»Halten Sie hier an, Müller!«, befahl Victor Bergemann.
»Wir sind gleich da, Major, nur noch über die Brücke …«, erwiderte der Fahrer.
Victor kannte Wachtmeister Müller bereits aus Husum und mochte den Mann noch immer nicht. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Müller sich als unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig gezeigt. Aus seiner Sicht nicht vertrauenswürdig, dachte Victor. Er wusste genau, warum man ihm diesen Bilderbuchnazi an die Seite gestellt hatte. Seine Vorgesetzten hielten ihn für zu lasch. Major Bergemann rückte seine Mütze gerade. »Anhalten, sage ich.«
Im Rückspiegel sah Bergemann, wie Müller das Gesicht verzog, den Wagen aber zum Halten brachte. Den schweren Mantel festhaltend, stieg Victor aus und wurde von einer Böe kalten Windes erfasst, der vom Arno heraufwehte. Langsam trat Victor auf die Böschung oberhalb des Flussufers. Auf der anderen Seite erstreckte sich die Silhouette von Florenz. Victor Bergemann erkannte die Kuppel des Duomo und den Turm des Palazzo Vecchio. Bei früheren Besuchen hatte er die Uffizien gesehen und war über die Ponte Vecchio spaziert, die dem Kriegsgeschehen mit der Gelassenheit ihrer jahrhundertealten Erfahrung trotzte. All die Kunstschätze, die architektonischen Meisterwerke vergangener Generationen lagen dort vor ihm und mussten vor der Gier der Besatzer und den Bomben der Befreier beschützt werden. Wie auf Kommando ertönten Sirenen.
Müller sprang vor dem Wagen auf und ab und rief: »Major, Fliegeralarm. Kommen Sie, wir müssen weg hier!«
Victor Bergemann sog den muffigen Geruch ein, der vom Arno heraufstieg. Ob der Fluss jemals gefroren war? Er hatte Schnee auf toskanische Zypressen fallen sehen, aber Eis auf dem Arno? Nella würde es wissen. Er wollte sie fragen, wenn er zurückkehrte. Wie sich die Welt veränderte. Seine eigene kleine Welt hatte sich mit einem Wimpernschlag umgekehrt. Sie hatte seinem Leben eine neue Bedeutung gegeben. Er stieß mit dem Stiefel einen Stein die Böschung hinunter. Vielleicht hatte er nur auf diese Frau gewartet. Für Nella würde er alles tun. Dieses Gefühl hatte er nicht gekannt. Nicht mit Dorle, mit keiner anderen Frau. Dorle. Seine Lippen wurden schmal. Diese Ehe war ein Fehler gewesen. Kühl und überlegt hatte er die Bekanntschaft mit den Bergemanns vertieft, nachdem er die Familie zufällig in Husum auf dem Viehmarkt kennen gelernt hatte. Für ihn war die Ehe ein Geschäft gewesen. Eine Stufe hinauf auf seiner Karriereleiter. Und Bergemann Senior war ein umgänglicher Mann.
Das Motorengeräusch dröhnte in seinen Ohren und hinter der Stadt ging eine Bombe mit kreischendem Singsang herunter. Der Aufschlag erfolgte mit einer dumpfen Detonation. Victor wurde unsanft am Arm gepackt und geschüttelt.
»Major! Was ist denn los mit Ihnen? Wir müssen hier weg!«, schrie Müller und sah nach oben, wo die Kondensstreifen der alliierten Kampfflieger noch zu sehen waren.
»Uns ist doch nichts passiert. Die bombardieren Florenz nicht. Niemand sollte sich an soviel Schönheit vergreifen …«, murmelte Victor.
»Jetzt wird er verrückt … Kommen Sie. Mir frieren die Finger ab. Sonne und Wein haben die einem versprochen. Na, mit dem Wein hatten sie nicht Unrecht …« Müller lachte dröhnend und dirigierte seinen Vorgesetzten zum Wagen zurück.
Abwesend nahm Victor seinen Platz wieder ein und ließ sich in die Stadt fahren. Vom Kriegszustand zeugten mehrere Wachposten, die sie passieren mussten. An einigen Häuserwänden waren Sandsäcke zum Schutz vor Brand- und Splitterbomben aufgestapelt und die Hakenkreuzfahne wehte von einigen Balkonen.
»Bin ich froh, wenn wir im Quartier sind. Mein Magen knurrt schon seit einer Stunde. Hoffentlich gibt es hier noch Fleisch …«, gab Müller lautstark von sich.
»Biegen Sie dort vorn rechts ab«, befahl Victor.
»Wieso das denn?«
»Fragen Sie nicht. Tun Sie verdammt noch mal, was ich sage. Via Bolognese.« Er hatte keine Zeit zu verlieren. Wenn Nellas Vater tatsächlich von der Gestapo festgehalten wurde, zählte jede Minute.
Müller grinste ihn im Rückspiegel an. »Ah, Gestapohauptquartier! Jawoll, Herr Major.«
Das ist nach deinem Geschmack, dachte Victor Bergemann und wandte angewidert den Blick ab. In den Straßen patrouillierten Schwarzhemden, die nach Mussolinis Befreiung im September wieder Oberwasser gewonnen hatten. Die Faschisten hatten ihre SS jetzt ganz nach deutschem Vorbild organisiert und nahmen reihenweise Verhaftungen vor. Jeder, der auch nur im Verdacht stand, Kriegsgefangenen zur Flucht zu verhelfen oder etwa in Aktivitäten der Partisanen verwickelt zu sein, wurde brutal verhört. Eine Kostprobe faschistischer Verhörmethoden hatte er in Arezzo bekommen, wo er nach Signore Ricciardi gefragt hatte. Die italienische Bevölkerung lebte jetzt in doppelter Angst. Nicht einmal den eigenen Landsleuten konnten sie trauen.
Müller parkte den Wagen vor einem eleganten Palazzo, der äußerlich nicht verriet, welche Schrecken sich hinter seinen dicken Mauern ereigneten. Zwei bewaffnete Wachtposten vor der Eingangstür zeigten an, dass es sich um besetztes Gebäude handelte. Die massiven Gitterstäbe vor den Fenstern im Erdgeschoss stammten aus einem vergangenen Jahrhundert. Damals hatten sie das Volk vom Plündern der Reichtümer abhalten sollen, und heute hielten sie das Volk davon ab, den Folterknechten zuzusehen.
»Eine Geheimsache, Major?«, fragte Müller eifrig, als er ihn eingeholt hatte.
»Sie fragen zu viel, Müller.«
»Tut mir leid. Ich weiß, Herr Major, aber ich würde gern Teil einer wichtigen Operation sein. Sie denken an mich, wenn Sie einen verlässlichen Mann an Ihrer Seite brauchen?«, sagte Müller.
Major Bergemann trat zu einem Wachtposten und zeigte seine Papiere. In der Eingangshalle saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch ein Uniformierter mit abweisender Miene. Seine Abzeichen wiesen ihn als Polizeisekretär im Verwaltungsdienst aus. Rangmäßig stand er unter Müller, der sich sofort aufplusterte und eine herablassende Miene aufsetzte. Victor Bergemann hoffte, dass Müller ihm durch sein herrisches Gebaren keine Schwierigkeiten machen würde. Rasch trat er einen halben Schritt vor und verstellte seinem Begleiter die Sicht. »Major Bergemann. Wer ist für die Gefangenen verantwortlich?«
»Ihre Papiere.« Unbeeindruckt streckte der Sekretär die Hand aus und studierte die Ausweise. Sein Haar war über den Ohren rasiert und nur wenige dünne braune Strähnen bedeckten den eiförmigen Schädel. Er gab die Papiere zurück und sagte: »Colonello Venuti hat heute Dienst. Obersturmführer von Dürren ist gestern verwundet worden. Verfluchtes Partisanenpack. Die gehören alle sofort erschossen!«
Keine guten Voraussetzungen für sein Vorhaben, dachte Victor Bergemann. »Melden Sie mich dem Colonello.«
»Sofort?«
»Selbstverständlich. Ich habe es eilig«, erwiderte der deutsche Offizier scharf.
»In welcher Angelegenheit soll ich Sie melden?« Der Polizeisekretär erhob sich langsam.
»Es geht um die Neuzugänge aus Arezzo.«
Als der Sekretär im hinteren Teil des weitläufigen Gebäudes verschwand, fragte Müller: »Was haben wir denn mit Leuten aus Arezzo zu tun? Ich dachte, wir warten hier nur auf die nächste Mitfahrgelegenheit …«
»Ich möchte, dass Sie unser Gepäck jetzt ins Quartier bringen. Ich komme später nach«, befahl der Major, dem das ständige Nachfragen des Wachtmeisters gegen den Strich ging.
»Aber …Und wie kommen Sie ins Hotel?« Müller sah sich bewundernd in der riesigen Halle um. Verblasste Fresken und ein kunstvoll gemusterter Marmorboden zeugten von einer prachtvollen Vergangenheit.
»Ich habe zwei Füße, Müller.«
»Verzeihung, Herr Major. Und was ist mit dem Essen heute Abend? Haben Sie etwas Besonderes vor?«
»Können Sie nicht einfach tun, was ich sage?«, zischte Bergemann.
Müller senkte den Blick und sagte milde: »Ich frage nur, weil morgen Heiligabend ist, Herr Major.«
»Wirklich?« Erstaunt sah Victor den kräftigen Mann in der strammen Uniform an. Dann klopfte er ihm auf die Schulter. »Organisieren Sie ein nettes Restaurant. Oh, und nehmen Sie das hier.« Er kramte einige Geldscheine aus seiner Tasche. »Kaufen Sie ein Seidentuch oder irgendetwas in der Art für meine Frau.«
»Jawohl, Herr Major! Auftrag wird ausgeführt!« Müller knallte zackig die Hacken zusammen und marschierte davon.
Weihnachtsgeschenke. Frieden und Glück allen Menschen auf Erden … Ein bitterer Zug machte sich um seinen Mund breit. Und was sind wir? Das Schwert des Erzengels? Für Reue war es zu spät. Er war Teil von etwas geworden, das sich verselbstständigt hatte, gleich einer Frankensteinschen Kreatur, einem Höllenhund, der sich losgerissen hatte und nun unkontrollierbar war.
»Major! Der Colonello erwartet Sie!«, rief der Polizeisekretär vom anderen Ende der Halle.
Bergemann straffte die Schultern und ging energischen Schrittes auf die offene Tür zu. Bevor er eintrat, fragte der Sekretär: »Benötigen Sie einen Dolmetscher?«
Victor ignorierte die Frage und begrüßte den wartenden Colonello in fließendem Italienisch. Der noch junge Offizier der Geheimpolizei hob überrascht die Brauen. In seiner dunklen Uniform mit den silbernen Abzeichen wirkte der schlanke Mann stattlich. Victor hegte die vage Hoffnung, vielleicht auf einen liberal eingestellten Mann getroffen zu sein.
»Was verschafft mir die Ehre, Major?« Ein vergoldeter Schneidezahn blitzte auf.
»Colonello, ich möchte Sie nicht lange stören. Eine simple Angelegenheit führt mich her. Ich war bereits in Arezzo, aber dort teilte man mir mit, dass ein Signor Riccardi hierher überstellt worden ist. Ist das richtig?«
Colonello Venuti saß in einem mit rotem Samt bezogenen Sessel. Auf dem Schreibtischlagen nur wenige Papiere, ein goldener Füllfederhalter und ein einziger Aktenordner. In affektierter Manier faltete Venuti die Hände und tippte die Zeigefingerspitzen bedächtig gegen sein Kinn. Der Mann inszeniert sich, dachte Victor. Wenn er hier zum Ziel kommen wollte, würde er Geduld und das Glück des Spielers brauchen.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Venuti und seine Augen verengten sich.
»Riccardi ist fälschlicherweise inhaftiert worden. Es handelt sich um einen Irrtum. Ich habe den Befehl, den Mann zu seiner Familie zurückzuschicken. Nach Monte San Savino. Er ist dort Dorfschullehrer«, erklärte Victor und hoffte, dass Venuti keinen schriftlichen Befehl verlangte.
»Aha. Das ist mir neu.« Venuti klopfte auf den Aktendeckel. »Diese Berichte sagen, dass Riccardi wiederholt inhaftiert wurde, weil er ein unkalkulierbares Risiko darstellt. Er hat mehrfach Erlässe der faschistischen Regierung missachtet und den Schülern revolutionäres Gedankengut vermittelt. Und …« Venuti machte eine bedeutungsvolle Pause. »Er hat Kontakte zur Resistenza.«
»Es muss sich um einen anderen Riccardi handeln. Der Mann, den Sie haben, ist kein Aufrührer, sondern ein einfacher Dorflehrer. Harmlos. Morgen ist Weihnachten, Colonello. Sollte der arme Mann das Heilige Fest nicht mit seiner Familie verbringen dürfen?«
»Das würden wohl viele gerne. Haben Sie einen Übergabebefehl?« Venuti lächelte und sein goldener Zahn blinkte.
Victor klopfte auf seine Manteltasche und erhob sich. »Zuerst möchte ich mich davon überzeugen, dass wir von demselben Mann sprechen. Würden Sie mir den Gefangenen zeigen? Zudem ist dies mein erster Besuch hier. Von der Effektivität Ihrer Methoden ist mir einiges zu Ohren gekommen.«
»Wir sind nicht zu Unrecht stolz auf die Erfolgsquote bei Verhören. Irgendwann brechen wir jeden.« Venuti grinste selbstzufrieden und begleitete Victor zur Tür. Neben der massiven Renaissancetür stand ein Aufsatzschrank mit zahlreichen Schubladen, von denen eine nicht gänzlich geschlossen war.
Victor sah gebündelte Ampullen darin stehen. Der Kerl handelte mit Morphium. Es gab viele wie Venuti, weil es überall Drogensüchtige gab. Viele Verwundete kamen süchtig von der Front zurück und andere suchten Vergessen im Rausch.
Der Colonello beobachtete Victor, hob fragend eine Braue, und als Victor nicht reagierte, schob Venuti mit einer beiläufigen Handbewegung die Schublade zu und öffnete die Tür. »Ich denke, wir werden zu einer einvernehmlichen Lösung kommen, Major.«
Wenn das nicht das Quäntchen Glück war, das er gebraucht hatte, dachte Victor. Dass er die Ampullen gesehen hatte, entsprach in etwa einem Full House auf der Hand. Der verwundete van Dürren schien den Drogenhandel nicht zu decken, sonst wäre Venuti nicht so zuvorkommend gewesen. Nicht alle Offiziere waren korrupt und einige, wie anscheinend van Dürren, ahndeten besonders Medikamentenschmuggel hart. »Wo hat man den Anschlag auf van Dürren verübt?«, fragte er, während sie eine steinerne Treppe in den Keller hinunter stiegen.
»Nördlich von Montereggi. Es war eine Falle. Wir hatten einen V-Mann in der Gegend. Von ihm erhielten wir die Nachricht, dass ein Treffen der Partisanen auf einem Gehöft bei Montereggi stattfinden sollte. Was wir nicht wussten, war, dass sie unseren Mann bereits enttarnt und die Nachricht fingiert hatten. Van Dürren hatte noch Glück. Sechs Deutsche und acht von unseren Leuten sind getötet worden. Aber wir haben alle verhaftet, die auch nur in Sichtweite waren. Hier entlang.«
Die Wände entlang der Flure waren von nun an gekachelt. SS-Männer standen oder saßen vor den Türen. Hinter einer ertönte ein Schmerzensschrei, der in flehendes Stöhnen überging. Venuti nickte den Männern zu. »Habt ihr schon was aus dem Schwein herausbekommen?«
Einer der Geheimpolizisten schnippte mit den Fingern und grinste. »Der kippt gleich um. Schreiberling. Solche halten nie lange durch.«
Victor Bergemann verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete scheinbar unbeteiligt die Zellentüren. Dann ging er zu einem vergitterten Guckloch und sah hindurch. Auf dem blanken Fußboden hockten vier abgemagerte männliche Gestalten. Der Gestank war unerträglich.
»Die Vier da drin sind hoffnungslose Fälle. Alle sind Wiederholungstäter. Arbeitsverweigerung, Handel mit verbotenem Schrifttum und Dokumentenfälschung. Der Alte ist ein ganz gerissener. Hat mit einem Hektographengerät Urlaubsscheine gefälscht. Hat ihm nichts genützt. Kommen Sie. Ihr Mann sitzt da hinten.« Venuti schritt rasch weiter.
Am Ende des zugigen Ganges befand sich über Kopfhöhe ein rundes Fenster. Es waren die mit dicken Gitterstäben versehenen Fenster, die man vom Bürgersteig aus sehen konnte. Auf dem Boden vor der Zellentür waren Blutspritzer zu sehen. Victor machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Ein junger Polizist sprang von seinem Stuhl auf und schloss auf Venutis Befehl hin die Tür auf. »Ist der Alte aus Arezzo dabei?«
»Ja, Colonello. Er hat sich beschwert und behauptet, dass er nichts mit den anderen zu tun hat. Aber das kennen wir ja. Ich habe ihm gezeigt, was es bringt, das Maul aufzureißen. So ein Klugscheißer.«
Venuti hob die Achseln. »Wenn er andes nicht begreigt ….«
Damit hatte sich Victors Hoffnung zerschlagen, Signore Riccardi unversehrt zu finden. Endlich betrat er hinter dem Colonello die Zelle. Auf einer schmalen Holzpritsche saßen zwei junge Männer, deren Gesichter von Schlägen gezeichnet waren. In ihren Augen brannte dennoch wütender Widerstand. Auf dem Boden lag in einer Ecke ein älterer Mann. Seine Augen waren geschlossen. Haar und Bart waren weiß, doch das täuschte, dachte Victor. Der Mann mochte die Fünfzig eben überschritten haben. Eine verkrustete Platzwunde am Kopf erklärte die Blutspritzer.
»Signore Riccardi?«, fragte Venuti barsch.
Der am Boden Liegende regte sich nicht. Einer der jüngeren Gefangenen beugte sich hinunter und rüttelte an Riccardis Bein. »Enzo, aufwachen!«
Langsam kam Leben in den ausgestreckten Körper und Riccardis Augenlider flatterten. Er stammelte leise vor sich hin und versuchte, sich zu erheben. Unsicher glitten die Hände des Verwundeten über den Boden und konnten keinen Halt finden. Riccardi atmete schwer und begann zu husten.
»Komm schon, Enzo. Du hast hohen Besuch.« Obwohl der junge Mann selbst das Gesicht bei jeder Bewegung vor Schmerzen verzog, half er dem Älteren auf die Beine.
Venuti stand einfach nur da und beobachtete die angstvoll verzweifelten Bemühungen der Gefangenen. Was würdest du tun, wenn ich nicht zugegen wäre, dachte Victor Bergemann? »Na, was ist denn! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Los, los!«, sagte er laut.
Endlich stand Signore Riccardi auf noch wackeligen Beinen vor ihnen und hob vorsichtig den Blick. Er war einen halben Kopf kleiner als Victor und hatte das Gesicht eines Gelehrten. Eine hohe Stirn, kluge braune Augen, die bemüht waren, zu fokussieren und ihn an Nella erinnerten. Er schien Brillenträger zu sein, denn er kniff dauernd die Augen zusammen, wie Kurzsichtige es tun. »Tragen Sie eine Brille, Signore Riccardi?«
Überrascht richtete Nellas Vater seine Augen auf den Major. »Ja, aber sie ist kaputt gegangen.«
»Ist er das?«, fragte Venuti überflüssigerweise.
Victor nickte.
»Wollen Sie ihn gleich mitnehmen oder sollen wir ihn überstellen?«
Eilig erwiderte Victor: »Ich habe Befehl, ihn mitzunehmen.«
Venuti sah ihn sekundenlang an. Vielleicht überlegte er, ob er nach dem schriftlichen Befehl fragen sollte, doch er grinste und machte eine knappe Kopfbewegung Richtung Ausgang. »Dann los.«
»Können Sie allein gehen?«, fragte Victor Bergemann.
Riccardi sah ihn ängstlich an. »Ja.«
»Haben Sie einen Mantel?«
Ungläubig sah Riccardi den Deutschen an. »Nein. Ich hatte einen Mantel.«
»Eh, Enzo, du verlässt uns? Weihnachten ohne dich wird traurig sein!«, sagte der junge Mann, der ihm aufgeholfen hatte.
Der andere Gefangene stieß ihn an. »Hör auf. Vielleicht hat er es bald hinter sich. Ist auch ein Weihnachtsgeschenk.«
Victor packte Enzo Riccardis Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Sie gehen nach Hause. Nella lässt Sie grüßen.«
Hoffnung flammte in Enzos Augen auf. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er griff zitternd nach der dargebotenen Hand. »Geht es meiner Tochter gut?« Seine Stimme war brüchig und Tränen standen in seinen Augen.
»Ja, Signore. Jetzt kommen Sie. Wir müssen uns beeilen.« Victor Bergemann legte seinen Arm um den ausgemergelten Körper und führte ihn nach draußen, wobei er sich der wachsamen Augen von Colonello Venuti bewusst war.
Als sie die Halle erreicht hatten, hielt Venuti inne und sah Victor direkt in die Augen und sagte mit Nachdruck. »Wir sind quitt. Buon Natale, Major!«
»Buon Natale, Colonello!« Mit knappem Kopfnicken verabschiedete sich der Major, packte den schwächer werdenden Riccardi und führte ihn durch die Halle zur Tür. Ohne Jacke würde der Mann sich den Tod holen. Kurzentschlossen zog Victor seinen Mantel aus und legte ihn Riccardi um die Schultern. Der Wachtposten sah ihn argwöhnisch an.
»Lassen Sie die Männer passieren!«, rief Venuti von hinten.
Die Tür schwang auf und sie traten in die Kälte hinaus. Schneeflocken fielen sacht vom Himmel. Riccardi hob sein Gesicht dem grauen Himmel entgegen und weinte. Die kleinen Eiskristalle senkten sich auf sein Gesicht, wo sie mit den Tränen verschmolzen.
»Kommen Sie, Riccardi. Wir müssen hier weg!«, drängte Victor Bergemann und zerrte den Entkräfteten mit sich fort. Aber wohin? Unmöglich konnte er ihn mit ins Hotel nehmen. Müller wartete nur auf eine solche Gelegenheit und würde sie verraten. Weg von den Wachtposten. Sie stolperten in eine ruhige Seitenstrasse. »Riccardi, haben Sie Freunde in Florenz? Kann Sie jemand nach Hause mitnehmen?«
»Wer sind Sie? Warum tun Sie das für mich?«, fragte Nellas Vater.
»Grüßen Sie Nella von mir und sagen Sie Ihr, dass ich mein Versprechen gehalten habe. Hier.« Victor nahm alles Geld, das er finden konnte aus seiner Brieftasche und drückte es dem verdutzt dreinblickenden Riccardi in die Hände. »Nehmen Sie es. Ich würde Ihnen den Mantel lassen, aber man kann Sie dafür erschießen.«
Victor Bergemann sah sich in der Strasse um. Ein kleiner Laden erregte seine Aufmerksamkeit. »Da vorn kaufen Sie sich einen Pullover und eine Jacke. Gehen Sie schon, Riccardi.«
Enzo Riccardi stopfte das Geld in seine Hosentaschen und sah Victor aufmerksam an. Dann ergriff er dessen Hände und drückte sie. »Ihren Namen, Signore?«
Der deutsche Offizier sah sich um, doch sie waren allein. »Victor.«
»Gott schütze Sie, Signor.« Enzo Riccardi ließ den Mantel von den schmalen Schultern gleiten, gab ihn Bergemann zurück und ging langsam, doch mit jedem Schritt sicherer auf den Beinen, auf das Bekleidungsgeschäft zu.
»Gott schütze Sie und Ihre Familie …«, murmelte Victor, zog seinen Mantel an und ging in entgegengesetzter Richtung davon.