Kapitel 2

Zwei Stunden nach dem Fliegeralarm saß Victor in der Küche der Villa Arndt und legte seinen Arm auf den großen Holztisch. Er hatte Küchen schon immer gemocht. In der Küche wurde das Essen zubereitet, geredet und man gab sich ungezwungen. Schon wieder dachte er an Nella. Das musste aufhören. Er hob den Blick. Die grauhaarige alte Frau kam mit einem Tablett herbeigeschlurft, auf dem sich Verbandszeug befand. Wie hieß sie noch gleich? Johanna? Ja, dachte er, Johanna Pape. Sie war Thesis Tante und eine verschrobene Person. Ihre kummervollen Augen streiften jeden immer nur flüchtig. Es schien, als weilten ihre Gedanken stets anderswo. Und sie redete mit sich selbst. Hatten Dorle und Thesi ihm vielleicht ihre Geschichte erzählt? Er wusste es nicht mehr.

Thesi war so hübsch wie immer. Blonde Locken, helle, strahlende Augen, das blühende Leben und die Verführung in Person. Himmel, die Männer mussten verrückt nach ihr sein. Und dabei wirkte sie so unschuldig. Aber das waren die gefährlichsten Frauen. Er schmunzelte, sog jedoch scharf die Luft ein, als Johanna, die er nicht beachtet hatte, den Verband abnahm.

»Nu mal nicht so zimperlich, der Herr Major.«

»Ist das Ihre Hand oder meine?«, gab er zurück.

Anstelle einer Antwort goss sie ihm Jodtinktur über den Schnitt.

»Das macht Ihnen wohl auch noch Spaß!« Verärgert über die rohe Behandlung starrte er seine unfreiwillige Krankenschwester an.

Johanna ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sorgsam tupfte sie die Tinktur und den ausgetretenen Eiter ab, gab einen Streifen Salbe auf den Schnitt, der sich quer über den linken Handrücken und drei Finger zog und wickelte eine saubere Mullbinde um die Hand. »Blut und Tod. Spaß? Mir macht das keinen Spaß, Herr Major. Meinen Bruder haben die umgebracht in Pirna. Fragen Sie Thesi. Ihr Vater war das, der da umgebracht wurde. Am Herzen krank war der nicht. Ha, der hatte ein Herz wie ein Ochse! Wissen Sie, was die da machen? In den Kellern, in den Kammern … Da verschwinden die Kinder. Da holen sie Säuglinge aus den Müttern! Ja, das habe ich gehört. Die Schatten, Herr Major. Hören Sie den Schatten zu, die auf den Straßen sind. Die sagen Ihnen, was wirklich vorgeht …«

»Johanna! Was redest du wieder für dummes Zeug?«, herrschte Dorle die Grauhaarige an, die erschrocken aufsah und dabei die Tinktur umstieß. »So pass doch auf, einfältiges Ding!« Rasch griff Dorle nach der braunen Flasche und bewahrte den Großteil des Inhaltes davor, über den Küchentisch zu laufen.

»Wir sind alle nervös, nicht wahr, Johanna?«, versuchte Victor die zitternde Haushälterin zu beruhigen und warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Du brauchst mich nicht so anzusehen, Victor«, sagte Dorle scharf und setzte den Stöpsel auf die Jodflasche. »Jod ist sehr teuer und kaum noch zu bekommen. Wenn Johanna es verschüttet, können wir keine Wunden mehr reinigen und weitere Verletzte sind zu erwarten. Oder kannst du uns Gegenteiliges berichten? Ich wäre erfreut!«, fügte sie voller Zynismus hinzu.

»Entschuldigung, Frau Bergemann. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht … Es tut mir so furchtbar leid.« Johanna Pape stand da wie ein Häuflein Elend und nestelte an einer grauen Haarsträhne, die sich aus dem Knoten gelöst hatte.

»Sie haben das gut gemacht, Johanna. So einen schönen Verband hat mir der Oberstabsarzt nicht gebunden.« Victor erhob sich und zog die Uniformjacke gerade. »Wir wollen doch das alte Jahr nicht mit einem Streit verabschieden.«

In den dunklen Augen der Haushälterin schimmerten Tränen. »Nein, Herr Bergemann. Es ist schön, dass Sie zurück sind.«

»Räumen Sie die Sachen hier weg und kümmern Sie sich um das Abendessen, Johanna. Und hören Sie um Himmels willen auf zu weinen. Ich kann das nicht ertragen! Nicht in meinem Zustand! Eine Schwangere sollte glücklich sein dürfen. Was soll denn aus dem Kind werden? Es wird weinend zur Welt kommen …« Um Dorles Mundwinkel zuckte es verdächtig und Victor befürchtete, dass seine Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand.

»Vielleicht legst du dich vor dem Essen noch ein wenig hin, Dorle? Es ist doch alles sehr anstrengend. Ich bringe dich nach oben und gebe dir mein verspätetes Weihnachtsgeschenk.« Was hatte Müller noch gekauft? Er hatte vergessen zu fragen.

Dorle sah ihn leidend an. Etwas an diesem Gesichtsausdruck erinnerte ihn an Erika Arndt, die er nicht lange gekannt hatte. Doch im Gedächtnis geblieben war ihm eine zerbrechliche Schönheit, deren Miene stets von einem nicht definierbaren Schmerz überschattet gewesen zu sein schien. Nun, er hoffte, dass Dorle diese Disposition nicht geerbt hatte und schob ihr unberechenbares Verhalten auf die Schwangerschaft.

»Victor, Dorchen schaut mal!« Thesi tänzelte in einem hellgrünen Seidenkleid in die Küche und drehte sich einmal um sich selbst, wobei der dünne Stoff raschelte. Strahlend fuhr sie sich durch die blonden Locken. »Wir verabschieden das dumme alte Jahr und freuen uns auf ein Neues, Glücklicheres!«

Sie umarmte Dorle und küsste sie auf die Lippen, eine Geste, die Victor immer befremdet hatte, doch er ließ die beiden Frauen gewähren. Sie hatten gemeinsam viel Schweres durchlebt und in ihrer engen Freundschaft lag etwas Rührendes. Außerdem mochte er Thesis fröhliches, flatterhaftes Wesen. Nein, er verspürte keine Eifersucht, aber wer nicht liebt, ist auch nicht eifersüchtig, dachte Victor, legte seine Hand vorsichtig auf Dorles Bauch. Als er eine Bewegung spürte, zuckte er erschrocken zurück.

Thesi nahm seine Hand und legte sie erneut auf den gewölbten Leib seiner Frau. »Es strampelt und regt sich wie wild. Das wird ein prächtiger kleiner Bergemann«, sagte Thesi lächelnd.

»Es wird ein Junge? Das weiß man schon?« Victor streichelte seiner Frau die Wange.

»Die Hebamme und der Arzt haben es beide gesagt. Das freut dich doch sicher, Victor? Ein Stammhalter.« Dorle stemmte die Hände in den Rücken. »Was für eine Strapaze. Ich bin froh, wenn ich wieder ganz ich selbst und diesen Quälgeist los bin.«

»Wenn das Kleine erst da ist und die Milch schießt, dann wünschst du dir gleich das nächste. Das hat Mutter Natur so eingerichtet«, sagte eine korpulente Frau mit roten Wangen, die eben um die Ecke kam. Hinter ihr drängelten sich drei Kinder im Alter von acht bis zwölf durch den Flur.

Hermann hatte angedeutet, dass die Villa seit dem Sommer einige Verwandte aus Winterhude beherbergte, die ausgebombt worden waren. Das hier war Hermanns Cousine, deren Namen Victor vergessen hatte.

Dorle verdrehte genervt die Augen. »Anneliese, bring deinen Kindern endlich bei, sich leise zu bewegen. Das Getrampel raubt mir den letzten Nerv. Ich lege mich jetzt schlafen. Die Feier beginnt um sieben Uhr.«

»Ich bringe sie nach oben, Thesi.« Victor reichte seiner Frau den unverletzten Arm und zwinkerte Thesi zu. »Hübsch!«

Annelieses Kinder rannten lärmend an ihnen vorbei und tobten die Treppe hinauf.

»Ich bringe die kleinen Ratten noch um …«, zischte Dorle und hielt sich den Leib.

»Ich sorge dafür, dass du Ruhe hast.«, versprach Victor.

Es war noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Die unteren Räume der Villa waren von den Kindern mit Papierschlangen und bunten Lampions geschmückt worden. An einer Wand des großen Salons hatte man das Buffet aufgebaut. Victor stand fassungslos vor den überbordenden Speisen, den Wein- und Sektflaschen, obwohl es ihn nicht wundern sollte. Hermann pflegte nicht nur Kontakte zu Krogmann, dem Bürgermeister der Stadt, sondern auch zu entscheidenden Stellen in der Heeresverwaltung. Im Hintergrund dudelte es vom Plattenteller »An der Donau war es immer so schön«. Es wurde getanzt, die Kinder rannten überall herum, froh, dass sich niemand um sie kümmerte. Offiziere verschiedener Heeresabteilungen waren zugegen, auch einer der SS-Männer aus dem Wagen, der sie vom Bahnhof abgeholt hatte, und Thesi hatte ihre Künstlerfreunde eingeladen.

Victor stand mit einer Zigarre neben einem Regal, in das er sein Weinglas gestellt hatte und betrachtete versunken die ausgelassene Gesellschaft. Dorle hatte ein goldenes Kleid gewählt, bei dem man erst auf den zweiten Blick ihre Schwangerschaft bemerkte. Gelegentlich sah sie sich nach ihm um und er lächelte ihr zu.

Ein kräftiges Schulterklopfen riss ihn aus seinen Überlegungen. »Wie fühlt es sich an, bald Vater zu werden?«

Hermann Arndt stellte sich mit einem vollen Cognacglas und einer Zigarre neben ihn. Der Kaufmann war innerhalb eines halben Jahres um ein Jahrzehnt gealtert, dachte Victor. Tränensäcke unter den Augen des Geschäftsmannes und eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen zeugten von Kummer und unkontrolliertem Alkoholgenuss. Victor nahm sein Glas und stieß mit seinem Schwiegervater an. »Unwirklich. Zum Wohl, Hermann.«

Sie genossen die Wirkung des starken Getränks und Victor fuhr fort: »Ich freue mich sehr auf mein Kind. Mir ist es sogar egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Nein.« Er paffte seine Zigarre. »Ein Mädchen wäre mir lieber. Das würde niemals eine Uniform tragen.«

Hermann sah ihn skeptisch an. »Und das sagt einer, der sich freiwillig gemeldet hat?«

»Blauäugig und ohne Verstand. Aber sag das bitte nicht deiner Tochter«, meinte Victor.

»Meine Tochter ist aus ganz hartem Holz geschnitzt.« Hermann hatte bereits leichte Schwierigkeiten bei der Aussprache und nuschelte undeutlich. Er beugte sich zu Victor und sein Atem roch nach Alkohol. »Härter als ich es bin. Ist das normal? Mir macht das manchmal Angst. Aber das darfst du ihr nicht sagen, Victor, mein Freund.«

Erstaunt sah Victor seinen Schwiegervater an. »Nein. Keine Sorge.«

Hermann nickte schwer. »Guter Junge.« Er tätschelte Victors Arm und zupfte an dessen Uniformjacke. »Guter Stoff. Hätte von mir sein können. Ich habe viele viele … Meter von gutem Tuch verkauft. Zu viele …« Er nahm einen großen Schluck Cognac und musterte Victor mit glasigem und gleichzeitig tieftraurigem Blick. »Zu viel. Ich habe viel Geld verdient. Aber weißt du? Jetzt macht es keinen Spaß mehr. Es klebt …« Er schüttelte seine Hand, wobei die Zigarre auf den Boden aschte. »Victor …«

Hermann neigte den Kopf an Victors Ohr, so dass dieser den feuchten Atem seines Schwiegervaters spürte. »Du hast sie auf den Straßen gesehen, bestimmt hast du sie bemerkt. Du bist keiner, der wegschaut. Johanna nennt sie die Schatten.« Heiser und mit schwerer Zunge flüsterte Hermann Arndt: »Ich habe die Schatten eingekleidet. Ha! Ist das nicht irre komisch? Die Schatten haben ihre hübschen gestreiften Anzüge von mir!«

Einige Gäste sahen zu ihnen herüber und Victor bemühte sich um eine freundliche Miene. »Mensch, Hermann, lass das niemanden hören. Das könnte man dir falsch auslegen. Na komm, wir setzen dich in den Sessel.«

Doch jetzt geriet der Kaufmann mit dem plötzlich entdeckten Gewissen erst richtig in Rage. Er machte sich los, torkelte zur Seite und hob schwungvoll die Arme. Der Rest aus seinem Cognacglas ergoss sich auf Sessel und Parkett, die Zigarrenasche rieselte über die Schweinelendchen auf dem Buffet. »Ich habe den Schatten die Streifen verpasst! Das ist doch urkomisch!« Er lachte laut, verschluckte sich, hustete und lief rot an.

Victor klopfte ihm auf den Rücken und nahm seinem keuchenden Schwiegervater Glas und Zigarre aus den Händen. Bevor Hermann das Gleichgewicht verlor, wurde er von Victor geschickt in den nächsten Sessel dirigiert, wo er an seinem Kragen zu reißen begann. »Luft …«

Dorle löste sich aus der Menge und kam auf sie zu. »Was macht ihr denn hier? Wir wollen gleich anstoßen!« Als sie den Zustand ihres Vaters entdeckte, verzog sie missbilligend den Mund. »Dass du auch immer zuviel trinken musst, Vater. Johanna!«

Doch die Haushälterin war nicht zu sehen. Ein junges Mädchen in gestärkter Schürze und mit einem Spitzenhäubchen auf den Haaren stellte ein Tablett mit Karaffen ab und eilte ihnen zu Hilfe. »Johanna ist hinten. Kann ich helfen, Frau Bergemann?«

»Kaltes Wasser und ein Tuch. Schnell!«, befahl Dorle, ohne sie anzusehen.

Bei seinem Bemühen, den schwergewichtigen Kaufmann vor einem Sturz zu bewahren, hatte die Wunde an Victors Hand erneut zu bluten begonnen.

»Männer! Kaum lässt man euch zwei Minuten allein, schon kann man hinter euch aufwischen …«, schimpfte Dorle und wirkte erleichtert, als Thesi sich zu ihnen gesellte.

Mit geröteten Wangen und wippenden Locken tänzelte Thesi beschwingt herbei, streichelte Dorles Wange und machte ein erschrockenes Gesicht, als sie den angeschlagenen Hermann und das Blut auf Victors Verband sah. »Ach du liebe Zeit!« Besorgt griff sie nach Victors Arm.

Das Dienstmädchen brachte eine Stoffserviette und einen Wasserkrug mit. »Bitte sehr, Frau Bergemann.«

Dorle riss ihr die Serviette aus der Hand, tauchte sie in das Wasser und tupfte ihrem Vater, der nicht mehr hustete, die Stirn ab. »Muss ich denn alles selbst machen? Hol mir Johanna, zum Teufel!«

»Na komm, Victor. Wir verbinden dich neu. Siehst auch blass um die Nase aus.« Die schöne junge Frau lächelte und zog ihn mit sich fort.

In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr, auf dem Herd köchelte eine Ochsenschwanzsuppe vor sich hin, die traditionell nach Mitternacht serviert wurde, und eine Küchenhilfe frittierte Krapfen. Ein ganz normales Neujahrsfest, wären da nicht die Warnblätter zum Verhalten bei Fliegeralarm gewesen und der Metallschrank mit dem roten Kreuz. Victor setzte sich auf einen Schemel und legte seine Hand auf den Tisch, wie kurz nach seiner Ankunft an diesem Tag. »Tut mir leid, Thesi. Ich möchte keine Umstände machen. Das geht auch so. Du solltest zurück zu den anderen.«

Ein Blick auf die große Küchenuhr zeigte, dass es noch fünf Minuten bis zum Jahreswechsel waren. Thesi wandte sich an die Bediensteten. »Na los, geht schon alle in den Salon. Schnappt euch ein Glas Sekt und nehmt Johanna mit. Wo steckt sie denn nur?«

Die Frauen nickten erfreut, ließen Kelle und Spüllappen fallen und eilten hinaus. Seufzend öffnete Thesi den Medizinschrank und nahm eine Mullbinde heraus. Sie bewegte sich mit der natürlichen Anmut einer Tänzerin. Jede ihrer Bewegungen war weich und fließend, ihre zarte Figur mit den runden Brüsten zeichnete sich verführerisch unter dem Seidenkleid ab.

»Warum bist du noch nicht verheiratet, Thesi?«, fragte Victor.

Sie legte die Binde auf den Tisch, stellte sich dicht neben ihn und nahm sanft seine Hand auf. »Vielleicht habe ich noch nicht den Richtigen gefunden, vielleicht ist der Mann, den ich haben wollte, vergeben …«

Er spürte den glatten Stoff ihres Kleides an seiner Wange, roch ihr blumiges Parfum und wurde nicht klug aus der besten Freundin seiner Frau. Sie spielte mit ihm, genau wie sie mit allen spielte. Das hatte sie getan, solange er sie kannte.

Ihre Lippen streiften sein Ohr. »Vielleicht ist die Ehe aber auch nichts für mich. Sie ist so eindimensional.«

Er nahm den Kopf zur Seite und ließ seine freie Hand über ihren Rücken gleiten. »Zu eindimensional?« Nach einem scherzhaften Klaps auf das Hinterteil schob er sie ein Stück von sich. »Du spielst gern mit dem Feuer, Therese Pape. Verbrenn dir nicht die hübschen Flügel.«

Aus dem Salon hörten sie das Anschwellen von Musik und Stimmen. »Gleich ist es soweit. Schaffst du das in einer Minute? Sonst lass es uns danach machen«, sagte Victor und blickte zweifelnd auf den Verband.

»Was wollt ihr danach machen?« Wie ein Schwert fuhr Dorles Stimme durch den Raum. »Hier treiben sich also mein Gatte und meine beste Freundin herum!«

Ganz in Gold stand die Rachegöttin mit wutverzerrtem Gesicht im Durchgang. Victor hob matt die verletzte Hand. »Sie wollte mich verbinden. Wie geht es deinem Vater?«

Im Salon begann die Gesellschaft von zehn an rückwärts zu zählen. Rasch ergriff Thesi eine Sektflasche, füllte drei Gläser, stellte eines vor Victor auf den Tisch und drückte eins ihrer Freundin in die Hand.

»Du siehst überall Gespenster, meine Süße. Bald ist das vorbei.« Thesi küsste Dorle auf die Wange und streichelte ihren Leib. »Drei, zwei, eins …Prosit Neujahr!«, rief Thesi und hob ihr Glas.

Victor war ebenfalls aufgestanden und stieß zuerst mit seiner Frau an. »Auf unser Kind und dass es in friedlichen Zeiten aufwachsen möge!«

»Auf das, was wir lieben!« Dorle hielt ihrem Mann die gespitzten Lippen hin.

Als Victor sie küsste, dachte er an Nella und leerte sein Glas in einem Zug.

Thesi tat es ihm gleich und umschlang sie beide mit ihren Armen. In seinem Rücken spürte Victor den Stiel des Sektglases. »Ich liebe euch! Ihr seid meine Familie!« Voll überschäumender Herzlichkeit küsste sie zuerst Victor und dann ihre Freundin auf den Mund.

Dorle wischte sich die tränennassen Augen. »Verzeiht ihr mir? Ich bin furchtbar! Aber das liegt an den verdammten Hormonen. Ich muss meinen Vater suchen. Du verbindest jetzt meinen Mann und dann wollen wir tanzen!«

Schweigend sahen Victor und Thesi zu, wie Dorle um die Ecke rauschte. Die Musik brandete auf und die Stimmung der Feiernden war so ausgelassen als gäbe es nur noch diese eine Nacht.

»Was sollte das eben, Thesi?«, wollte Victor wissen als sie sich erneut an den Tisch setzten, auf dem noch der frische Verband wartete.

»Was denn?« Energisch wickelte Thesi die blutige Binde ab. »Früher konnte ich kein Blut sehen. An was man sich alles gewöhnt ist doch erstaunlich …«

»Du liebst uns?«

»Leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage! Meine Güte! Sagt man das nicht? Aber wenn du schon fragst. Ich liebe Dorle. Und nur sie. Verstehst du mich?« Sie sah ihn kurz an, warf den blutigen Verband auf einen Teller und tastete die Schnittränder ab. »Sieht gut aus. Du darfst die Hand nur nicht so viel bewegen.«

»Und was ist mit mir? Habe ich sie dir nicht weggenommen?«

Thesis blaue Augen sahen ihn fast mitleidig an. »Niemand kann uns trennen, Victor. Wir teilen alles miteinander.«

»Alles?«

Sie zuckte nicht mit der Wimper und ein katzenhaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. Victor hatte seine Zweifel, was Dorles Toleranz betraf. Dorle war eifersüchtig, besitzergreifend und unberechenbar.

»Wenn du dich da mal nicht täuschst, Thesi …«, murmelte er.

Die Antwort war ein leises selbstsicheres Lachen.

Am Neujahrsmorgen ging Victor über die spiegelglatte Terrasse in den Garten hinunter. Eine dicke Eisschicht überzog Balustrade, Stufen und den Brunnen. Zarte Schneeflocken rieselten vom grauen Himmel und bedeckten nach und nach die Überreste der ausschweifenden Silvesterfeier. Aufgerissene Feuerwerkskörper, das grüne Papier von Böllern, Sektflaschen und bunte Papierschlangen waren überall verstreut. Im Bassin des Brunnens lagen etliche Sektgläser und hinter einem Busch hatte sich jemand von seinem Mageninhalt getrennt. Angewidert wandte Victor den Blick ab und ging vorsichtig in Richtung Elbe.

Ob er das Meer liebte, hatte der junge Leutnant Engel ihn gefragt. Victor schlug seinen Mantelkragen hoch und betrachtete den Pavillon, dessen Dach von einer Haube aus gefrorenem Schnee bedeckt wurde. Wo die übermütigen Partygäste sie nicht abgeschlagen hatten, zierten dicke Eiszapfen den hölzernen Überstand des Pavillons. Die Straße entlang der Elbe war zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden, und Victor beschränkte sich auf einen Blick von seinem erhöhten Standort aus. Zwei Kriegsschiffe bahnten sich lautlos ihren Weg durch vereinzelte Eisschollen. Grau in grau waren sie kaum vom trüben Wasser des Flusses zu unterscheiden. In einiger Entfernung jaulten Sirenen. Die Atempause war vorbei. Bald würde es wieder losgehen. Noch hielten sie die Stellungen in Italien, aber an der russischen Front hatten sie bereits auf ganzer Linie verloren und nicht nur dort …

»Victor!«

Er drehte sich um. Dorle stand in einem bodenlangen Pelzmantel auf der Terrasse und winkte ihn zu sich. Noch einen Moment gestand er sich zu. Ein kurzer Augenblick der Ruhe, in dem er sein Herz ins Chiana Tal schickte. Er schloss die Augen und fühlte, wie die winzigen Eiskristalle auf seine Lider fielen. Schnee in der Toskana. Lächelnd ging er auf seine Frau zu. »Frohes neues Jahr, Dorle!«

Er wollte sie in die Arme nehmen, doch sie wich ihm aus. »Ob wir viel Grund zur Freude haben werden, bleibt abzuwarten. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du gestern Abend so innig mit Thesi herumpoussiert hast?«

»Du kennst deine Freundin doch besser als ich, meine Liebe. Sie hat eine sehr herzliche und einnehmende Art, der man nur schwer ausweichen kann.« Er griff nach ihrer Hand. »Müssen wir uns streiten? Ich habe nur wenig Zeit und ….«

»Ach ja, wo du es sagst, Müller wartet bereits auf dich. Was ist er, Gefreiter? Ungehobelter dreister Kerl. Ich habe ihn ins Lesezimmer bringen lassen. Der Salon sieht noch wüst aus. Aber am Neujahrsmorgen kann man vom Personal nicht allzu viel erwarten.«

»Wohl kaum. Es sind auch nur Menschen, Dorle. Wieso ist Müller schon hier?« Victor ahnte, dass sein Urlaub ein abruptes Ende finden würde und sein Bedauern hielt sich in Grenzen.

»Neue Befehle. Natürlich wollte er mir nicht mehr sagen. Alberner, feister Wichtigtuer. Die Offiziere gestern waren aus anderem Holz geschnitzt, wussten sich zu benehmen und Damen den nötigen Respekt zu zollen.«

Victor hüstelte und behielt die Wahrheit über das ausschweifende Leben besagter Offiziere für sich. »Sicher doch. Sie haben sich wohl gefühlt in euerm Haus, keine Frage. Wie macht ihr das? Das Essen, der Sekt? Es gibt doch kaum noch etwas.« Wohin man blickte, wurde Pferdefleisch angeboten und die Leute beklagten sich über schlechtes Brot.

Gespieltes Erstaunen schwang in ihren Worten mit. »Das fragst du? Was glaubst du, wie ich es geschafft habe, dass du Urlaub bekommst? Beziehungen!« Sehr sanft griff sie plötzlich nach seinem Arm, hakte sich bei ihm unter und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Bitte sei nachsichtig mit mir. Dieser Zustand macht mir mehr zu schaffen, als ich gedacht hätte. Wenn das Kind erst auf der Welt ist, wird sich alles ändern. Aber ich kann nicht hier bleiben, Victor. Das verstehst du, nicht wahr? Ich kann das Kind nicht zwischen den Bombenangriffen im Luftschutzkeller gebären!«

»Wo wollt ihr denn hin? Ich bin durch Deutschland gefahren und habe in allen Städten das gleiche gesehen!« Und die Alliierten würden die Bombenangriffe noch verschärfen.

»Zu meinen Verwandten aufs Land natürlich! Wir fahren morgen nach Husum! Ich wollte es dir gar nicht sagen, um dich nicht zu beunruhigen, weil du doch erst morgen fahren wolltest, aber nun …«

Er half ihr über die gefrorene Terrasse. »Das ist keine schlechte Idee. Da oben seid ihr sicherer als hier. Begleitet dein Vater euch?«

»Nein, er will nicht weg aus Hamburg. Er sagt, wenn er die Segel streicht, steht hier nachher kein Stein mehr auf dem anderen. Vielleicht hat er Recht. Er freut sich auf seinen Enkel. Freust du dich auch?« Zum ersten Mal sah er Angst in ihren Augen, nur kurz, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Natürlich freue ich mich, Dorle!« Er hatte sich immer Kinder gewünscht. Wenn alles vorbei war, würde sich der richtige Augenblick für ein klärendes Gespräch finden. Er küsste sie auf die Wange. »Na, wollen mal sehen, was Müller so früh hier herauf getrieben hat.«

Im Salon waren die Dienstmädchen mit dem Aufräumen beschäftigt. Tante Annemarie aus Winterhude hatte anscheinend ihre Berufung gefunden, denn sie kommandierte die armen Mädchen mit unerbittlicher Strenge hin und her. »Ein gesegnetes neues Jahr, Herr Major!«, rief sie lauter als notwendig.

Victor nickte und ging mit Dorle in die Eingangshalle. »Ich bin froh, dass du nach Nordfriesland fährst. Dann muss ich mir wenigstens um dich keine Sorgen machen.«

»Oh, hallo ihr beiden Lieben!« Thesi kam in einem Wollkleid, und einem lose um ihre Hüften geknoteten Schal, die Treppe herunter. Trotz dunkler Ringe um die Augen wirkte sie reizend.

»Auferstanden von den Schnapsleichen?«, flachste Victor.

»Sprich es nicht aus … Aber, huhh, was für eine Party! Jetzt packen wir die Koffer und dann geht es ab an die See. Es ist so traurig, dass du uns nicht begleiten kannst, Victor. Aber wir machen sofort ein Foto von eurem Schätzchen!« Sie rutschte das letzte Stück auf dem Treppengeländer hinunter, kam direkt vor Victor und Dorle zum Stehen und umarmte beide.

»Wie du es sagst, klingt es fast nach einem Urlaub. Wie kommt ihr hin? Die Züge sind nicht mehr sicher …« Er hielt seine verbundene Hand hoch.

»Hermann hat einen Fahrer organisiert«, sagte Thesi und strich Victor über die Wange. »Pass auf dich auf. Wir wollen doch den Vater wohlbehalten wieder sehen.«

»Aber ja doch. Macht euch keine Sorgen. Ich spreche jetzt mit Müller und dann trinken wir zusammen Kaffee.«

Der letzte Satz ging im Sirenengeheul des einsetzenden Fliegeralarms unter. Panisch klammerte Dorle sich an ihre Freundin. Das Geheul schwoll an und wurde vom Brummen sich nähernder Bomber verstärkt. »Diesmal müssen wir in den Keller!«, rief Dorle und legte schützend einen Arm um ihren Bauch.

Jeder kämpfte seinen eigenen Krieg.