Am nächsten Tag lief Nella viermal vergeblich zu einer Eiche hinter der Ölmühle. Ein Astloch in dem massigen Stamm wurde zum Austausch von Nachrichten der Partisanen benutzt. Sie hatte schon keine Hoffnung mehr auf Neuigkeiten und griff nachmittags mutlos in das dunkle Loch.
»Ah!« Erfreut zog sie den schmutzigen Papierfetzen heraus: S.R. in Arezzo, dann Florenz, V.T., hatte Gino in seiner krakelige Handschrift geschrieben. Warum um Himmels Willen hatten sie ihren Vater, einen harmlosen Dorfschlullehrer, nach Arezzo gebracht? Und viel schlimmer war, dass Gino anscheinend befürchtete, dass man ihn in die Villa Triste zum Verhör bringen wollte. »Das überlebt er nicht, nein, das überlebt Papa nicht …«
Nella stopfte den Zettel in ihre Tasche und rannte zum Haus. In knapp einer Stunde würde es dunkel sein. Aber sie konnte es noch nach Monte schaffen. Und was sollte sie dort tun? Ihre Mutter durfte davon nichts erfahren. Nein, entschied Nella. Jetzt musste sie alles auf eine Karte setzen. In der Küche huschte eine Gestalt vom Fenster weg. Das konnte nur Elsa Luzzati, die elendige Schnüfflerin, sein. Überall steckte Elsa ihre neugierige Nase hinein. Elsas Bruder, Marco, war nicht besser und es war Nella unverständlich, wie Marco Luzzati sich das Vertrauen der Gruppe erworben hatte. Sie misstraute ihm genauso wie seinem Bruder Silvio, obwohl der zumindest keinen Hehl aus seinen zwielichtigen Geschäften machte.
»Na, Elsa, ist das Brot fertig? Oder hast du mir hinterher spioniert?«, blaffte Nella das junge Mädchen an, das sich übertrieben eifrig mit dem Ofen beschäftigte.
»Musst nicht immer so spitz sein, Nella Riccardi! Ich mach meine Arbeit und die Signora ist zufrieden. Wenn ich nicht diese Sklavenarbeit machen müsste, wäre ich auch eine von euch.« Elsa war klein und das mondförmige Gesicht wurde von einer dicken Nase nicht eben verschönert. Stumpfes braunes Haar hing ihr als Zopf auf den Rücken. Was die Natur ihr an fraulichen Reizen verwehrt hatte, machte sie durch Boshaftigkeit und eine gewisse Bauernschläue wett.
Und das war genau die Art Mensch, die man am meisten fürchten musste, dachte Nella jedes Mal, wenn sie das Mädchen sah. Aber Nuccia glaubte anscheinend, ihr zu helfen, indem sie Elsa nach der Arbeit Bücher oder Zeitungen zu lesen gab. Dass das Mädchen sich nicht für einen Lira um Bildung scherte, wollte Nuccia nicht sehen. »Ihr lebt auf dem Land der Gambettis und tut nichts dafür. Wenn du hier aushilfst, ist das wenig genug. Faules Stück …«, murmelte Nella im Vorbeigehen, doch Elsa hörte sie.
»Du kriegst noch dein Fett weg, wart’s ab …« Mit einem hämischen Grinsen öffnete sie den Ofen und holte ein fertiges Olivenbrot heraus.
Nella hatte Signora Gambetti nicht kommen hören und fuhr überrascht herum. »Gut, dass ich dich sehe, Nuccia. Ich muss mich beeilen, denn ich will noch im Hellen nach Monte.«
Falls Nuccia sich über den plötzlichen Entschluss, in die Stadt zu fahren wunderte, ließ sie sich nichts anmerken. »Grüß deine Mutter und Beba und … warte!« Sie verschwand in der Speisekammer und kam mit einem in Ölpapier gewickelten Stück Schinken zurück.
»Nein, nein, Nuccia, das kann ich nicht annehmen. Das solltest du Maurizio …«, wehrte Nella ab, doch Nuccia drückte ihr das Päckchen in den Arm und küsste sie auf beide Wangen.
»Nimm es. Du tust so viel für uns.« Nuccia strich Nella über die Wange und flüsterte: »Für deinen Vater.«
Dankbar wickelte Nella den Schinken in einen grauen Schal, nahm ihre Botentasche und registrierte noch Elsas gierige neiderfüllte Blicke, bevor sie sich in die Kälte hinaus verabschiedete. Auf jedem Hof gab es geheime Nischen und Kammern, in denen es gelang, Wertvolles vor den Feinden zu verstecken. Dieser Schinken war für Weihnachten bestimmt gewesen, aber Nella kannte Alcides Mutter gut genug, um die von Herzen kommende Gabe anzunehmen.
Nella klemmte den Schinken auf ihr Rad und hielt vor der offenen Stalltür an. »Ciao, Renzo!«
Hustend kam der alte Gambetti mit einer Forke voller Mist herbei. »Ist etwas passiert?«
Vor Renzo verheimlichte sie kaum etwas. »Sie haben meinen Vater nach Arezzo gebracht, vielleicht kommt es noch ärger. Ich muss jemanden um Hilfe bitten. Die Brigade wird vorerst nichts tun und mein Vater überlebt die Villa Triste nicht.«
»Riccardi hat doch nichts getan! Er ist doch nicht einmal bei der Brigade!« Renzos Sorgenfalten verschärften sich und er stellte die Forke zur Seite. »Ich fahre dich in die Stadt …«
»Nein, Renzo. Das ist gut gemeint, aber helfen kann mir da keiner. Ich sehe nur eine Möglichkeit … Warte nicht auf mich. In spätestens zwei Tagen bin ich wieder hier.«
»Mädchen, überleg dir, was du tust. Dein Vater würde nicht wollen, dass du für ihn dein Leben riskierst.«
»Das habe ich nicht vor. Wirklich, ich weiß, was ich tue. Mach dir keine Sorgen. Es wird schon gut gehen. Vorausgesetzt, er ist noch da …«
Der Name des deutschen Offiziers stand unausgesprochen zwischen ihnen. Renzo blinzelte, schob sich die alte Wollmütze in den Nacken und streckte die Arme nach Nella aus. Er drückte sie kurz an sich und sie spürte noch auf dem Rad die kratzige Wolle seines Pullovers an ihrer Wange. Was auch immer geschehen würde, Renzo würde sie nicht verraten.
Der Weiderost klapperte und dann lag der zweispurige Weg verlassen vor ihr. Die matschigen Fahrspuren waren gefroren und bildeten unter der dünnen Schneedecke einen gefährlichen Untergrund. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt Nella den Lenker fest und mühte sich, ihr Rad in der Spur zu halten. Die Villa, wie das riesige Anwesen der alteingesessenen Familie Serretti genannt wurde, befand sich unterhalb der Casa Gambetti, lag jedoch malerisch schön und exponiert. Die Serrettis hatten vom zweiten Stock der Villa einen atemberaubenden Blick über das Tal bis Monte San Savino. Nicht, dass Nella jemals dort gewesen war, aber das Anwesen hatte den Ruf, das Prächtigste der Gegend zu sein.
Die besondere Hügellage hatte den Serrettis allerdings auch die Stationierung der deutschen Funker beschert. Gut gefüllte Weinkeller und Speisekammern dürften die Deutschen ebenfalls zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Nella ging davon aus, dass Victor Bergemann nicht allein über den Standort zu entscheiden gehabt hatte, aber der Gedanke, dass er es womöglich nur ihretwegen getan hätte, war schön.
Je näher sie der Villa kam, desto größer wurden ihre Zweifel. Womöglich hatte Victor überhaupt keinen Einfluss oder sie hatte sich in seinen Gefühlen grundlegend getäuscht und … Ihre Entscheidung stand fest. Jetzt gab es kein Zurück. Bitte, lass ihn nicht abgereist sein. Immerhin war bald Weihnachten und einige Soldaten bekamen Fronturlaub und fuhren in ihre Heimat.
Lautes Hupen und das Knattern eines Motorrads rissen sie abrupt aus ihren Gedanken. Das Motorrad überholte sie, wendete und stellte sich ihr in den Weg. Ein deutscher Soldat stieg ab und musterte sie frech. In gebrochenem Italienisch sagte er: »Was willst du hier, Mädchen? Na los, steig ab und zeig mir, was du dabei hast.«
Sie verstand ihn mehr durch seine auffordernden Gesten als durch seine Worte. In ihrer Umhängetasche befanden sich keine Papiere, denn mit einer Durchsuchung hatte sie rechnen müssen. Mit einem anzüglichen Grinsen fischte der Soldat nacheinander verschiedene Wäschestücke heraus.
»Das würde ich gern angezogen sehen. Vielleicht finden wir ein Örtchen, an dem es nicht so kalt ist …« Er warf ihr die Sachen zu und zeigte auf den Gepäckträger.
Nicht so, dachte Nella. Dieser Mistkerl war ein solches Geschenk nicht wert. Sie legte eine Hand auf den grauen Schal, in dem sich der kostbare Schinken befand. »Signore Bergemann. Ich will mit dem Signore sprechen!«
»Ach was?« Ohne auf sie zu hören, stieß er sie zu Boden und riss das Paket vom Fahrrad, das in den Schnee kippte.
Nella stand auf und schätzte die Entfernung zur Villa ab. Zwei Drittel der Allee lagen hinter ihr. Aber gegen ein Motorrad war sie chancenlos. Es mussten doch noch mehr Menschen hier sein! »Hallo! Signore Bergemann!«, schrie sie, so laut sie konnte.
Bevor der Schlag des Soldaten sie an der Wange traf, sah sie eine Bewegung in der Einfahrt. Diesmal war ihr Fall schmerzhafter und in ihrem Mund machte sich ein eisenhaltiger Geschmack breit. Automatisch tastete ihre Zunge die Zähne ab, doch sie saßen alle fest. »Scheißkerl!«, fluchte sie in ihren Schal, der ihr vors Gesicht gerutscht war.
»Hast du geflucht, du kleine Hure? Und woher hast du diesen Schinken, eh?« Der Deutsche trat mit dem Fuß nach ihr, doch Nella wich ihm geschickt aus. »Ihr seid doch alle gleich, Rattengezücht …«
Motorengeräusch lenkte den Soldaten ab. Er drehte sich zur Villa um, von der ein Geländewagen auf sie zusteuerte. Atemlos starrte Nella dem Wagen entgegen, klopfte sich den Schnee von den Hosen und setzte die Mütze wieder auf.
Enttäuscht sah sie, dass weder Victor Bergemann, noch einer seiner Männer ausstiegen, doch der Fahrer schien ranghöher als der brutale Soldat. »Was gibt es, Bode?«, fragte er, während er ausstieg. Die Schulterstücke des langen Mantels blitzten.
»Herr Oberst, dieses Individuum wollte sich ohne Genehmigung auf das Anwesen schleichen. Deshalb habe ich eine Durchsuchung vorgenommen«, bellte der Soldat.
»Ich muss Signore Bergemann sprechen. Es ist wichtig. Der Signore kennt mich! Und das dort, ist für den Signore!«, sagte Nella schnell und zeigte auf den Schinken, den Bode sich unter den Arm geklemmt hatte.
»Name?«, fragte der Oberst.
»Nella Riccardi.«
»Bode, geben Sie der Signorina das Paket zurück. Steigen Sie ein, Signorina.« Der Oberst duldete keinen Widerspruch und Nella war froh, dem brutalen Bode entkommen zu sein. Sie stellte das Fahrrad an die Böschung, bevor sie in den Wagen stieg.
Der Oberst wendete das Vehikel geschickt zwischen den Bäumen und sagte in nahezu fließendem italienisch: »Bergemann reist morgen mit seinen Leuten ab. Heimaturlaub. Er scheint einen guten Draht zu den Einheimischen zu haben. Das gefällt mir.«
Auf der spitzen Nase des Oberst saß eine Brille. Seine Augen waren in dauernder Bewegung und musterten sie immer wieder von der Seite. »Ich war schon vor dem Krieg oft in Italien. Das muss aber unter uns bleiben - ihr Italiener habt die besten Baumeister und Künstler.« Er lachte.
Oda wusste nicht, was sie sagen sollte und lächelte vorsichtig, während durch ein riesiges schmiedeeisernes Tor in einen gepflasterten Hof fuhren. Die Villa hob sich zitronengelb vom Schnee ab und war in ihrer antiken Schönheit so unwirklich wie die Reiter, die langsam um die Ecke trabten. Einer von ihnen war Victor Bergemann, der andere ein junger Italiener.
Victor Bergemann musste sie erkannt haben, denn er stutzte, schwang sich aus dem Sattel und drückte dem Jungen die Zügel in die Hand. In seiner Reiteruniform wirkte er sehr schlank und kam mit ernster, leicht besorgter Miene zu ihnen. Vor dem Oberst salutierte er und warf Nella einen kurzen fragenden Blick zu.
»Bergemann, ich bringe Ihnen Besuch mit. Warum haben Sie mir verschwiegen, dass Sie eine so reizende Bekannte haben?« Die Stimme des Oberst klang bedrohlich.
Nella fürchtete sich instinktiv vor dem Mann, der sie anscheinend gerettet hatte. Der Oberst schien ihr die Art Mensch, die gern Spielchen mit Menschen trieb. Rasch stieg sie aus und machte zwei Schritte auf den Major zu. »Ich hatte Ihnen doch versprochen, vor Weihnachten vorbeizukommen. Die Gambettis wollten sich erkenntlich zeigen.« Sie hielt ihm das Paket hin.
Ohne zu zögern, nahm Victor das Präsent entgegen und sagte, als wäre es selbstverständlich: »Achja, richtig. Kommen Sie bitte mit, Signorina Riccardi.«
»Bevor Sie fahren, melden Sie sich noch bei mir, Bergemann!«, befahl der Oberst und fuhr auf den Hof.
Wären die Umstände nicht gegen sie gewesen, Nella hätte ihre Aufmerksamkeit dem terrassenförmig angelegten Hang, gemauerten Stallungen und der Qualität der Reitpferde gewidmet. So jedoch verstärkte sich das Zittern in ihrem Innern. Sie hatte sich allein in die Höhle des Löwen begeben. Weder Alcide, noch Gino waren in der Nähe, um ihr zu helfen.
»Hier entlang.« Victor Bergemann ging mit großen Schritten auf ein Nebengebäude zu, vor dem der Meldewagen stand.
Der Schnee vor dem Eingang des Gebäudes, das Nella für ein Gesindehaus hielt, war festgetrampelt und die Tür stand weit offen. Es war eine reich beschnitzte Tür aus massiver Eiche. Mindestens fünfhundert Jahre alt, dachte Nella. Über dem Eingang waren die Reste des steinernen Wappens der Serrettis zu sehen. Eine Maschinengewehrsalve hatte die Steinmetzarbeit zerstört. Was in fünfhundert Jahren niemandem gelungen war, die Deutschen vernichteten es in einem halben Jahrzehnt.
Mit schmalen Lippen ging Victor voran. Kisten und Koffer stapelten sich im Korridor. »Die Funkstation wird ins Hauptgebäude verlegt. Oberst Struck will es so. Sie haben ihn bereits kennengelernt.«
Bergemann führte Nella durch mehrere Räume, in denen noch Schreibtische und Stühle standen. Zwei Funker waren dabei, ihre Feldbetten zusammenzuklappen. »Herr Major …«, begann einer, entdeckte Nella und grinste. »Sollen wir noch eins stehen lassen …«
»Halten Sie den Mund, Müller, und helfen Sie draußen! Beide!«, erwiderte Victor Bergemann scharf, schob Nella in ein angrenzendes Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Über einem Stuhl lag der graue Mantel des Majors und in einer Ecke stand eine kleine Reisetasche. Nella zog sich die Wollmütze vom Kopf und schüttelte ihre Haare aus, in deren Spitzen der Schnee schmolz. Ein riesiger antiker Kleiderschrank und eine Kommode mit dem Wappen der Serrettis verliehen dem Raum einen Hauch von Wohnlichkeit. Über der Kommode hing ein Holzkreuz an der Wand. »Sind Sie Katholik?«, fragte Nella, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Der Offizier nahm die Mütze ab, warf sie auf den Stuhl und murmelte kaum hörbar: »Ich habe meinen Glauben verloren.«
»Gott verlässt niemanden. Man verlernt nur mit ihm zu sprechen.«
Die ärgerlich gerunzelten Stirnfalten glätteten sich und Victors graue Augen musterten sie mitleidig. »Wenn es einen Gott gäbe, hätte er nicht zugelassen, dass wir …« Müde wischte er den Rest seiner Worte fort. »Sie sind sicher nicht gekommen, um mit mir über Glaubensfragen zu diskutieren. Was es auch sein mag … Ich reise heute Abend ab und kann nichts für Sie tun.«
Er legte den Schinken auf die Kommode und öffnete den Kragen seiner Uniformjacke.
»Bitte, sagen Sie das nicht. Sie sind der einzige, der mir helfen kann!« Nella ging zu ihm und berührte seine Hand, doch Victor Bergemann zuckte zurück.
»Lassen Sie das! Von Ihnen hätte ich das nicht erwartet. Sagen Sie, was Sie wollen, und dann verschwinden Sie.« Er stand vor der Kommode als hielte sie ihm eine Waffe gegen die Brust.
Irgendetwas war geschehen. Victor wirkte verändert. Aber sie konnte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. »Mein Vater wurde mit zwei Partisanen aus dem Gefängnis von Monte San Savino nach Arezzo gebracht und es heißt, dass er von dort nach Florenz überführt werden soll. Sie wissen von der Villa Triste. Da verhört und foltert man die Gefangenen!« Sie setzte alles auf eine Karte. »Mein Vater würde das nicht überleben. Er ist Lehrer! Ein einfacher Dorfschullehrer und hat nichts mit der Resistenza zu tun! Bitte, er darf nicht sterben!«
Victor starrte sie schweigend an. Sein schmales Gesicht blieb ausdruckslos, nur in seinen Augen spiegelte sich ein Wechselbad an Gefühlen. »Und da machen Sie den Weg hier heraus? Man hätte Sie unterwegs überfallen können. Die Soldaten sind nicht zimperlich. Sie bieten mir ein Stück Schinken als Bestechung an? Oder, nein, Sie haben sich gleich selbst mit angeboten, wenn ich das eben richtig verstanden habe.«
Zornige Verzweiflung stieg in Nella auf. »Ja, und ich schäme mich nicht dafür! Allerdings hatte ich Sie für einen besseren Menschen gehalten. Leider habe ich mich getäuscht. Aber da ich schon einmal hier bin … Sie haben mich richtig verstanden. Ich würde meine Tugend für das Leben meines Vaters opfern.«
Und für diesen Mann hatte sie Gefühle gehabt. War sie denn vollkommen wahnsinnig gewesen? War sie genauso verzweifelt wie Rachele?
Victor Bergemann fuhr sich durch die kurzen hellen Haare, während draußen im Hof Motoren aufheulten, Kommandos gebrüllt und Kisten geschleppt wurden. Hin und wieder ertönte ein Schuss. »Und wenn ich nicht besser bin als die Kerle da draußen, die nichts lieber täten als ihr Vergnügen mit Ihnen zu haben und Sie dann wegzuwerfen wie einen alten Lappen? Wenn ich es genauso mache und mich einen Dreck um Ihren Vater schere?«
Ein Bruch in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. »Das würden Sie nicht.«
Als sich ihre Blicke trafen, wusste sie, dass er ihr nicht wehtun würde. Aus einem unerfindlichen Grund, einem Grund, den nur der Himmel kannte, erwiderte er ihre Gefühle. Atemlos sah sie ihn an, wartete auf ein Zeichen und wagte nicht, sich zu rühren. Endlich hob er das Kinn, ging zu ihr und nahm sie in die Arme.
»Nella«, murmelte er und strich durch ihre Haare.
In Nella tobte ein Wirbelsturm widersprüchlichster Gefühle. Sie war eine Verräterin! Und dennoch rauschte dieses sehnsüchtige Verlangen durch ihre Adern und scherte sich nicht um seine Herkunft. Sie hatte andere Männer geküsst. Aber als Victors Lippen erst zärtlich, dann fordernder über ihre streiften, wurde alles andere unwichtig.
Sirenen heulten. Fliegeralarm. Jemand hämmerte an die Tür. »Major! Wenn Sie noch weg wollen, müssen wir sofort fahren!«
Victor hob den Kopf, seine Hände glitten langsam ihre Schultern hinab. »Fünf Minuten!«, rief er.
»Kommst du zurück?«, fragte Nella.
Er nickte und in seinen Augen schimmerte eine Träne. Für einen Mann hatte er lange Wimpern. Sie verliehen seinem Blick diese Verletzlichkeit, dachte Nella.
»Nella, ich muss dir soviel über mich erzählen. Vielleicht verachtest du mich dann, aber du sollst wissen, wer ich bin. Mir ist so etwas noch nie passiert!« Erneut zog er sie an sich. »Ich habe meinen Glauben verloren, aber ich wage zu hoffen …«
Sie hörte sein Herz durch den dicken Stoff der Uniformjacke klopfen. »Victor«, flüsterte sie und zelebrierte jede Silbe seines Namens.
Er hielt sie auf Armeslänge von sich. »Ich kann nichts versprechen. Du siehst selbst, wie gefährlich die Lage ist. Aber ich komme durch Florenz und dort habe ich einen Freund, der mir einen Gefallen schuldet.«
»Major Bergemann!«, brüllte der Soldat vor dem Fenster.
»Komm jetzt. Nimm den Schinken. Ihr habt ihn nötiger als wir.« Vor der Tür hielte er inne. »Dein Vater ist wirklich nicht bei der Resistenza?«
»Nein! Das schwöre ich beim Grab meiner Großmutter!«
»Gut, denn wenn sie das herausfinden und ich mich für ihn eingesetzt habe, ist mir eine Kugel sicher.«
Er nahm ihre Hand und lief mit ihr nach draußen. »Bist du zu Fuß?«
»Mein Fahrrad liegt an der Böschung auf dem Weg dort hinten.«
»Steig ein. Ich lass dich dort raus. Lass dich hier nicht wieder blicken, bis ich aus Deutschland zurück bin. Und nimm dich vor Oberst Struck in Acht! Der ist unberechenbar.«
Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen und die Flocken waren mittlerweile größer und schwerer. Wenn es so weiter ging, kam bald niemand mehr von den Hügeln ins Tal hinunter.
»Schnee in der Toskana …«, murmelte Victor. »Wer hätte das gedacht.«