Verärgert über den Platten stieg Nella vom Rad und schob es über die Schotterpiste. Am Morgen war sie nach Monte San Savino gefahren. Ihrer Mutter und Beba ging es gut, aber den Vater durften sie nicht mehr im Gefängnis besuchen. Die Schwarzhemden waren in Aufruhr, weil drei von ihnen erschossen worden waren. Hingerichtet, hieß es überall. Nella hatte wohl gespürt, wie die Leute hinter ihrem Rücken flüsterten. Die Partisanen sind schuld an den Razzien hieß es.
Nella schob ihr Rad den Hügel hinauf. Auf einer Weide suchten magere Ziegen im schlammigen Boden nach Halmen. Aus dem niedrigen Haus dahinter hörte Nella das Gezeter einer Frau. Kinder schrieen, die Tür flog auf und ein Mann stürmte heraus. Der alte Luzzati hatte einen hochroten Kopf. Wahrscheinlich hatte er wieder getrunken. Marco zog oft genug über seine Familie her. Er war in ihrem Alter und stolz darauf, Kommunist zu sein. Wenn sie die armselige Behausung und den versoffenen alten Luzzati ansah, waren die Genossen wohl Marcos Strohhalm, an den er sich klammerte. Sein Bruder Silvio gab sich nicht mit idealistischen Schwärmereien ab. Er handelte mit allem, was Geld einbrachte und hielt die Familie über Wasser. Für keine Gaunerei war Silvio sich zu schade, aber es waren Zeiten, in denen sich moralische Grenzen auflösten.
Nur, wie weit durfte man gehen? War es legitim, seinen Padrone anzuschwärzen, um der eigenen Familie Vorteile zu verschaffen? Nella stieß einen Stein vom Weg ins Gras und wandte den Blick ab als der alte Luzzati sich übergab. Nachbarn zu verraten, war mit nichts zu entschuldigen. Jeder wusste, dass die Konsequenzen tödlich sein konnten. Und der Tod war seit Kriegsbeginn allgegenwärtig. Irgendjemand hatte den Deutschen erzählt, dass Benassis Wagen über Nacht auf dem Hof der Gambettis gestanden hatte. Von der Familie war es sicher niemand gewesen. Derzeit gab es keine Tagelöhner, nur die Kriegsgefangenen, die sich auf dem Hof versteckten und bei der Arbeit halfen. Nella schüttelte den Kopf. Jeder hier oben sah zu, dass er über die Runden kam. Die Luzzatis waren zwar die nächsten Nachbarn, aber Marco gehörte zur Gruppe. Wahrscheinlicher war, dass Benassis Route bei den Faschisten bekannt gewesen war. Die Deutschen gingen aus geringstem Anlass gegen vermeintliche Widerstandskämpfer vor, und drei erschossene Faschisten waren ein willkommener Grund, um gemeinsam mit den Schwarzhemden eine Strafaktion durchzuführen.
Ein Krähenschwarm flog auf. Nella spuckte dreimal auf den Boden. Das hatte ihre Großmutter ihr beigebracht. »Unglücksbringer! Verzieht euch bloß!«, rief sie und beschleunigte ihren Schritt. Als sie die Hügelkuppe erreichte, erwartete sie fast, die Deutschen zu sehen. Aber noch lag der kleine Hof friedlich am Waldrand. Aus dem Stall war das Blöken der Rinder zu hören. Hühner liefen über den Hof, und erleichtert entdeckte Nella auch Nuccias geliebten Fasan. Mit hoch erhobenem Kopf wackelte der farbenprächtige Vogel über den Hof.
Je näher Nella kam, desto merkwürdiger fand sie, dass niemand zu sehen war. Sie warf das Rad gegen den Weidezaun und rannte auf das Wohnhaus zu. »Nuccia, Renzo! Seid ihr da?«
Mit zwei Sätzen nahm sie die Treppe und stieß die Küchentür auf. Ein Suppentopf brodelte auf dem Herd vor sich hin, auf dem Tisch lag ein angeschnittenes Brot. »Hallo? Wo seid ihr?«, rief Nella mit zunehmender Angst.
Die Schwarzhemden waren doch nicht etwa schon hier gewesen und hatten alle mitgenommen? Panisch lief sie durch den Flur, das Esszimmer, die Treppen hinauf in den ersten Stock. Immerhin sah es nicht so aus, als wären Soldaten hier gewesen. Die Möbel waren unbeschädigt, keine Spuren von Verwüstung. Endlich hörte sie leises Gemurmel aus der Wohnstube im ersten Stock. Sie öffnete die Tür und fand Nuccia schluchzend auf dem Sofa, während Renzo am Kamin stand und auf sie einredete. Er schien erleichtert, Nella zu sehen. »Gut, dass du da bist! Wie war es in der Stadt? Hast du deinen Vater gesehen?«
Sie legte Schal und Mantel ab und rieb sich die verfrorenen Hände vor dem Feuer. »Nein. Heute haben sie niemanden zu den Gefangenen gelassen. Wegen der Razzien. Waren sie schon hier? Wo ist Maurizio?«
Bei der Erwähnung des Namens verstärkte sich Nuccias Schluchzen. »Er wird nicht zurückkommen. Ich spüre das. Eine Mutter spürt so etwas.«
Renzo warf die Hände in die Luft. »So geht das schon den ganzen Vormittag! Reiß dich zusammen, Nuccia! Maurizio ist auch ein Gambetti. Er wird das durchstehen. Herrgott, er wurde ja immer nur verzärtelt. Vielleicht tut ihm der Ausflug ganz gut …«
»Ist er zu Alcide in den Wald?«, fragte Nella.
»Rachele kam kurz nach Sonnenaufgang. Sie haben erfahren, dass die Soldaten heute zu uns kommen. Die Engländer sind auch mit ihr fort. Wenn sie nur einen hier finden …« Renzo schwieg und warf ein Stück Holz in das schwach flackernde Feuer.
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Nella nickte und beugte sich zu Nuccia. »Maurizio ist doch nicht allein. Alcide ist bei ihm. Gino und Rachele und ich sehen oft nach ihm. Was soll da schon passieren? Er kann sich einen Schnupfen holen. Ah, das wird er schon überstehen! Komm, ich mache uns einen Kaffee.«
»Ist keiner mehr da.« Nuccia schnäuzte sich die Nase. »Die Suppe ist wahrscheinlich verkocht …«
»Vorhin roch es sehr gut. Ich kümmere mich darum«, erbot sich Nella.
Doch Nuccia schien sich gefangen zu haben und ihr hausfraulicher Stolz war gefordert. »Ich mach das schon. Wenn du Renzo beim Füttern helfen könntest, wäre das eine größere Hilfe. Wo steckt nur Elsa? Da geben wir ihnen schon ein Stück Land, für das sie kaum etwas bezahlen müssen, und dann können sie nicht mal ihre Arbeit machen … «
Elsa war eine Tochter der Luzzatis. Mit dreizehn Jahren war sie kräftig genug, Arbeiten auf dem Hof zu übernehmen und besuchte die Schule nur noch unregelmäßig. Die Pacht war so gering, dass die Gambettis als Ausgleich etwas Hilfe erwarten konnten. Bisher hatten sich die Luzzatis an die Abmachungen gehalten. Nella beschlich ein furchtbarer Verdacht. Wenn nun Elsa sie … und der alte Luzzati hatte sich deshalb betrunken.
»Kann sein, dass Elsa ihrer Mutter helfen muss. Als ich am Haus vorbei ging, hörte ich Streit und der Alte hat mal wieder über die Stränge geschlagen«, sagte Nella zu Renzo.
»Ich versteh den Kerl nicht. Wie will er seine Familie durchbringen, wenn er ständig säuft …« Renzo seufzte. »Na komm, Nella. Ich bin froh, dass wir dich hier haben. Aber die schwere Arbeit sollst du auch nicht machen müssen. Wenn die Mistkerle hier waren, Gott gebe, dass sie uns in Ruhe lassen, kann Alcide mit den Engländern den Stall ausmisten.«
Renzo war so groß wie sein Sohn und hatte angenehme Gesichtszüge, die von der Arbeit im Freien geprägt waren. Freundlich strich er Nella über die Haare. »Wenn der verdammte Krieg nur erst vorüber wäre. Frauen sollten keine Waffen tragen und sehen, was du bereits mit ansehen musstest. Rachele hat mir gesagt, dass sie gestern schon zwei Höfe heimgesucht haben. Den einen haben sie niedergebrannt, weil der Sohn sich mit gefälschten Papieren vor der Einberufung gedrückt hatte.«
Nella sog scharf die Luft ein. »Maurizio musste fort.«
»Natürlich.« Renzos Stimme zitterte leicht. Nur seiner Frau gegenüber gab er sich zuversichtlich. Es wäre ein Wunder, wenn der kränkliche Junge den kalten Winter im Partisanenlager überstand.
»Sollen wir das Feuer ausmachen?« Nella sprach die letzten Worte kaum zu Ende, da knirschte draußen der Kies unter schweren Militärfahrzeugen. Der Hund bellte und Faschist rief: »Sergente, sollen wir vorgehen, wie heute morgen?«
Nella stürzte ans Fenster, sah ein Motorrad mit Beiwagen und einen Kastenwagen der Schwarzhemden. Der Sergente, in dessen Koppel eine Peitsche steckte, stieg aus dem Beiwagen und wollte sich gerade in Positur bringen als lautes Hupen ertönte und ein deutscher Meldewagen in den Hof rauschte.
»Verflucht, jetzt kommen auch noch die Nazis!« Renzo war neben sie getreten. »Bleib hier oben.«
Doch Nella klopfte auf ihre Tasche, in der ihre Pistole lag. »Ich lasse euch nicht allein.«
Gemeinsam liefen sie hinunter in die Küche, wo Nuccia am Herd stand und wie in Trance die Suppe umrührte. »Er wird nicht zurückkommen. Mein Junge wird nicht zurückkommen …«
»Nuccia«, Nella stellte den Topf zur Seite und dirigierte die apathische Frau auf einen Stuhl. Dann küsste sie Nuccia auf die Stirn und flüsterte in ihr Ohr: »Du musst jetzt stark sein. Maurizio ist in Sicherheit. Das ist alles, was zählt.«
»Ja, das allein zählt, das allein ist wichtig.« Nuccia nickte wie zur Bestätigung mehrfach vor sich hin.
Renzo war bereits die Treppen in den Hof hinunter gegangen, wohin Nella ihm folgte. Ein schwaches Gefühl von Hoffnung keimte in ihr auf als sie Victor Bergemann aus dem Meldewagen steigen sah.
Die Schwarzhemden grinsten und machten anzügliche Gesten, die von ihrem Sergente mit höhnischer Miene quittiert wurden. »Wer ist gestern abend und heute morgen zu kurz gekommen?«
Die Männer gröhlten und schubsten einen dicklichen Faschisten vor, der seinen Revolver zog und auf Nella zeigte. »Komm her!«
»Jetzt ist es genug!« Mit eisiger Miene schritt Victor Bergemann auf die kleine Versammlung zu. Begleitet wurde er von zwei Soldaten, von denen einer ein Maschinengewehr geschultert hatte. Der andere knöpfte sein Pistolenhalfter auf.
Victor Bergemann trug einen langen Uniformmantel, glänzende Stiefel und eine dekorierte Schirmmütze, unter der er den Faschisten einen vernichtenden Blick zuwarf. Auf Italienisch herrschte er die leicht verunsicherten, jedoch keineswegs eingeschüchterten, Schwarzhemden an: »Sind die Stallungen durchsucht worden? Wie steht es mit dem Wohnhaus? Herumstehen und Maulaffen feilhalten bringt uns nicht weiter!«
»Wir sind ja gerade erst eingetroffen. Außerdem können wir diese Angelegenheit allein regeln. Unsere Männer sind getötet worden, nicht eure!«, erwiderte der Sergente giftig.
»Dass der Widerstand überhaupt noch aktiv ist, ist eurem Versagen zuzuschreiben. Wir überwachen die Bandenbekämpfung und Sühnemaßnahmen sind von uns zu erlassen. Ihr könnt mit der Durchsuchung beginnen, gebt mir Bericht und dann entscheide ich über weiteres Vorgehen«, befahl Victor Bergemann dem Sergente, der die Zurechtweisung zähneknirschend hinnahm.
Die Faschisten waren in einer denkbar schlechten Lage. Nach Jahren der Unterdrückung des eigenen Volkes waren sie noch verhasster als die deutschen Besatzer.
»Wir wissen, wie man mit der Partisanenpest umzuspringen hat. Das ist Gesindel und muss ausgerottet werden, so wie man Schädlinge vernichtet. Aber man muss systematisch vorgehen!«, fügte Victor hinzu.
Renzo zuckte, wurde jedoch von Nella sacht angestoßen und blieb stumm. Sie war davon überzeugt, dass Victor die brutalen Worte mit Bedacht ausgewählt hatte. Die Schwarzhemden fügten sich. Zwar hatten die Deutschen die Befehlsgewalt an sich gerissen, was dem Sergente gegen den Strich ging, doch der deutsche Offizier hatte den richtigen Ton getroffen. Man war sich über die Vorgehensweise einig.
Es wurde mit der Hausdurchsuchung begonnen. Daran konnte auch Victor nichts ändern und musste zulassen, dass die Faschisten sich an den kostbaren Vorräten vergriffen. Zähneknirschend beobachteten Nella und Renzo, der neben seiner immer noch apathisch wirkenden Frau stand, wie die Kerle einen Schinken, zwei Flaschen Olivenöl und einige Flaschen Wein in ihren Wagen trugen. Der Sergente ließ sich Grappa von Renzo eingießen und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Mit gierigen Augen maß er die Küche und das, was vom Flur zu sehen war.
»Dass es so was Gutes noch gibt in diesen schlimmen Zeiten.« Der Faschist schnippte gegen das Grappaglas. »Euch geht es besser als vielen. Warum sollte sich euer Söhnchen nicht hier verstecken?«
Victor stand in der Tür, die in den Hof führte und beobachtete das Treiben der Faschisten. Manchmal gab er einem seiner Männer einen Wink.
»Unser Sohn ist ordnungsgemäß abgefahren. Er hat seine Papiere geholt und wir haben uns von ihm verabschiedet. Mehr wissen wir nicht. Möge Gott ihn beschützen, wenn er für unser Vaterland kämpft!«, sagte Renzo ruhig und voller Überzeugung.
Nuccia schluchzte. »Mein armer Junge. Mein armer Junge … Er ist viel zu jung für den Krieg.«
»Was ist mit euren anderen Söhnen? Bewirtschaftet ihr den Hof allein? Das könnt ihr doch gar nicht schaffen!«, wollte der Sergente wissen.
»Sie sind alle im Krieg«, erwiderte Renzo schnell. »Ihr seht doch, wie wir hier leben. Die Frauen müssen die schwere Arbeit mit übernehmen. Und was nicht zu schaffen ist, bleibt liegen. Es ist eure Schuld, wenn die Felder nicht gepflügt werden können!«
»Halt deine Zunge im Zaum, alter Mann«, sagte der Sergente drohend. »Ich kenne euch Grundbesitzer. Euch ging es noch nie schlecht, aber immer was zu Stöhnen! Das wird sich auch noch ändern. Irgendwann werden die Besitzungen neu verteilt und dann bekommt ihr nichts ab!« Der Sergente erhob sich und ging zur Tür. »Ist doch bei euch zu Hause genauso, nicht wahr, Major?«
»Die Durchsuchung des Innenbereiches ist wohl abgeschlossen. Machen wir draußen weiter«, sagte Bergemann.
Der Sergente spuckte abfällig aus. »Ich will noch sehen, wo der Pfad hinter den Ställen hinführt. Vielleicht sollten wir den Wald hinter euren Feldern gleich mit durchkämmen. Da versteckt sich viel Gesindel!«
»Davon wissen wir nichts! Die beklauen uns doch sowieso. Kaum dreht man sich hier um, kommt so eine abgerissene Figur aus den Wäldern und stiehlt, was nicht festgebunden ist!« Renzo gab sich entrüstet.
»Wie sagten unsere Verbündeten noch – Ungeziefer? Ja, das Ungeziefer kriecht überall herum. Na los, zeigt uns, wo der Wald an euer Land grenzt.«, beharrte der Sergente und streckte die Hand nach Nella aus. »Das Täubchen kommt mit.« Er schubste Renzo nach hinten. »Bleib schön ruhig, Alter, dann passiert dir nichts.«
Angstvoll suchte Nella Blickkontakt mit Victor, der sie ignorierte, aber dem Sergente kumpelhaft auf die Schulter schlug. »Ihr habt schon genug geleistet heute, Kamerad. Lasst uns die Sache mit dem Wald übernehmen. Signor Gambetti hat sicher noch eine Flasche von dem Grappa für euch.«
Gierig starrte der Sergente auf den Grappa.
»Nehmt diese mit. Das ist der Rest.« Renzo legte seiner völlig aufgelösten Frau den Arm um die Schultern. »Ich bringe meine Frau nach oben.«
Nuccia stand kurz vor dem Zusammenbruch. Sie zitterte und kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Solange ihr jüngster Sohn bei ihr im Haus gewesen war, hatte sie Stärke gezeigt, doch nun stand ihr die schiere Furcht ins Gesicht geschrieben.
Unsicher drückte sich Nella in die Ecke neben dem Herd. Doch die Schwarzhemden zogen sich zurück und etwas von der Anspannung wich aus ihrem Körper.
»Begleiten Sie uns, Signorina?« Victor ließ die Frage wie nebenbei fallen. »Sie sind ortskundig.«
Keine Frage, sondern ein Befehl, dachte Nella und stellte den Gasherd aus. Aus der Garderobe holte sie wahllos eine Wolljacke und folgte dem Offizier. Sie war zwar erleichtert, dass nicht der Sergente, sondern Victor Bergemann sie als Begleitung verlangte, doch die Angst kroch erneut in ihre Glieder. Ihre Tasche mit der Pistole lag oben, und Alcide war im Wald bei den anderen. Sie war auf sich allein gestellt.
Mit der Grappaflasche in den Händen setzte sich der Sergente in den Beiwagen und wirkte sehr zufrieden. Seine Männer brachten ihre Beute ebenfalls in den Wagen und ließen die Motoren an.
»Wollen Sie das wirklich allein machen?«, brüllte der Sergente gegen den Lärm.
Victor Bergemann nickte. »Fahren Sie nur. Wenn wir Verstärkung brauchen, fordere ich sie umgehend an.«
Mit einem widerwärtigen Grinsen klopfte der Faschist gegen die Tür seines Beiwagens. »Dieses Mal soll es so sein. Sie sind scharf auf die Kleine. Was soll’s, wir holen uns woanders, was wir brauchen. Vom Regen in die Traufe, Mädchen!« Sein anzügliches Lachen vermischte sich mit dem Motorenlärm und dröhnte in Nellas Ohren.
Nachdem Victor Bergemann einen seiner Soldaten herangewinkt und ihm Befehle in seiner Muttersprache gegeben hatte, wandte er sich an Nella. »Bitte, nach Ihnen, Signorina.«
»Was wollen Sie denn sehen? Da ist nur ein Trampelpfad, der zum Wald führt«, sagte sie und zog die Jacke enger um mich.
»Zeigen Sie ihn mir.« Victors Bergemanns Stimme war bestimmt und gleichzeitig bittend.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. An der Ölmühle sah Nella sich um, doch keiner der deutschen Soldaten folgte ihnen.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe meinen Leuten gesagt, dass sie auf mich warten und eine Zigarette rauchen sollen. Haben Sie etwas dagegen, dass ich mit Ihnen allein sein wollte?«
»Ich …« Der eisige Wind fuhr durch die Wolljacke und ließ sie zittern. Wenn es diesem Nazioffizier einfiel, konnte er eine Mannschaft herbeordern und das Gelände durchkämmen lassen.
Sie hatten den Waldrand erreicht. Nella lehnte sich gegen den Weidezaun und deutete auf einen Pfad, der parallel zu den Bäumen verlief. »Weiter oben kann man durch den Wald über den Hügel gehen. Und dann gibt es die Wege für die Forstwirtschaft.«
Victor Bergemann nickte abwesend und stützte die behandschuhten Hände auf den Holzzaun. Der Deutsche stand einfach da und ließ seinen Blick über die Felder, den Wald, den kleinen Ziegenstall und die Ölmühle schweifen.
Immer wieder sah Nella zum Waldrand hinüber, konnte jedoch keine Gestalt zwischen den Bäumen ausmachen. Dabei war sie sicher, dass mindestens ein Wachposten irgendwo dort drübern lauerte und sie beobachtete. Was mussten die anderen von ihr denken, dass sie hier allein mit dem Deutschen stand. Nervös hob sie den Blick. Der Himmel hing voller grauer Wolken und plötzlich begann es zu schneien. Dicke weiße Flocken schwebten sacht durch die kalte Luft und selbst der Fluglärm aus dem fernen Arezzo klang nur noch gedämpft zu ihnen durch.
»Schnee in der Toskana. Wer hätte das gedacht«, sagte Victor Bergemann, nahm seine Mütze ab und ließ die Eiskristalle auf seine geschlossenen Augen sinken.
Ungläubig und seltsam berührt betrachtete Nella den feindlichen Offizier. Aus den Augenwinkeln nahm sie gleichzeitig eine Bewegung im Wald wahr, als ob sie an ihre Pflicht erinnert werden musste. Die langen Jahre des Faschismus und des Krieges hatten die Menschen geprägt, sie in Lager eingeteilt. Wer überlief, war ein Verräter, denn man konnte nicht zu beiden Seiten gehören. Aber mein Herz gehört mir allein, dachte Nella.
Nach einer Weile setzte der Major seine Mütze wieder auf. »Normalerweise würde ich Ihnen meinen Arm reichen, aber ich nehme an, dass wir beobachtet werden. Ich danke Ihnen, Signorina … Verraten Sie mir Ihren Namen?«
»Nella. Nella Riccardi«, antwortete sie leise.
»Sie holen sich noch den Tod in der dünnen Jacke. Gehen wir zurück.«
Als sie diesmal schweigend nebeneinander hergingen, war es ein einträchtiges Schweigen, so als hätten sie eine stille Übereinkunft getroffen.