zu schnell. Ich habe ja nicht einmal gewusst, dass es sich um einen Schuss handelte.«

Ein bitterer Zug umspielte Nella Gambettis Lippen. »Es gab eine Zeit in meinem Leben, da gehörten Waffen zum Alltag, zum Überleben.«

Die Sirene heulte ein letztes Mal, diesmal in unmittelbarer Nähe und schon bog ein Polizeiwagen, gefolgt von einer dunklen Limousine in den Hof. Zwei Uniformierte und ein Beamter in Zivil stiegen aus den Fahrzeugen, sahen sich kurz um und kamen sofort auf sie zu.

»Die haben mir noch gefehlt …«, murmelte Nella Gambetti düster und blickte den Beamten mit ausdrucksloser Miene entgegen.

»Jemand hat angerufen, weil es einen Schusswechsel gegeben hat?«, sagte der Mann in Zivil. Er strich sich über den rasierten Schädel, wobei eine teure goldene Uhr unter der Manschette zum Vorschein kam. Sein Anzug war aus feinem Stoff, die Schuhe sahen aus wie handgenäht. Oda wunderte sich über so viel Luxus bei einem einfachen Polizisten.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen sagte der Beamte: »Commissario Zanolla aus Arezzo. Ich war nur zufällig auf dem Revier von Monte San Savino, als der Notruf einging. Sind Sie verletzt?«

Oda schüttelte den Kopf. Ihr blutverschmiertes T-Shirt musste einen dramatischen Anblick bieten. Sie sah an sich herunter und streckte ihre blutverschmierten Arme aus.

»Also, was genau ist passiert?«

Ein Commissario aus Arezzo. Polizeiliche Untersuchungen konnten sich hinziehen. Ihren Flieger würde sie nicht mehr erreichen, dachte Oda. Andererseits waren so viele Dinge in ihrem Leben ungeklärt und es gab mehr Gründe, vorerst hier zu bleiben, und keinen, der sie nach Hamburg zog. Nein, das stimmte nicht ganz, denn Max Friedrich war ein liebenswerter Mensch und ihn wollte sie nicht im Stich lassen.

Jemand berührte sacht Odas Schulter. »Signorina, Sie stehen sicher noch unter Schock, aber bevor Sie sich waschen, zeigen Sie uns bitte den Tatort.«

»Ich …« Plötzlich hilflos schüttelte sie stammelnd den Kopf.

»Lassen Sie das arme Kind doch erst einmal Luft holen!«, bat Nella Gambetti, doch der Commissario blieb unbeeindruckt.

»Wir müssen unsere Arbeit tun. Die Carabinieri sind zur Spurensicherung hier. Falls es nötig wird, fordern wir das gesamte Team aus Arezzo an. Wohin? Dort entlang?« Zanolla deutete auf das offene Gatter, durch das eine Kuh laufen wollte.

»Lassen Sie mich vorangehen. Die armen Tiere sind vollkommen verängstigt.« Energisch ging Nella auf die Kuh zu und strich ihr über den Kopf. »Geh nur zu den anderen. Ja, braves Mädchen.« Sie klopfte dem Tier auf den Hals und bewegte es dazu, wieder auf die Wiese zu trotten. »Bruno, bleib«, sagte Nella zu ihrem Hund.

»Signorina, gehören Sie zur Familie?«, fragte Zanolla, während sie über die Weide gingen.

»Nein. Ich bin Touristin und nur zufällig hier. Mein Wagen ist hinten im Wald stehengeblieben. Oda Bergemann.«

Oda konnte nur hoffen, dass Signora Gambetti nicht verriet, warum sie wirklich hier war. Doch sie schien ihr nicht die Frau, die gern Polizei auf ihrem Grund duldete. Nella Gambettis Miene war ausdruckslos und sie wirkte gefasst.

»Die Einzelheiten nehmen wir später zu Protokoll, Signorina Bergemann. Und Sie?«

»Mir gehört der Hof. Ich bin Nella Gambetti. Basilio, der Angeschossene, lebt mit seiner Frau, Rosa, auf meinem Land. Sie bewohnen ein kleines Rustico unten im Roggenfeld. Er kümmert sich um die Tiere und um handwerkliche Arbeiten, eben alles, was anfällt. Der Schuss kam aus Richtung der Bäume.« Nella sah Oda an.

»Das ist richtig«, sagte diese. »Ich kam gerade aus dem Wald als ein Schuss fiel. Jemand lief weg, in den Wald auf der anderen Seite der Weide, die Kühe wurden panisch und der Mann ging zu Boden. Ich lief zu ihm und versuchte, die Blutung zu stoppen und dann kamen die anderen.«

Sie hatten die Stelle erreicht, an der Basilio zusammengebrochen war. Blut war noch immer im Gras zu sehen und die Rinder standen argwöhnisch äugend in der hintersten Ecke der Weide.

»Nur ein Schuss? Wo? Ging er durch?« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Zanolla den Tatort.

»Weiß ich nicht. Es war ein Schulterschuss und der Mann lebt. Zumindest lebte er, als er ins Krankenhaus gebracht wurde«, sagte Oda.

Nella Gambetti legte Oda den Arm um die Schultern, gerade in dem Moment, als ihre Kräfte sie langsam verließen. Odas Knie zitterten bedenklich, doch Nellas Nähe gab ihr Kraft. »Hier wird viel gewildert«, bemerkte die Signora. »Wahrscheinlich war es ein Querschläger. Alles andere ergibt keinen Sinn, Commissario.«

Zanolla hob den Blick und musterte die alte Dame, die in der außergewöhnlichen Situation einen kühlen Kopf bewahrte. »Haben Sie Erfahrung mit Waffen? Gibt es welche in Ihrem Haus?«

»Natürlich. Hier auf dem Land jagen alle. In meinem Haus befindet sich ein Gewehr. Es hat meinem Mann gehört. Während des Krieges mussten auch wir Frauen mit Waffen umgehen lernen.« Die wachen dunklen Augen funkelten den Commissario kampflustig an. »Ich habe dem Tod öfter ins Auge geblickt als Sie. Und ich habe mehr Gesichter des Todes gesehen als mir lieb ist. Basilio wurde von einem Querschläger angeschossen. Er blutete stark, aber er ist nicht tot. Rufen Sie im Krankenhaus an.«

Commissario Zanolla nahm sein Telefon aus der Anzugtasche, gab den Carabinieri knappe Anweisungen und ging einige Schritte, während er telefonierte. Einer der jungen Polizisten suchte das Gras ab, der andere lief zum Waldrand, wo er nach einer Weile zwischen den Bäumen verschwand.

»Ich habe mit dem Krankenhaus in Arezzo telefoniert. Sie hatten Recht, Signora.« Der Commissario schob sein Handy zusammen. »Der Mann ist am Leben. Er wird noch behandelt. Aber die Kugel steckte nicht in der Wunde. Wie alt ist er?«

Nella hob die Schultern. »Über sechzig. Ich kenne die beiden seit vierzig Jahren.«

»Hat er Feinde?«, fragte Zanolla und winkte dem Carabinieri.

»Himmel, nein!«, sagte Nella entrüstet. »Er ist ein wortkarger Mensch, lebt nur für die Tiere und den Hof.«

Zanolla kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick nachdenklich über die Weide, die Tiere und das Haus gleiten. »Man kann nie alles über einen Menschen wissen, Signora. Ich werde ihn vernehmen.«

»Als hätte Basilio nicht genug durchzustehen …«, beschwerte sich die Signora, drückte Oda aufmunternd und strich sich durch die Haare.

Zanolla kümmerte sich nicht um ihre Bemerkung. Seine Aufmerksamkeit wurde von dem Carabiniere gefesselt, der in den Wald gelaufen war.

»Commissario! Ich habe was!«, rief der junge Polizist aufgeregt und fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum. Bevor Zanolla etwas erwidern konnte, kam der Mann schon auf sie zugelaufen und stand kurz darauf außer Atem, aber mit stolzer Miene vor seinem Vorgesetzten. Zwischen den Fingerspitzen hielt er einen messingfarbenen Gegenstand, der im Licht blitzte. »Ich habe die Hülse gefunden!«

»Und jetzt sind Ihre Fingerabdrücke drauf …«, fauchte Zanolla und holte ein Plastiktütchen aus der Innentasche seines Jacketts.

Betreten ließ der junge Polizist die Hülse in die dargereichte Tüte fallen. »Tut mir leid, Commissario …«

»Mir auch. Suchen Sie weiter, vielleicht finden Sie noch etwas. Haben Sie auf Fußspuren geachtet?«

»Mach ich, Commissario! Sie sollen nicht bereuen, mich mitgenommen zu haben!« Der übereifrige Polizist rannte davon und ließ Zanolla kopfschüttelnd zurück.

Mit gerunzelter Stirn begutachtete Zanolla die Hülse. »Sieh sich das einer an! Uralt! Mindestens fünfzig Jahre!«

Nella seufzte leise. »Wieso das? Was meinen Sie?«, fragte sie beinahe argwöhnisch.

»Diese Hülse gehört zu einer neun Millimeter Patrone, die aus einer Pistole abgefeuert wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, war das eine halbautomatische Waffe, eine Pistole des deutschen Militärs«, sinnierte der Commissario.

Nella streckte die Hand aus. »Darf ich mal?«

Zanolla gab der Signora die Hülse. Aufmerksam begutachtete sie das verbogene Metallstück und gab es mit undurchsichtiger Miene zurück. »Dass man aus so einem Stück Blech überhaupt irgendetwas ableiten kann …, schwer zu sagen, oder? Wenn es eine alte Waffe ist, läuft hier vielleicht ein Geisteskranker herum und schießt wild um sich. Und wenn er gar nicht Basilio, sondern eine Kuh treffen wollte? Solche Perversen gibt es!«

Der andere Carabiniere war neugierig zu ihnen getreten und lachte, doch der Commissario musterte ihn vorwurfsvoll. »Witzig ist das nicht! Sie haben keine Vorstellung, welche absonderlichen und perversen Fantasien Gewalttäter entwickeln können. Das Töten eines Tieres, noch dazu eines so großen und weiblichen, ist oft der Einstieg. Dann ist die letzte Hemmschwelle gefallen und das Töten eines Menschen ist plötzlich leicht. Ich will Ihnen keine Angst machen, das nicht!« Er hob seinen Unterarm und die goldene Uhr blitzte.

Nella wirkte auf einmal sehr blass und mitgenommen, doch Oda konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihre Schwäche nur gespielt war. Sie wurde nicht schlau aus dieser Frau, die ihr zäher schien als manche Sechzigjährige.

»Verzeihen Sie mir, das bringt der Beruf so mit sich. Wir reden und legen die Tatsachen auf den Tisch und merken gar nicht, wenn wir zu weit gehen.« Commissario Zanolla entschuldigte sich zwar, doch seine Augen blieben kalt.

Der Tag hatte kompliziert begonnen, sich katastrophal gesteigert und steuerte auf ein desaströses Ende zu. Oda hatte langsam genug. »Wo ist Alessia eigentlich?«, fragte sie und bedauerte es sofort.

»Wer ist das? War sie dabei? Warum wurde sie nicht erwähnt?«, feuerte Zanolla seine Fragen ab.

»Ich muss mich ausruhen.« Nella griff nach Odas Hand und setzte sich in Richtung Haus in Bewegung.

Der Commissario winkte dem Carabiniere. »Rossi, sehen Sie nach, was Testa so lange macht und kommen Sie dann beide zu uns. Wir haben die Hülse. Die Tiere haben alles zertrampelt. Mehr ist auf der Weide kaum zu finden.«

Als er die Frauen eingeholt hatte, wiederholte er seine Frage.

»Alessia ist meine Enkelin. Sie ist mit ihrer Mutter einkaufen gefahren.«

Der Commissario kam mit in die Küche des Gutshauses, das einmal bessere Zeiten gesehen haben mochte. Die Küchenschränke und der Herd mochten alt sein, der Esstisch aus massivem Eichenholz, die Stühle, der Steinfußboden und die bunten Vorhänge waren jedoch sauber und liebevoll drappiert. In einem Korb lag Brot, in einer Schüssel Zitronen und Orangen und auf der Arbeitsfläche war ein Teig ausgerollt. Eine Katze saß zwischen den Kräutertöpfen auf der Fensterbank und säuberte sich die Pfoten, deren Abdrücke noch im Teig sichtbar waren.

Die Küche war riesig und in einer Ecke entdeckte Oda einen gemauerten Ofen. »Ein Steinofen!«

Nella Gambetti holte eine bauchige Flasche und drei Gläser aus einem Schrank und stellte den Brotkorb, eine Flasche Olivenöl und eine Schüssel mit Oliven auf den Esstisch. »Bitte.«

Der Commissario setzte sich so, dass er die offene Tür im Blick hatte.

»Mein Mann hat den Grappa noch selbst gemacht. Der hier ist von den Nachbarn weiter unten. Auch nicht schlecht.« Nella leerte ihr Glas in einem Zug, wartete, bis Oda ihres ausgetrunken hatte und sagte: »Und jetzt gehen Sie hinten durch, die Treppe hoch und dann die dritte Tür rechts. Nehmen Sie sich von Alessias Sachen, was Sie brauchen. Die Dusche ist zwar kalt …«

»Danke, das macht gar nichts.« Oda war schon auf dem Weg, denn der Geruch von trocknendem Blut verursachte ihr langsam einen Brechreiz.

Hinter sich hörte Oda den Commissario fragen, ob sie denn zum ersten Mal hier sei und woher sie käme. Während sie durch das Haus ging, registrierte sie stilvolle, wenn auch abgewohnte Möbel, eine Vitrine mit altem Porzellan, Gemälde, welche die toskanische Landschaft darstellten, und riesige Bodenvasen, die oben wie unten an der Treppe standen. Es war nicht schwer, sich dieses Haus vor sechzig Jahren vorzustellen. Im ersten Stock erhaschte Oda Einblick in einen Wohnraum, dessen Tür offen stand und fühlte sich ertappt. Doch dann begriff sie, dass sie nicht von einem Mann, sondern einem Porträt angesehen wurde. Durch das Spiel der Sonnenstrahlen wirkte das lebensgroße Bildnis lebendig.

Es zeigte die Dreiviertelansicht eines Mannes um die Dreißig.

Intelligente melancholische Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet, das dichte schwarze Haar sorgfältig gescheitelt, stand der Mann auf einem Hügel, die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben. Die Züge des Porträtierten wiesen große Ähnlichkeit mit denen von Sandro Gambetti auf. Vielleicht war es sein Großvater und somit Nella Gambettis Mann? Oda dachte an die Fotografie, die sie sich so oft angesehen hatte, dass sie die Gesichter mit geschlossenen Augen vor sich sah. Auf dem Foto wurde Nella von Victor und einem jungen Mann eingerahmt, dessen Züge dem Portätierten ähnelten. Was hatte Victor mit dieser Familie verbunden?