Kapitel 2

Seit ihrer Rückkehr aus Italien schob Oda den Besuch bei Dorle vor sich her. Oda dachte an Nella, an Victor, an die bewegten Zeiten, die sie durchlebt hatten. Irgendwie passte ihre Großmutter nicht ins Bild. Dorle Bergemann stand als Einzelfigur draußen vor, abseits, eifersüchtig, wie auf einem Bild von Edvard Munch.

Seufzend warf Oda die Sonntagszeitung auf den Tisch. Eigentlich hatte sie diese Wohnung in der Langen Reihe immer gemocht. Zwei kleine Zimmer, zentral gelegen und unter ihr gab es einen Portugiesen, der wunderbare Teigwaren zauberte. Doch wenn sie jetzt auf die Straße hinuntersah, schienen die Geräusche der Stadt zu laut und sie fühlte sich fremd. Entschlossen schnappte sie sich die Autoschlüssel und verließ die Wohnung.

Der knallrote Fiat war zwischen den dunklen Limousinen nicht zu übersehen. Am Sonntag und noch dazu bei gutem Wetter war die Stadt wie ausgestorben. Wer es sich leisten konnte, flüchtete an die See oder an die Flussufer. Ihr Ausflugsziel erfüllte sie kaum mit Vorfreude und sie stellte die Musik lauter. Wie warm es wohl inzwischen in der Toskana war? Oda stellte sich blühenden Oleander im Garten vor und ließ die Gedanken über die Dächer des mittelalterlichen Casole d’Elsa ostwärts wandern. Wenn es stimmte, was Sandro gesagt hatte, dann war Nella allein mit ihren Sorgen, allein mit den Schatten der Vergangenheit. Nur ihr hatte sie sich geöffnet und ausgerechnet sie hatte Nella im Stich gelassen. Aber genauso wenig hätte sie bleiben und Max seinem Schicksal überlassen können. Es gab nie einen geraden Weg.

Die Straßen wurden enger und gewundener und Kopfsteinpflaster löste Asphalt ab. Gartentore mit Überwachungskameras wiesen unerwünschte Eindringlinge ab, denn hier war man lieber unter sich. Oda brachte den Wagen in der Einfahrt der Villa Bergemann zum Stehen. Es dauerte einige Minuten bis jemand auf ihr Klingeln am Tor antwortete.

»Wer ist da?«, krächzte es aus der Sprechanlage.

»Hilla? Hier ist Oda.«

Ein unverständlicher Laut erklang und sofort sprang das Tor auf. Zumindest die Haushälterin freute sich über Odas Besuch. Sie fuhr in den Hof und parkte vor einem Blumenbeet. Angesichts des ringsum herrschenden Verfalls fielen die bunten Sommerblumen ins Auge. Die steinernen Löwen bewachten noch immer die Treppe, doch ihre massigen Köpfe waren verwittert.

Hilla erwartete sie bereits in der Haustür. Eine kleine gebeugte Gestalt mit grauen Haaren in einem grauen Kostüm. »Hilla! Wie schön, dass Sie noch hier sind!«

Die alte Dame streckte Oda eine Hand entgegen. »Fräulein Bergemann. Was ist das für eine Freude, Sie zu sehen.«

Oda übersah die von Arthritis oder Rheuma deformierte Hand und nahm die kleine Frau, die ihr kaum bis zu den Schultern reichte, in den Arm.

Hilla war immer sehr formell gewesen, räusperte sich gerührt und sagte: »Es tut mir sehr leid, wegen Ihres Vaters. Er war ein feiner Mann und fehlt uns sehr.«

»Danke, Hilla. Sie arbeiten doch hoffentlich nicht mehr? In Ihrem Alter sollten Sie im Garten sitzen und die Sonne genießen.«

Hilla schüttelte den Kopf, was mehr ein Wackeln war und ging langsam vor Oda her. »Wenn ich mich hinsetze, sterbe ich. Solange sie mich braucht, bin ich hier. Um den Garten kümmert sich jemand und für den Haushalt haben wir eine Hilfe.« Sie zischte abfällig. »Die Frau hat keine Ahnung, wie man richtig sauber macht, aber immerhin spricht sie Deutsch.«

Die Bedauernswerte tat Oda jetzt schon leid. Wer es mit diesen beiden verschrobenen Frauen aushielt, verdiente eine Sonderzulage. »Ist meine Großmutter da? Geht es ihr gut?«

»Der Tod des werten Herrn Bergemann hat ihr mehr zugesetzt als sie es zugeben würde. Sie ist nicht mehr dieselbe seitdem. Ständig telefoniert sie mit den Anwälten …« Hilla ruderte vielsagend mit ihrer verkrümmten Hand in der Luft herum. »Aber jetzt sind Sie ja hier und werden sich um das Geschäft kümmern.«

Oda runzelte die Stirn und sah sich im Haus um. Durch die hohen Buntglasfenster der Eingangshalle fiel das gefilterte Tageslicht herein und warf farbige Muster auf den Boden. Hier hatte sie als kleines Mädchen gestanden, voller Angst, die Hand ihres Vaters umklammernd. Das beklemmende Gefühl von damals zog sich um ihre Brust und beschleunigte ihren Puls.

Unterdessen ging Hilla weiter und führte Oda durch den Salon auf die Terrasse. Oda betrachtete im Vorbeigehen die Bilderrahmen auf dem Tisch und wappnete sich innerlich für einen Angriff. Die Fotografien von Victor hatte sie absichtlich nicht mitgebracht. Hilla war bereits durch die Terrassentür getreten und wartete darauf, dass sie ihr folgte. Doch plötzlich starrte Oda wie gebannt auf die Marmorplatten der Terrasse, die im Sonnenlicht schneeweiß glänzten. Ihr wurde schwindelig, alles flirrte und verschwamm vor ihren Augen. Was wie gleißendes Lichtauf weißem Marmor schien, verwandelte sich in Blut. Es war überall.

»Das Wasser! Oh, Gott …« Es sprudelte rot über die weißen Ränder, die Delphine schienen zu verbluten. Oda schlug sich die Hand vor den Mund, blinzelte erneut und der Spuk war vorbei.

»Fräulein Bergemann«, Hilla schaute sie irritiert an. »Ist Ihnen nicht gut?«

Oda fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, atmete tief durch und tastete mit einer Hand nach ihrem schweißnassen Nacken. Von Vergangenheitsbewältigung war sie noch meilenweit entfernt. Als sie mit Nella in die Hügel bei Civitella gegangen war, hatte sie einen ähnlichen Albtraum gehabt. Und weil Oda wusste, dass sie nicht verrückt war, musste es einen Grund für diese Visionen geben. Ihr Gehirn sammelte Informationen und die Fantasie formte daraus Schreckensszenarien. Odas Kindheitsängste und die einschüchternde Art ihrer Großmutter gaben dafür den besten Nährboden. Sie strich ihre Haare hinter die Ohren.

»Es geht schon, danke. In letzter Zeit ist viel passiert und ich verbinde viele Erinnerungen mit diesem Haus. Sagen sie, Hilla, ist hier einmal ein Unglück passiert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, vielleicht ein Verbrechen. Es gibt doch Häuser, in denen etwas Furchtbares geschehen ist. Vielleicht vor vielen Jahren, während des Krieges?«

Die Haushälterin winkte ab. »Nein. Davon wüsste ich. Hier oben hatten sie Glück, so gut wie keine Bombeneinschläge. Der Feuersturm hat den Osten der Stadt verwüstet. Die gnädige Frau erwartet Sie im Pavillon. Darf ich Ihnen etwas Kaltes zu trinken bringen oder nehmen Sie auch Tee?«

»Ein Orangensaft mit viel Eis wäre großartig.« Nach mehr als einem halben Leben unter einem Dach nannte Hilla sie immer noch gnädige Frau. Wie Oda ihre Großmutter einschätzte, hatte die daran sogar ihre Freude.

Die Terrasse mündete in eine breite Grünfläche, aufwelcher der riesige Brunnen stand. Ein monströser Bau, eine Spielerei, die nicht an die Elbe, sondern in einen italienischen Park gepasst hätte. Die Familie ihrer Großmutter hatte über mehr Geld als Geschmack verfügt. Der Pavillon fiel stilistisch etwas aus dem Rahmen und schien einer amerikanischen Südstaatenvilla entlehnt. Mittlerweile waren Dach und Säulen von Efeu umrankt. Von der hölzernen Balustrade blätterte die weiße Farbe ab und die Treppenstufen knarrten bedenklich unter Odas Füßen. Dorle Bergemann saß in einem Korbsessel, dessen Rückenlehne wie eine Muschel geformt war. Nur ihr Profil und ein Ellenbogen waren zu sehen. Sie zeigte mit keiner Faser ihres Körpers, dass sie ihre Enkelin kommen hörte.

Erst als Oda auf Höhe des Sessels angelangt war, hob Dorle die Finger. »Wie nett, dass du dich herbemühst, Oda.«

»Großmutter.« Sie trat neben den Sessel, legte die Hand auf die knochige Schulter und küsste eine kühle Wange. Dorle hasste körperliche Zärtlichkeiten. Als Kind hatte Oda sich nach ihrer Nähe gesehnt, sich eine Umarmung gewünscht, obwohl sie ständig nur von Dorle gemaßregelt wurde.

Dorle Bergemanns Augenlider flackerten leicht. »Setz dich.«

Gehorsam umrundete Oda den Sessel, der neben einem niedrigen Tisch mit Teegeschirr stand und setzte sich in den zweiten Sessel. Das Flechtwerk knarrte unter ihrem Gewicht und das Material roch nach Schimmel.

»Ich weiß, dass du mich nicht magst, obwohl ich mich dir gegenüber immer korrekt verhalten habe.« Dorle umklammerte die Sessellehne und fixierte sie.

»Liebevoll wäre mir lieber gewesen. Tja, jetzt gibt es nur noch uns beide, Großmutter.« Sie hielt dem bohrenden Blick stand. Hilla hatte Recht, ihre Großmutter wirkte mitgenommen. Neben Nellas kraftvoller Vitalität verblasste Dorle, drängte sich Oda der Vergleich auf. Sie vermisste die Gambettis, den Hof, Basilio, Rosa, Alessia und Sandro. Familie. Über den Verlust ihrer Mutter würde sie wohl nie hinwegkommen, aber was ihr Vater und sie versäumt hatten, saß wie ein Stachel in ihrem Herzen.

»So, hier bringe ich Ihren Saft, Fräulein Bergemann.« Die alten Holzbohlen ächzten unter Hillas Schritten. »Alina hat diese Schnittchen gemacht. Das macht sie gut.«

»Jaja, stellen Sie die Sachen nur ab, Hilla«, sagte Dorle kühl. »Sehen Sie lieber zu, dass dieses Mädchen nichts mitgehen lässt. Denen muss man ständig auf die Finger sehen.«

»Sehr gern, gnädige Frau.« Hilla stellte das Glas und den Teller auf den Teetisch und verschwand.

»Bei dir zu leben, war schon immer eine Strafe, für dich zu arbeiten muss die Hölle sein«, sagte Oda und biss in ein mehrstöckiges winziges Sandwich. »Köstlich!«

»So schlimm kann es nicht sein, Hilla ist schon seit über vierzig Jahren bei mir.« Dorle griff ebenfalls nach einem Sandwich.

»Sie kennt es nicht anders. Das ist wie mit den Sklaven damals. Einige wussten mit ihrer Freiheit nichts anzufangen und blieben bei ihren Herren.«

Dorle leckte sich die schmalen Lippen und stimmte ein heiseres Lachen an, das in ein Husten überging. »In dir steckt doch mehr Bergemann als du glaubst. Womit wir beim Thema wären. Dein Vater hat das Geschäft bis zu seinem Tod geleitet. Ich habe mir die Unterlagen von meinen Anwälten geben lassen. Natürlich sind die Geschäftskonten, die Bestände und alles andere überprüft worden. Dein Vater war kein kaufmännisches Genie, aber er hat solide Arbeit geleistet und ein gesundes Unternehmen zurückgelassen.« Sie machte eine Pause.

Oda trank schluckweise den kalten Orangensaft und wartete auf die Pointe.

»Nun, ich bin zu alt, um die Leitung der Firma noch einmal zu übernehmen. Jetzt bist du an der Reihe.« Dorle sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die ihre Enkelin trotz allem verblüffte.

»Entschuldige bitte, Großmutter. Habe ich dich richtig verstanden? Du möchtest mir die Geschäfte übertragen? Ich habe keine Ahnung vom Stoffhandel! Und außerdem will ich nichts damit zu tun haben!«

Dorle Bergemanns Nasenflügel bebten und ihre Lippen kräuselten sich kurz zusammen, bevor sie zu einem neuen Schlag ausholte: »Du willst damit nichts zu tun haben? Du bist eine Bergemann! Dein Vater hat immerhin soviel Anstand besessen, sich der Pflicht gegenüber seiner Familie bewusst zu sein. Nur in einer Hinsicht war er eine Enttäuschung und ich verzeihe dir, dass du so reagierst. Du kannst es nicht besser wissen. Denk darüber nach. Ich wollte es dir persönlich sagen. Meine Zeit ist nicht mehr unbegrenzt und ich könnte ruhiger gehen, wenn ich wüsste, dass ich die Dinge geregelt zurück lasse.«

»Das ist alles, woran du denkst? An das Geschäft? Mein Vater ist gestorben und du verlierst kein Wort über ihn? Willst du nicht wissen, wie die Beerdigung war oder …« Ihr fehlten die Worte. Es war lange her, dass sie ihrer Großmutter gegenüber gesessen hatte, doch im Gegensatz zu damals konnte sie heute aufstehen und gehen.

»Oda, bitte. Jetzt sei doch nicht kindisch!« Dorle Bergemann schlug wütend mit der Hand auf die Sessellehne. »Komm zurück, zum Teufel noch mal! Ich bin noch nicht fertig!«

»Aber ich! Ich bin schon lange fertig mit dir!«, schrie Oda unter Tränen und lief über den Rasen. Wie machte diese Frau das nur? Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht von ihr aus der Fassung bringen zu lassen, aber Dorle traf immer genau dorthin, wo es wehtat.

Der Brunnen plätscherte in der Nachmittagssonne. Oda tauchte ihre Hände ein und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Dann drehte sie sich langsam um und schaute zum Pavillon hinüber. Da stand ihre Großmutter. Eine zierliche alte Frau. Aufrecht wie ein Soldat stand sie neben einer efeuumrankten Säule und sah sie an. Nur dreißig Meter trennten sie voneinander, doch in Wahrheit lag eine Welt zwischen ihnen.

»Warum konntest du mich nicht lieben … «, flüsterte Oda.

Sie drehte sich um und lief außen um das Haus herum zu ihrem Wagen, neben dem ein Pickup der Firma »Kehl Garten- und Landschaftsbau« stand. Ein etwa fünfzigjähriger Mann war dabei, seine Gerätschaften abzuladen.

»Guten Tag!«, grüßte er freundlich und zog eine Harke von der Ladefläche.

»Hallo. Schön, dass sich endlich jemand um den Garten kümmert.« Sie suchte nach ihren Autoschlüsseln.

»Endlich? Ich betreue das Anwesen seit Jahren, dass heißt, eigentlich machen wir das schon in der zweiten Generation.« Er warf die Harke auf die Schubkarre und holte eine Schachtel Zigaretten aus seinem grünen Overall. Routiniert schüttelte er mit einer Hand eine Zigarette aus der Schachtel, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. »Möchten Sie auch?«

Oda schüttelte den Kopf. Die Sträucher und Beete wirkten vernachlässigt, auch die Bäume bedurften eines Rückschnitts. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte er:

»Sah mal anders hier aus, ich weiß. Schon als kleiner Junge war ich immer mit meinem Vater hier. Das waren noch Zeiten, als die Herrschaften sich noch einen eigenen Gärtner leisten konnten.«

Sie stutzte. »Wollen Sie damit sagen, dass meine Großmutter nicht genug bezahlt?«

Erstaunt stieß er den Rauch aus. Er hatte ein raues Gesicht, in dem die mehrfach gebrochene Nase das Auffälligste war. »Die Alte ist Ihre Großmutter? Oh, Verzeihung.«

Odas Schulterzucken entspannte ihn.

»Äh, na ja, sie zahlt nur für das Nötigste und unter uns gesagt, komme ich nur noch aus nostalgischen Gründen. Also, weil mein Vater hier so lange beschäftigt war und er immer fragt, wie der Park aussieht.« Er zog an seiner Zigarette, schien zu überlegen und schnalzte mit der Zunge. »Tut mir leid. Ich bin unmöglich. Sie sind doch Oda Bergemann?«

»Ja, aber …« Auch bei ihr regte sich die Erinnerung. Die gebrochene Nase.

»Na, wegen Ihrem Vater tut es mir schrecklich leid. Er war immer sehr freundlich. Leider war er nicht oft hier. Aber wenn er mich gesehen hat, gab er mir immer etwas extra.« Der Gärtner sah sie traurig um. »Das alles hier hat Potential, aber er hat einmal zu mir gesagt, mein lieber Herr Kehl, sagte er, lassen Sie der Natur ihren Lauf. Halten Sie nur die repräsentablen Bereiche in Schuss. Der Rest soll dem Vergessen anheim fallen.« Wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte nickte Kehl und blies bedächtig den Rauch in die Luft.

»Es hat ihm nichts bedeutet. Er ist nur meiner Großmutter wegen geblieben«, murmelte Oda und erkannte erst jetzt das Ausmaß des Verfalls, der bereits von der Villa Besitz ergriffen hatte.

»Was haben Sie gesagt?«

»Nichts weiter. Danke, dass Sie mir das eben erzählt haben. Noch eins, Herr Kehl. Wir haben uns früher hier gesehen, nicht wahr?« Sie tippte sich an ihre Nase.

Er grinste. »Ich habe geboxt. Mein Vater war ziemlich stolz, als ich Stadtmeister wurde. Manchmal habe ich hinten beim Gerätehaus trainiert. Da haben Sie mich gesehen«, fügte er hinzu.

»Aber ja doch! Ich war fasziniert davon, wie schnell Sie das Springseil schwingen konnten. Ich habe versucht, es Ihnen nachzumachen, bin aber jedes Mal kläglich gescheitert. Wie geht es Ihrem Vater? Alfred! Hieß er nicht so?« Ein schweigsamer Mann mit grauer Schiebermütze nahm Gestalt an. Er hatte zu den Schatten der Villa gehört, die kamen und gingen und sich nicht um ein einsames kleines Mädchen kümmerten.

Der Gärtner verzog den Mund. »Nicht mehr viel los mit dem Alten. Seit fast zehn Jahren ist er blind. Er war schon immer ein eigenbrötlerischer Nörgler, aber jetzt ist er kaum zu ertragen. Den ganzen Tag redet er nur über seine Zipperlein und davon, wie er beerdigt werden will.« Kehl nahm die Zigarette aus dem Mund. »Entschuldigung. Kein gutes Thema, aber so ist der Alte. Vielleicht wird man so, wenn man den Krieg erlebt hat. Aber nichts für ungut, Fräulein Bergemann.«

Der ehemalige Boxer kratzte sich den kantigen Schädel. »Und was wird jetzt aus dem Kasten? Übernehmen Sie ihn?«

Entsetzt sah sie ihn an. »Nein!«

Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel und hob die Schubkarre an. »Würde ich auch nicht. Ist doch nur ein Kostenfresser und was will ein Mensch mit so vielen Zimmern? Da verläuft man sich ja und findet sich am Ende selbst nicht mehr …«

Der Mann hatte ja keine Ahnung, wie viel Wahrheit in seinen Worten lag. Kehl schob die Schubkarre über den Kies. Oda warf einen letzten Blick auf den imposanten Bau, der vor ihr aufragte und sie einzuschüchtern versuchte. Irgendwann würde dieses Haus seine Macht über sie verlieren, schwor sie sich, stieg in den Wagen und startete den Motor. Als Oda den ersten Gang einlegte, sah sie eine Bewegung an der Tür, doch es war nicht ihre Großmutter, sondern Hilla, die winkend die Treppe hinunterhastete.

Seufzend stellte sie den Motor ab und drehte das Seitenfenster herunter. Außer Atem kam die alte Haushälterin bei ihr an und hielt sich keuchend am Wagen fest. »Bitte, Fräulein Bergemann. Ich war ja nicht dabei. Bei Ihrem Gespräch mit der gnädigen Frau, meine ich. Aber sie ist sehr böse.«

Flehentlich ergriff sie Odas Ärmel. »Sie kommen doch wieder? Sie gehen doch nicht einfach für immer fort?«

»Hilla, Sie wissen doch selbst am besten, wie sie ist«, sagte sie und hatte Mitleid mit der alten Frau, die es als ihre heilige Pflicht ansah, sich um ihre Herrin zu sorgen. »Waren Sie eigentlich jemals verheiratet?«

»Wie bitte?« Hilla schaute sie konsterniert an. »Nein, natürlich nicht.«

»Schon gut. Ich komme wieder.«

Erleichtert stieß Hilla die Luft aus. »Ich danke Ihnen! Es wäre schrecklich, wenn …« Sie stockte.

»Wenn wir uns im Streit für immer getrennt hätten? Sie ist hart im Nehmen.«

Hillas verkrümmte Finger lagen auf der heruntergedrehten Fensterscheibe. »Das mag sein, aber Sie nicht.«

»Das kommt ein bisschen spät, Hilla.«

»Wir können nicht immer aus unserer Haut. Auf Wiedersehen.« Sie trat vom Wagen zurück und Oda gab Gas, um endlich von hier weg zu kommen.