Oda verbrachte die Nacht vor dem Computer und suchte in verschiedensten Datenbanken nach Hinweisen über Victor Bergemann. Sie machte sich wenig Hoffnung, aber einen Versuch war es wert. Dass Victor auf dem Weg in sein Einsatzgebiet verschollen war, machte die Suche nicht leichter. Sie hatte nichts außer einem Namen, einem Geburtsjahr und Nellas Hinweisen darauf, dass Victor ein Offizier der Wehrmacht und bei den Funkern gewesen war. Sie klickte sich durch eine Reihe mehr oder weniger verschiedener seriöser Suchanbieter. Die deutsche Kriegsgräberfürsorge bot konkrete Suchmöglichkeiten, doch der Name warf keine Ergebnisse auf. Des Weiteren fand sie einen Verein, der das Schicksal vermisster Gefallener klärte. Eine Feldpostnummer hätte ihr weiterhelfen können, doch da sie die nicht hatte, blieb auch diese Spur kalt.
Es gab ein russisches Militärarchiv in Moskau, das über Kriegsgefangene Auskunft geben konnte. In Berlin existierte eine Wehrmachtsauskunftsstelle, ein kirchlicher Suchdienst für örtliche Karteien bot sich an und das Deutsche Rote Kreuz in München verfügte über ein umfangreiches Archiv. Oda verschickte Anfrage um Anfrage. Als sie den Computer abschaltete, war es weit nach Mitternacht und ihre Augen brannten.
In dieser Nacht schlief sie unruhig und wurde von Albträumen geplagt. Victor und Nella gingen Hand in Hand durch einen Garten, der sich plötzlich blutrot färbte. Bei jedem Schritt spritzte das Blut an ihren Beinen hoch. Sie schienen nichts zu merken, doch Dorle tauchte auf und lachte, obwohl sich auch ihr Kleid blutrot färbte. Oda sah an sich herunter und entdeckte, dass sie ein Mädchen in einem bunten Sommerkleid war. Sie wollte schreien, die anderen warnen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht.
Schweißnass wachte sie auf, warf die Decke zurück und stand auf. Es war erst sechs Uhr. Würde sie diese Dämonen jemals loswerden? Sie knotete entschlossen ihre Haare zusammen und schlüpfte in Laufsachen. Anfangs fröstelte sie noch in der kühlen Morgenluft, doch mit jedem Meter schwand die Anspannung, ihre Muskeln wurden warm und ihr Kopf fühlte sich freier an. Eines wurde Oda während des Laufens deutlich. Sie musste für sich klären, was mit Victor geschehen war. Victors Schicksal war der Schlüssel.
Im Laufe des Tages erledigte sie einiges. Aus dem Laden rief sie Signore Matani an, der sich zerknirscht gab, weil er die kritische finanzielle Lage ihres Vaters nicht sofort gesehen hatte. Oda erklärte ihm, dass sie das Haus vorerst nicht verkaufen würde. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes erwies sich für ihre Anfrage ebenfalls als Sackgasse. Man empfahl ihr die örtlichen Archive, doch auch im Rathaus konnte man Oda telefonisch nicht weiterhelfen. Ein Großteil der Akten war bei den Bombardierungen der letzten Kriegsjahre verbrannt.
»Ihre Großmutter lebt noch, sagen Sie? Warum fragen Sie sie nicht? Das ist doch viel einfacher«, meinte die Dame der Stadtverwaltung altklug.
»Haben Sie vielen Dank. Wenn das so einfach wäre, hätte ich Sie nicht um eine Auskunft bemüht«, erwiderte Oda.
»Verzeihung, ist Ihre Großmutter nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte?«, fragte die Angestellte.
»Doch, doch. Aber sie weigert sich, über die Kriegszeit zu sprechen.«
Leichte Empörung schwang mit, als die Dame antwortete: »Sie sollten das akzeptieren. Zu beurteilen, was damals geschehen ist, steht uns nicht zu. Bergemann, sagten Sie?«
»Richtig.«
»Ihnen gehört doch das Stoffkontor am Ballindamm, nicht wahr?«
»Ja, aber …«
»So ein traditionsreiches Geschäft. Darauf können Sie stolz sein. Meine Eltern haben da schon gern eingekauft, wissen Sie.«
»Ach ja?«
»Und ich auch. Ihr Vater hat vor zwei Jahren einen ganz wundervollen Stoff für mich bestellt. Bitte grüßen Sie Ihren Herrn Vater von mir …«
»Er ist gestorben«, unterbrach Oda sie und legte auf.
Liebevoll fuhr sie über den Tresen aus massivem Mahagoni und betrachtete die schmalen Schubfächer, in denen auf grünem Filz der Schmuck darauf wartete, Interessenten zu erfreuen. Max hatte ihr ein großzügiges Angebot gemacht. Den gut eingeführten Laden zu übernehmen, wäre nicht das Schlechteste. Aber würde sie hier auf Dauer glücklich werden? In all den Jahren hatte sie sich hier wohl gefühlt, aber nicht wegen des Geschäftes oder der Arbeit, sondern allein wegen Max. Sie hatte sich nie wirklich mit sich und ihren Interessen beschäftigt, weil sie ständig auf der Flucht vor ihren Dämonen gewesen war.
Das hatte sich geändert. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten sie gezwungen, Entscheidungen zu treffen. Vor dem Schaufenster hielt ein Paar mittleren Alters an und betrachtete die Auslage. Die Frau zeigte auf eine Goldkette, doch er schüttelte den Kopf und zog sie mit sich fort. Oda lächelte. Die Frau würde wieder kommen. Soviel hatte sie in den Jahren an Max’ Seite gelernt. Der Wunsch nach einem bestimmten Stück entsprang einem tiefen Gefühl. Natürlich gab es auch den spontanen Lustkauf oder den Kauf aus Prestigegründen, aber kaum in einem kleinen Laden wie diesem. Sie boten antiquarischen Schmuck und Stücke aus Odas Kollektionen an. Kein Ring, kein Anhänger, den Oda kreierte, glich dem anderen. Jeder Besitzer konnte sicher sein, dass es kein identisches Stück gab.
Sie zog eine Schublade heraus und nahm ein Paar Ohrringe in die Hand. Die markstückgroßen Teller waren aus feinem Silberdraht gewebt und mit Silberblech verschweißt. Nach dem Schmieden hatte Oda 22 Karat dünnes Goldblech mit reduzierter Flamme auf einem Holzkohleblock aufgeschweißt. Max hatte Recht. Es machte ihr Freude, neue Formen und Materialmixe zu entwerfen. Sie liebte ihre Arbeit. Vor zwei Jahren hätte sie sich nicht einmal vorstellen können, das zu sagen. Dafür, dass Max ihr diesen Weg eröffnet hatte, würde sie ihm ewig dankbar sein. Und er hatte sie noch auf etwas anderes gestoßen.
Es war später Nachmittag. Vielleicht machte Sandro gerade eine Pause. Nach mehrmaligem Klingeln meldete er sich. Seine Stimme klang belegt und Rindergebrüll und Motorengeräusche machten es schwer, ihn zu verstehen.
»Oda? Wir treiben gerade die Einjährigen auf den Transporter.«
»Dann will ich nicht stören. Passt es dir später?«
»Jederzeit, nur jetzt ist es ungünstig. Geht es dir gut?«
»Ja!«, rief sie laut.
Er lachte und begann zu husten. »Ist staubig hier. Bis später. Bacio!«
Da Oda wusste, wie sehr er das Verladen der Tiere für den Schlachthof verabscheute, wartete sie bis zum späten Abend mit ihrem Anruf. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, denn er klang müde. »Ciao, Oda. Ich hatte gehofft, dass du noch anrufst. Es tut gut, deine Stimme zu hören. Was für ein Tag!«
»Erzähl mir, was los war«, sagte sie und wünschte sich, in seiner Näher zu sein.
»Wir haben heute die einjährigen Bullen verkauft. Das geht mir jedes Mal so schwer ab … Die Schreie höre ich jetzt noch.« Er räusperte sich. »Aus mir wird nie ein Rinderzüchter. Ich habe es Nella gesagt. Dieses Jahr bin ich noch hier, dann muss sie sich jemand anderen suchen oder den Betrieb umstellen.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Sie hat nicht einmal mit Wimper gezuckt, nur genickt und gesagt, dass sie sich etwas überlegen wird. Das ist doch nicht normal! Sie wirkt so abwesend und macht dauernd Ausflüge in die Umgebung. Mit dem Taxi! Du hast doch mit ihr telefoniert. Alessia hat es mir gesagt. Sie macht sich auch Sorgen, was ihr gar nicht ähnlich sieht und mich noch unruhiger macht.«
Sie durfte ihm doch nicht von Dante erzählen! »Sandro, was weißt du von deinem Großvater? Gab es nach dem Krieg gravierende Schwierigkeiten mit Leuten aus eurer Gegend? Sie befürchtet, dass jemand sie erpressen will, wegen einer Sache, die mit ihrem Mann zusammenhängt.«
Das war zumindest die halbe Wahrheit.
»Mit Alcide?« Er trank etwas, bevor er weitersprach. »Nein! Teufel auch, wird sie jetzt verrückt? Er starb, als ich noch ein Kind war. Ich habe nur vage Erinnerungen an ihn. Ein schweigsamer Mann, der lieber draußen bei den Tieren oder auf der Jagd als im Haus war. Daran erinnere ich mich gut. Nonno, mein Großvater, mit Hund und Gewehr auf dem Weg in den Wald. Was für einen Unsinn erzählt sie dir?«
»Ich glaube, dass es ihr sehr ernst ist. Vielleicht kannst du es herausfinden. Dein Vater müsste doch wissen, was damals los war. Oder dein Onkel!«
Er murmelte etwas Unverständliches. »Du stellst dir das so einfach vor … Mein Vater hatte kein gutes Verhältnis zu Nonno. Oder was glaubst du, wie der Alte es fand, dass sein ältester Sohn lieber Autos zusammenschrauben wollte als den Hof zu übernehmen? Und mein Onkel ist wohl der erste schwule Gambetti, der sich öffentlich dazu bekannte. Er ist sozusagen eine persona non grata.«
»So schlimm?« Sie hörte ihn erneut husten, Eiswürfel fielen in ein Glas und eine dunkle Frauenstimme intonierte eine melancholische Melodie. »Was hörst du da?«
»Elena Ledda. Sardinierin. Pass auf!« Er drehte die Musik lauter und Oda sank in die Sofakissen, umfangen von der samtig leidenschaftlichen Stimme der Sängerin und einer Melodie, die traurig und gleichzeitig voller Stolz und Leidenschaft war.
»Genau, wie du …«, flüsterte sie und merkte nicht, dass sie laut gedacht hatte.
Die Musik wurde leiser und Sandro sagte: »Wenn ich könnte, würde ich mich morgen in einen Flieger setzen …« Die Eiswürfel klapperten hell, als er einen Schluck aus seinem Glas nahm. »Hör nicht hin, Oda. Es ist spät. Ich bin überarbeitet und müde.«
»Aber …«
»Keine Versprechungen, keine Verpflichtungen. Wir sehen uns, wenn wir uns sehen. Erzähl mir von deinem Laden. Hast du etwas Neues entworfen?«
Einen Schritt vor und zwei zurück. Die Liebe schien immer kompliziert. »Noch nicht. Aber ich denke über etwas nach. Max hat mir einen Vorschlag gemacht. Ich glaube, er will aufhören.«
»Und er hat dir das Geschäft angeboten?«
»Ja, das hat er. Ich habe mich noch nicht entschieden. Wie gesagt, es gibt noch eine andere Möglichkeit, über die ich nachdenke.«
»Oda, es ist spät. Ich bin kein guter Zuhörer mehr. Es …« Er zögerte, seufzte und sagte: »Gute Nacht, bis bald.«
Er hatte aufgelegt, ohne auf ihre Antwort zu warten.
Am folgenden Tag begleitete sie Max zum Arzt, der eine Rehaklinik empfahl. Auf der Rückfahrt war der alte Herr schweigsam und mürrisch. »Also schön, Sie wollen keine Kur machen, ist es das?«, fragte Oda.
»Die verschicken mich in irgend so ein furchtbares Kaff. Weserbergland, hat der Arzt das nicht gesagt? Ah! Mir kommen die Tränen. Und da soll ich dann mit lauter senilen alten Leuten Milchbrötchen kauen und Malkurse machen? Nicht mit mir!«
Sie lachte. »Sie sind wirklich unvergleichlich! Über den Ort lässt sich bestimmt reden. Ich halte das für eine gute Sache. An Ihrer Stelle würde ich das machen.«
Max Friedrich strich sich durch das schüttere weiße Haar. »Na, darüber nachdenken kann ich ja. Aber dann wäre ich vier Wochen weg. Kommen Sie hier allein zurecht?«
»Sie werden mir fehlen. Aber wenn ich nicht weiter weiß, rufe ich Sie an. Man wird Ihnen sicher einen Anruf in der Woche gestatten.« Sie grinste.
»Keine Scherze! Sonst bekomme ich vor Schreck glatt noch einen Herzinfarkt.«
Als sie nachmittags ins Geschäft kam und ihre Emails überprüfte, fand sie eine Nachricht vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes:
»Sehr geehrte Frau Bergemann,
wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, ist es ohne Feldpostnummer oder Rang schwierig bis unmöglich, den Ort ausfindig zu machen, an dem der Vermisste gefallen ist. Nun hat es sich aber ergeben, dass wir eine Praktikantin bei uns im Büro haben, die Ihre Anfrage gelesen hat. Bei der Bearbeitung einer Liste von Opfern eines Fliegerangriffs auf einen Zug bei Halberstadt im Dezember 1943 stieß sie auf den Namen Ihres Großvaters.«
Sie stutzte. Zumindest eines war sicher – Victor war im Sommer 1944 noch am Leben gewesen war! Irritiert las Oda weiter:
»Es ist wirklich nur der Aufmerksamkeit unserer Praktikantin zu verdanken, dass wir auf den Namen gestoßen sind. In der handschriftlich vorliegenden Liste findet sich folgernder Eintrag: Major Victor Bergemann. Der Name wurde durchgestrichen und mit dem Vermerk ›verwundet‹, versehen. Dann wurde in die Spalte ein Leutnant Klaus Engel eingetragen. Engel stammt aus Hamburg. Wir gehen davon aus, dass Ihr Großvater bei der Identifizierung geholfen hat und von den Helfern irrtümlich verzeichnet wurde.
Auch wenn diese Information Ihnen keine endgültige Klarheit über den Verbleib Ihres Großvaters gibt, wollten wir Sie Ihnen nicht vorenthalten.«
Sie überflog den letzten Absatz noch einmal. Mit dem Zug war er gefahren. Im Dezember 1943 und er war Major gewesen. Aber er war nach Italien zurückgekehrt. Was hast du im Sommer 1944 gemacht, Victor?