Kapitel 4

Im vorletzten Kriegswinter wütete die Kälte mit einer derart unerbittlichen Härte, dass die Leute sich fragten, ob der Himmel sie noch zusätzlich bestrafen wollte. Die Natur schien sich verschworen zu haben, den Menschen ihre Dummheit und Schwäche aufzuzeigen. Immer mehr Flüchtlinge kamen durch das Chianatal, und die Vorräte schrumpften auf ein Minimum. Nella und den Gambettis fiel es schwer, den verhungerten Gestalten das Wenige vorzuenthalten, was sie doch selbst zum Überleben brauchten.

Aus Florenz kamen täglich neue Schreckensmeldungen. Die Judenverfolgung spitzte sich zu. Selbst seit Jahren Konvertierte wurden nun erbarmungslos gejagt. Die SS regierte Florenz mit äußerster Brutalität und unter der Hand sprach man von der Villa Triste. Das war ein Haus in der Nähe der San Gallo Kirche, in dem Verhöre und Folterungen durchgeführt wurden. Kaum jemand kam dort lebend wieder heraus. Die Klöster quollen über von Flüchtlingen und jeder Unterschlupf war mit irgendeiner armen Gestalt besetzt, die vor Hunger und Kälte nicht in den Schlaf kam.

Am dritten Sonntag vor Weihnachten rollten die Deutschen erneut mit ihrem Meldewagen in den Hof. Nella verbrachte nach wie vor die meiste Zeit bei den Gambettis. Ihr Vater war für wenige Tage aus dem Gefängnis entlassen und wegen einer Nichtigkeit wieder inhaftiert worden. Noch hatte man ihn nicht in ein Lager überführt, aber das konnte jederzeit passieren. Nellas Mutter sprach täglich in der Wache vor und bestach die Schwarzhemden mit allem, was sie sich vom Munde absparen konnte. Von Nella bekam sie zusätzlich Ziegenmilch, doch mehr konnte niemand entbehren.

Durch die Arbeit in der Kälte hatte Renzo sich einen chronischen Husten zugezogen. Mit Besorgnis beobachtete Nella den einst kräftigen Mann, der innerhalb weniger Wochen viel von seiner Vitalität verloren hatte. Racheles Vater gab ihnen an Medikamenten, was er hatte, aber das war nicht mehr viel. Ihre Hoffnung ruhte auf den Alliierten, die Italien endlich vom Joch der Besatzer und der Faschisten befreien sollten.

Alcides Vater wurde von einem heftigen Hustenanfall erfasst und hielt sich am Türrahmen fest. Er kam aus dem ersten Stock, wo er sich ganz entgegen seiner Gewohnheit, eine Stunde hingelegt hatte.

»Renzo, das hört sich nicht gut an. Es sind noch Kräuter da, mit denen du inhalieren kannst.« Nella setzte den Wasserkessel auf.

Er wischte ihren gut gemeinten Ratschlag mit einer Hand fort. »Was wollen die hier? Wir haben nichts mehr, was sie uns noch nehmen könnten.«

Die Tiere, dachte Nella und trat ans Fenster. Aber es war keine Kolonne, sondern der Meldewagen mit Major Bergemann und zwei Soldaten. »Von denen haben wir nichts zu befürchten.«

Missfallen lag in seiner Stimme als er sagte: »Du wirst es wissen, Nella.«

»Was soll das? Ist es vielleicht schlecht, dass der deutsche Offizier die Faschisten davon abgehalten hat, den Hof zu plündern und mich …« Sie feuerte einen wütenden Blick auf Renzo ab.

Der wurde von einem neuen Hustenanfall gepackt und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Im Hof wurden Autotüren zugeschlagen und die Fasane schrieen. »Was ist denn nur los?« Nella zog ihren Mantel über, wickelte sich einen Schal um und rief ins Haus: »Nuccia!«

»Sie ist draußen.«, krächzte Renzo, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben.

»Himmel auch. Die verfluchten Fasane. Soll man sie doch einfach schlachten!«, murrte Nella und stürmte nach draußen.

Als sie Nuccia wild fuchtelnd vor dem Fasanengehege herumspringen sah, schämte sie sich für ihren Gedanken. Maurizios Flucht in die Wälder hatte Nuccia verändert. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Fasane standen symbolisch für eine vergangene heile Welt. Wenn die Soldaten sie töteten, was durchaus geschehen konnte, denn die deutschen Funker machten sich einen Spaß daraus, die Vögel aufzuscheuchen, befürchtete Nella für Nuccia Schlimmes.

Victor selbst stieg gerade aus dem Wagen. »Was ist denn hier los?«

»Sie wollen sie töten! Das dürfen sie nicht! Verfluchte Mörderbande! Verschwindet, verschwindet endlich!«, schrie Nuccia außer sich.

Nella rannte zu ihr und wollte sie beruhigen, doch die arme Frau war hysterisch.

»Nuccia, es ist gut. Niemand will die Fasane töten. Das sind Funker. Die haben einen anderen Grund, hier zu sein.« Nella fiel zwar kein triftiger Grund ein, doch sie erlangte zumindest Nuccias Aufmerksamkeit.

Außer Atem murmelte Nuccia: »Was wollen sie dann hier? Sie wollen Maurizio holen! Sie wollen meinen kleinen Jungen holen, aber ich gebe ihn nicht her …«

Signora Gambetti war ohne Jacke hinausgelaufen, stand zitternd in Rock und Bluse in der Kälte. Doch sie schien davon nichts zu spüren. Plötzlich griff sie mit unerwarteter Kraft Nellas Handgelenk.

»Wenn sie meinen Jungen nicht haben können, töten sie uns alle. Sie haben böse Augen. Siehst du das nicht? Sie kommen direkt aus der Hölle! Verfluchte Mörderbande! Verschwindet endlich!« Mit irrem Blick starrte Nuccia die Deutschen an, die lachten und sich abwandten.

»Was ist denn nur mit der Signora los?«, fragte Bergemann und winkte seine Männer zu sich. »Wir haben nichts getan!«

»Es geht ihr nicht gut und die Fasane sind ihr ein und alles«, versuchte Nella zu erklären.

Da kam auch schon Renzo, nahm seine Frau in die Arme und redete leise auf sie ein.

»Ich ertrage das nicht mehr. Sie sollen uns in Ruhe lassen. Ich will meinen Sohn zurück … Er wird sterben. Ich weiß, dass er sterben wird. Eine Mutter fühlt so etwas!« Nuccia schlug sich auf ihre Brust und weinte.

Es kostete Renzo große Mühe, seine Frau zu beruhigen. »Wenn die Not am größten ist, wachsen die Menschen über sich hinaus, Nuccia. Maurizio wird sich da draußen behaupten. Er ist ein Gambetti, vergiss das nicht. Wir sind aus hartem Holz geschnitzt.«

»Wir wollen Ihnen nichts fortnehmen. Obwohl die Fasane sicher ein Festmahl für die Männer wären.« Victor Bergemann wirkte angegriffen und die ausgezehrten Gesichter seiner Männer sprachen eine deutliche Sprache. »Bitte, hören Sie mir zu.«

Nella stellte sich neben Renzo, der Nuccias Hand festhielt.

»Es gibt neue Befehle. Alle Männer werden jetzt eingezogen. Alle, ohne Ausnahme.« Victor Bergemann rückte seine Schirmmütze gerade und musterte Renzo, der hustete, als wolle er seine Lungeflügel nach außen kehren. Mit wenigen Worten schickte Victor seine Männer zum Wagen und sprach dann schnell und eindringlich auf Renzo und Nella ein.

»Kranke und Alte nicht, aber sonst holen sie jeden! Es werden noch mehr Razzien durchgeführt. Wenn Sie Verwundeten oder Flüchtigen helfen, sollten Sie sich jetzt vorsehen.«

»Nuccia«, sagte Renzo zu seiner Frau. »Wir gehen hinein und suchen eine Flasche Wein für diesen Mann.«

Widerstandslos folgte Nuccia ihrem Mann ins Haus und Nella blieb mit dem Major im Hof zurück.

»Warum tun Sie das?«, fragte sie.

»Was?«

Nella konnte die Soldaten im Wagen lachen hören. »Uns warnen.«

Seine grauen Augen sahen traurig zum wolkenverhangenen Himmel. »Es wird wieder Schnee geben. Ich hätte nie gedacht, dass es hier so kalt sein kann.«

Der Boden war seit Tagen gefroren. Unter anderen Umständen wären Schnee und Eis so kurz vor Weihnachten willkommen gewesen. Wie es aussah, würde die Kälte nur weitere Opfer fordern. Victor ging auf das Fasanengehege zu. Die Vögel hockten in einer Ecke und äugten misstrauisch. »Ein Wunder, dass die noch leben.«

Nervös schaute Nella hin und wieder zur Einfahrt, denn Alcide war in die Stadt gefahren, um Schmieröl zu besorgen und konnte jeden Augenblick zurückkommen. »Sie haben ja gesehen, wie sehr Signora Gambetti an den Tieren hängt. Das lässt sich rational nicht erklären. Aber sicher, wenn es gar nichts mehr zu essen gibt …«

»Was ich Ihnen nun sage, würde mich vor ein Erschießungskommando bringen..« Er stand neben ihr, die Hände in den Manteltaschen vergraben und wirkte sehr einsam. »Der Krieg ist verloren, Signorina Riccardi.«

»Mein Gott.« Nella presste eine Hand an die Lippen.

»Sie geben sich große Mühe, die Lage schön zu reden, verteilen Propagandablätter. Alle sollen glauben, dass die Alpenpässe, Eisenbahnen und Strassen in deutscher Hand sind. Rom steht unter deutschem Schutz.« Vehement schüttelte er den Kopf. »Freiwilligenkorps sollen jetzt die letzten Reserven bilden und den Sieg erringen. Wer rennt denn noch blindlings dem Tod entgegen? Warum haben wir uns überhaupt jemals dazu hinreißen lassen? Welch ein Wahn …«

»Würden Sie so sprechen, wenn der Sieg zum Greifen nah wäre?« Sie hatte keine Angst vor diesem Deutschen, trotz der irrwitzigen Situation, in der sie sich befanden.

Victor heftete seine hellen Augen auf sie. »Würden Sie mir glauben, wenn ich es bejahte?«

»Nein.«

»Ich kann es Ihnen nicht verdenken.« Er räusperte sich und sah zum Wagen. »Also, denken Sie daran, es werden weitere Razzien durchgeführt in den kommenden Tagen. Wir haben neue Befehle erhalten. Jeder, der Widerstand leistet oder mit Banden paktiert, ist sofort standrechtlich zu erschießen. Keine Rücksicht auf Kinder, Frauen oder Alte.« Victors Lippen waren schmal. »Es tut mir leid. Mehr kann ich nicht tun.«

»Sie haben sehr viel für uns getan. Danke, Victor.« Sie wollte seinen Namen aussprechen, das Vertrauen, das er ihr entgegengebracht hatte, rechtfertigen.

Er lächelte und als Nella sah, dass sich kleine Fältchen um seine Augen kräuselten, wusste sie, dass er sie verstanden hatte. Zu einer Antwort kam Victor Bergemann nicht, weil Renzo mit der Weinflasche aus der Küche kam, stehen blieb und kurz seinen Arm reckte. Es war eine kleine, wie zufällige Geste, doch jeder, der sich dem Hof näherte, würde wissen, dass etwas nicht stimmte. Sofort schaute Nella zur Straße und sah Alcide gerade noch sein schwer beladenes Fahrrad die Böschung hinunter stoßen. Beim nächsten Augenzwinkern waren Mann und Rad verschwunden als wären sie nie dort gewesen. Der deutsche Meldewagen stand mit der Schnauze Richtung Küche, so dass die Soldaten Alcide nicht entdeckt hatten.

Victor Bergemann durften die Heimlichkeiten nicht entgangen sein. Ohne sich jedoch etwas anmerken zu lassen, sagte er: »Es ist sehr freundlich von Signor Gambetti, mir den Wein zu schenken. Ich werde die Flasche mit meinen Männern teilen.«

»Das ist eine gute Idee.« Nellas Stimme zitterte.

»Auf Wiedersehen, Signorina.« Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft.

Als sie in seine Augen sah, verspürte sie einen beinahe wehmütigen Abschiedsschmerz. Sofort entzog sie Bergemann ihre Hand und lächelte höflich, während Renzo die Weinflasche überreichte.

Der Motor des deutschen Militärfahrzeugs dröhnte noch in der Ferne als Alcide langsam den Kopf über den Böschungsrand streckte.

»Sie sind weg! Komm schon! Oh Gott, was für ein Glück wir hatten! Hast du das Schmieröl bekommen?«, rief Nella aufgeregt und lief Alcide entgegen.

»Ja, hab ich. Was war denn los? Suchen die nach mir?« Er klopfte sich den Schmutz von der Hose. »Mir ist kalt. Hier, nimm den Korb. Da ist Stopfzeug drin.«

Alles wurde knapp, auch Wolle und Garn. Nella hatte nie besonders gut stricken können, aber wenn der Pullover nur wärmte, spielten Äußerlichkeiten keine Rolle. »Sie ziehen jetzt alle Männer ein, aber der deutsche Offizier hat uns gewarnt.«

Alcide zog das Rad die Böschung hinauf und musterte Nella. »Das ist ja ausgesprochen freundlich von den Herren Besatzern, dass sie jetzt Offiziere aufs Land schicken, um uns zu warnen.« Mit finsterer Miene schob er das Rad über den steinigen Weg.

»Er hat auch gesagt, dass der Krieg verloren ist. Die Deutschen ziehen ab. Ist das nicht großartig? Und wenn er dafür Wein bekommen hat, das ist es doch wert«, verteidigte Nella sich, obwohl sie nicht musste, denn sie hatte nichts Unehrenhaftes getan!

»In Ordnung, ich habe verstanden.«, erwiderte er heftig.

»Wie geht es Maurizio? Deine Mutter macht sich schreckliche Sorgen.« Es begann zu schneien und Nella fühlte die Eiskristalle auf ihren heißen Wangen schmelzen.

»Nicht gut. Er hält das nicht lange aus da oben. Vielleicht kann er doch wieder auf den Dachboden.«

»Nur das nicht! Bergemann hat gesagt, es kommen noch mehr Razzien. Wir sollen auf keinen Fall jemanden verstecken.«

»Na, wenn dein Deutscher das sagt, sollten wir uns wohl besser danach richten.«

Blinzelnd wischte sich Nella die Augen. »Hör auf damit, Alcide. Hör bitte auf!« Verzweifelt rannte sie zum Stall und suchte Trost zwischen den dampfenden Rinderleibern.

Victor Bergemanns Warnung bewahrheitete sich bald auf bitterste Weise. Eine Razzia folgte der nächsten und diente zu nichts anderem als Plünderungen. Die Strafverfolgung von Widerstandskämpfern wurde wie selbstverständlich und nebenbei erledigt. Verdächtige wurden sofort erschossen oder am nächsten Baum aufgeknüpft. Die neue Qualität der Grausamkeiten hielt die Partisanen jedoch nicht von weiteren Aktionen ab, sondern steigerte den allgemeinen Widerstandsgeist. Nella beteiligte sich an Verminungen von Eisenbahnschienen genauso wie an einer Brückensprengung.

Als zwei Lastwagen eines deutschen Fallschirmspringerregimentes wenige Tage vor Weihnachten in den Hof fuhren und die letzten Rinder aufluden, knirschte sie mit den Zähnen. Doch zumindest hatte sie die Genugtuung, dem Feind bereist empfindlichen Schaden beigefügt zu haben. Die Gambettis besaßen noch ein Schwein, eine Kuh und wenige Kleintiere Nella hatte ihre eigenen Tiere nach und nach auf den Hof der Gambettis gebracht, um sich die gefährliche Route durch die Hügel zu ersparen. Kaninchen und Hühner waren bei den Plünderern beliebt und wenn es nicht rechtzeitig gelang, die Käfige zu verbergen, nahmen die Soldaten alles mit.

Nella stampfte Kartoffelschalen und streute den Rest Soda, den sie noch gefunden hatte, in den Topf auf dem Herd. Die undefinierbare Masse darin brodelte und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Aus Fettresten, getrockneten Blüten und Kartoffelstärke sollte Seife werden. Auch diese Weihnachten gab es keine Geschenke, aber zumindest ein Stück Seife.

»Buongiorno, Nachtvögelchen!« Mit Rachele strömte ein Schwall kalter Luft in die stickige Küche.

»Lass das! Nicht hier!«, zischte Nella und sah in den Flur, doch sie waren allein. Vor Nuccia und Renzo wäre es weniger verhängnisvoll, ihren Decknamen preiszugeben, doch wenn Elsa Luzzati zugegen war, mussten sie aufpassen. Gufo, Uhu, war Nellas Deckname. Ihr ältester Bruder, Michele, der seit einem Jahr bei einer Brigade im Norden war, hatte den anderen ihren Spitznamen aus Kindertagen verraten. Der Name rührte von Nellas Fähigkeit, den Ruf eines Kauzes täuschend echt nachzuahmen.

»Wir sind doch unter uns!« Rachele zog eine grüne Wollmütze vom Kopf und schüttelte den Schnee aus. »Hast du etwas Warmes zu trinken für mich? Ich bin den ganzen Weg von Monte raufgeradelt. Zum Henker, was stinkt denn so ekelhaft?«

»Es duftet! Wir kochen Seife«, grinste Nella.

»Jetzt, wo du es sagst …« Ihre Freundin warf die Meldetasche samt Schal und Handschuhen auf einen Stuhl und pellte sich aus zwei Wolljacken. Erschöpft und mit geröteten Wangen setzte sie sich und band die Schuhe auf. »Nass, kalt … ich hab’s so satt. Mein Vater rationiert das Feuerholz.«

»Wir heizen meistens mit Olivenkernen«, konstatierte Nella trocken.

»Ihr habt wenigstens genug davon.«

Nella goss heißes Wasser in einen Becher, streute Kräuter hinein und schob ihrer Freundin das karge Getränk zu. »Zucker und Honig sind aus. Die haben sogar die Bienenstöcke ausgeräuchert. Ist das zu fassen?«

»Deutsche Bastarde!« Rachele schnupperte an ihrem Becher und umschloss ihn fest mit den Händen. »Aber die Faschos sind auch nicht besser. Hast du es schon gehört? Die holen sich die Halbstarken aus der Besserungsanstalt und stecken sie in Uniform. Die sehen so übel aus wie die Kerle von der SS und benehmen sich noch schlimmer! Mit ihren Pistolen feuern diese Halbaffen einfach auf alles, was ihnen in die Quere kommt. Seit drei Tagen ziehen sie mit einem Caporale durch die Stadt und holen die Leute frühmorgens aus den Häusern. Vollkommen unberechenbar ist diese Brut! Mein Vater musste zusehen, wie sie einen seiner Patienten aus dem Hospital mitgenommen haben. Der arme Mann hat eine Lungenentzündung!«

»Hast du meine Familie gesehen?«, fragte Nella ängstlich.

Rachele nickte und holte tief Luft, bevor sie antwortete: »Deine Mutter und Beba kamen vom Gefängnis. Dein Vater wurde verlegt.«

»Nein!«, schrie Nella auf und schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte. »Wohin? Laterina?« Sie zitterte vor Wut und Angst am ganzen Körper.

»Ich weiß es nicht. Ich denke, ja. Morgen wissen wir mehr. Nevio hat schon Leute darauf angesetzt. Sie haben deinen Vater zusammen mit zwei von unseren Kameraden weggebracht. Wahrscheinlich denken sie, dass er dazu gehört. Der Irrtum wird sich bald aufklären und er kommt sicher bald zurück.« Unglücklich trank Rachele ihren Tee und wagte nicht, ihre Freundin anzusehen. »Nella, jetzt werden auch alle Engländer und Amerikaner in die Konzentrationslager gebracht. Niemand ist mehr sicher. Nach Einbruch der Dunkelheit gilt Ausgangssperre, überall.«

Zu lange schon hofften die Menschen auf die Versprechen der Alliierten. Mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass die Alliierten einen Sieg erringen konnten, wurden die Kommunisten stärker. Aus dem Radio tönte die Stimme des Duce. Seine Ansprache wurde ständig wiederholt. Nella wollte das Radio abstellen, doch Rachele sagte: »Warte, jetzt kommt es …«

»Was hat ein toter Mann einer Nation von Kadavern zu sagen?«, schrie Mussolini wütend in den Äther. Spätestens seit dieser Ansprache nahm ihn niemand mehr ernst.

»Deshalb bist du raufgekommen?« Mit einer Grimasse drehte Nella dem entthronten Duce den Ton ab.

Mit gesenkten Augen sagte Rachele leise: »Und wegen Nevio. Mein Vater hat irgendwie herausgefunden, dass da was zwischen uns läuft und war fuchsteufelswild.«

»Kein Wunder! Wie kannst du dich mit diesem Scheißkerl einlassen? Mit wem aus der Brigade hat er noch nicht geschlafen? Und dann die Geschichte mit der Kleinen aus Pienza. Fünfzehn war das arme Ding, und er hat sie geschwängert und sitzen gelassen!«

»Ich weiß das alles, Nella. Hör auf, mir einen Vortrag zu halten. Gerade du solltest es besser wissen …« Rachele stützte den Kopf in ihre Hände und zog an ihren Locken. »Ich bin auch nur ein Mensch, eine Frau, die geliebt und begehrt werden will. Ist das so schlimm?«

Nella schluckte eine scharfe Erwiderung hinunter und legte stattdessen die Arme um ihre Freundin. Rachele war eine Schönheit und was hatte der Krieg aus ihr gemacht? Sie hatte es nicht nötig, sich mit einem so derben brutalen Kerl wie dem serbischen Kommandante einzulassen. Und was war mit ihr selbst? Musste sie nicht zuerst vor ihrer eigenen Tür kehren? Ständig geisterte der deutsche Offizier durch ihre Gedanken.

»Wir kommen sowieso in die Hölle, Rachele.«

»In den Himmel, Nella. Wir kommen in den Himmel, weil wir auf der Erde von der Hölle schon genug zu sehen bekommen.« Sie sprach leise und eine Träne fiel auf Nellas Hand.

Nella drückte ihre Freundin und eine Weile hingen die jungen Frauen ihren Gedanken nach. Mit einem tiefen Seufzer richtete Nella sich schließlich auf und rührte den brodelnden Seifensud um.

»Ich mache mir nur Sorgen um dich, Rachele. Du bist so schön und intelligent und dieser Nevio ist so ein … Ach, ich sag ja nichts mehr. Ich kann ihn einfach nicht leiden.«

Rachele schnäuzte sich die Nase. »Es ist einfach passiert. Unter anderen Umständen hätte ich so einen nicht zweimal angeschaut. An dem Abend hatte ich zuviel getrunken und er war da … Du hast es doch sicher schon mit Alcide getan, oder? War er zärtlich?«

Das Blut schoss Nella in die Wangen. »Hat er das gesagt?«

»Nein, ich dachte nur, weil ihr immer zusammen seid und du hier lebst. Alle denken es wohl«, meinte Rachele und drehte den Becher hin und her.

»Na, dann haben sich alle aber gründlich getäuscht. Wir sind gute Freunde, mehr nicht!«, wehrte Nella ab, obwohl sie wusste, dass das Alcide gegenüber ungerecht war.

»Hätte ich das gewusst …«, scherzte Rachele, aber ihr Tonfall war nicht frei von ehrlichem Bedauern.

Erstaunt stellte Nella die Gasflamme niedrig und sah Rachele an. »Hegst du Gefühle für Alcide? Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?«

»Wie denn? Ich wollte dich nicht verletzen. Und jetzt … Ist es zu spät.« Sie stand auf. ».Hör nicht auf mein Geschwätz. Ich bin erschöpft und muss noch weiter rauf.«

»Ruh dich aus, Rachele. Ich mach dir einen Rest Kanincheneintopf warm.«

Tok, tok, tok, rief der Fasan im Hof.

»Mein Gott, wie schafft Nuccia es nur, dass sie den Hahn nicht erwischen?«, wunderte sich Rachele und schaute durch das Küchenfenster.

»Erwähn den verdammten Fasan bloß nicht in Renzos Beisein. Der würde dem Vogel am liebsten selbst den Hals umdrehen, weil es jedes Mal Ärger gibt, wenn eine Kontrolle kommt. Nuccia ist ganz verändert, seit Maurizio fort ist. Wie geht es ihm? Ich habe ihn bei meinem letzten Besuch oben nicht gesehen.«

Die vollen Lippen wurden schmal und Racheles Augen verschleierten sich verdächtig. »Nicht gut. Aber er ist auf seine Art stur und will keine Sonderbehandlung. Er schämt sich, dass er erst nicht das Haus verlassen wollte und versucht nun, sich doppelt zu beweisen. Ich tue, was ich kann, aber es gibt einfach keine Medikamente mehr. Kälte und Feuchtigkeit bringen ihn um.«

»Die warmen Pullover hat er schon alle mitgenommen, aber irgendwo liegt noch ein Schaffell herum. Das nimmst du ihm mit.« Nella nahm den kleinen Topf vom Herd und stellte ihn mit einem Löffel vor Rachele auf den Tisch.

»Danke, das duftet himmlisch!« Gierig stopfte Rachele das nahrhafte Mahl in sich hinein.

Nella fand das Schaffell auf einem Stuhl der Stube im ersten Stock. Dass sie nicht schon früher daran gedacht hatten! Der arme Junge konnte darauf schlafen oder sich damit zudecken. Sie schnürte es zusammen und zeigte es Rachele, die sich den Mund abwischte und ihre Jacken wieder anzog.

»Sind die deutschen Funker eigentlich noch in der Villa?« Es sollte beiläufig klingen, doch Rachele grinste.

»Gestern ist mir ein gewisser Offizier in Monte begegnet. Er hat mich höflich gegrüßt. Sah nicht so aus, als wolle er die Gegend über Weihnachten verlassen.«

»Ich warte bis morgen nachmittag. Wenn wir bis dahin nicht wissen, wo mein Vater ist, werde ich den Deutschen um Hilfe bitten.« Entschlossen räumte Nella den Topf vom Tisch.

Ihre Freundin wickelte sich den Schal um, klemmte das Schaffell unter einen Arm und drückte Nella einen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf.«

»Du auch, cara.«

Sie stand noch lange in der Tür und sah der zarten Frauengestalt nach, die sich auf dem Rad durch den dichter werdenden Schnee kämpfte. Lautlos fielen die weichen Kristalle aus grauen Wolken und erstickten die Welt in weißer Zuckerwatte. Nella ließ die Tür offen, um den Seifengestank abziehen zu lassen. In der Ferne heulten Sirenen, weil wieder einmal Flieger die Städte angriffen. Zuckerwatte, dachte sie, wann hatte sie zum letzten Mal das klebrige süße Zeug gegessen? Es erschien eine Ewigkeit her zu sein und seit einer Ewigkeit dauerte der Krieg.