Bibbona lag südlich des beliebten Strandbades Cecina und Oda hoffte, dass nicht allzu viele Feriengäste dorthin unterwegs waren. Die teilweise abenteuerliche Straße führte über Volterra. Malerisch thronte die Festungsstadt auf einem Bergrücken in der Abgeschiedenheit einer schroffen Hügellandschaft. Diese Gegend kontrastierte in seiner Kargheit auf faszinierende Weise mit der lieblichen Toskanalandschaft um Casole und San Gimignano. Für landschaftliche Besonderheiten hatte Oda heute jedoch kein Auge, denn sie hatte sich vorgenommen, mit Ugo Gambetti sprechen. Nellas ältester Sohn musste doch etwas über den Vater, Alcide, wissen. Zumindest am Anfang schienen sie ein gutes Verhältnis gehabt zu haben.
Oda fuhr zu schnell in eine scharfe Linkskurve. Die brüchigen Ränder des Straßenbelags taten ein Übriges und ihr Wagen rutschte einige Meter über den staubigen Sand. Es gelang ihr gerade noch, den Wagen wieder auf die Fahrbahn zu bringen. Sie war zu fahrig und unkonzentriert. Über Guardistallo kam Oda schließlich auf einer schmalen Nebenstraße nach Bibbona. Ihre Stimmung hob sich beim Anblick des Meeres, das blau hinter den Pinienwäldern schimmerte. Sie parkte am Ortsrand.
Etliche Hinweisschilder wiesen auf die Besiedelung durch die Etrusker hin. Sie schlenderte durch alte Rundbögen auf Pflastersteinen, auf denen bereits römische Soldaten marschiert sein mochten, und fragte sich, ob ihre Mutter hier mit ihr gewesen war. Einiges hier schien ihr vertraut.
Vor einem Schaufenster mit Vasen und Stoffen blieb Oda stehen. Die Stücke waren exquisit, genau wie die Preise. Sie steckte die Sonnenbrille in ihr Haar und pfiff durch die Zähne. Dann las sie das Schild über der Eingangstür: Gambetti.
»Gefällt Ihnen etwas davon? Kommen Sie herein, wenn Sie möchten. Ich schließe kurz auf.« Ein schlanker Mann in hellblauem Hemd, weißer Hose und Slippern war um die Ecke getreten. Sein Gesicht war gebräunt, die grauen Haare kurz geschoren und als er den Schlüssel schwenkte blitzte ein Ring mit einem auffallenden Stein an seinem kleinen Finger.
Sie schätzte ihn auf Ende fünfzig. Als er sie anlächelte, dachte Oda sofort an Nella und streckte die Hand aus. »Signore Gambetti? Es freut mich sehr, dass ich Sie hier antreffe.«
Überrascht hob er die Brauen und bat sie mit einer eleganten Handbewegung einzutreten.
Ugo Gambetti deutete auf ein Tablett mit Gläsern. »Wasser mit Zitrone?«
»Gern, danke. Ich …«
»Moment, ich hole die Flasche aus der Kühlung.«
Während er in einem Labyrinth aus Möbeln, Bildern, riesigen Porzellantigern und Plaids verschwand, bewunderte sie die Ausstellung. Als er mit einer Wasserflasche zurückkehrte, meinte Oda: »Sie haben eine ausgesprochen schöne Auswahl hier. Mein Vater war Stoffhändler. Danke.« Durstig trank sie das kalte Wasser.
»Dann sind Sie auf Empfehlung hier? Sie hätten einen Termin machen sollen. Ich bin nur zufällig vorbeigekommen. Eigentlich war ich auf dem Weg zum Strand.«
»Wenn ich Sie aufhalte … ich bin nicht geschäftlich hier. Es geht um etwas Privates. Ich bin mit Ihrer Mutter befreundet, die in Arezzo im Krankenhaus liegt. Sie wird aber wieder gesund!«, betonte Oda schnell. Er sah sie so offen an, dass sie keine Ausflüchte machen, sondern direkt zum Punkt kommen wollte.
»Oh.« Ugo Gambetti setzte sich in einen Korbsessel. »Ich habe Zeit für Sie, glauben Sie mir. Meine Mutter hat so gut wie keine Freunde. Jedenfalls wäre mir das neu. Von daher bin ich mehr als gespannt auf Ihr Anliegen. Aber warum ist sie im Krankenhaus? Sie hat die Konstitution eines Bullen und wird uns alle überleben.«
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Das ist mein Problem. Ich habe eine für ihr Alter äußerst agile und gesunde Frau kennengelernt und nun hatte sie einen Unfall. Das ist eine etwas längere Geschichte …« Oda machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion.
Ugo Gambetti schlug die Beine übereinander und nickte ihr aufmunternd zu. Bemüht, alles wahrheitsgetreu wiederzugeben, wobei sie den Brief, Dante und die Liebesbeziehung zwischen Victor und Nella geschickt umschiffte, berichtete Oda dem aufmerksam zuhörenden Ugo was sich abgespielt hatte.
Einen Seufzer unterdrückend erklärte Oda den konkreten Anlass ihres Besuches: »Und jetzt stellt sich mir die Frage, ob es vielleicht in der Vergangenheit Ihres Vaters etwas gibt, das die Familie belasten könnte. Nella deutete so etwas an, aber sie will nicht darüber sprechen! Aber ich glaube, dass sie allein an ihre Grenzen gestoßen ist. Dieser Unfall war vielleicht kein Unfall …« Fragend sah sie Nellas ältesten Sohn an.
Der fuhr sich über die kurzen Haare und richtete seine dunklen Augen auf Oda. Nachdenklich wippte er mit seinem Fuß hin und her. »Wissen Sie, Signorina Bergemann, das alles ist mir vollkommen neu. Ich habe wenig Kontakt zu meiner Mutter. Sie kennen eine Seite von ihr, die sie mir nur selten zuteil werden ließ.« Er lächelte bitter. »Sie hat mir nie etwas anvertraut, genauso wenig wie mein Vater.«
»Das tut mir leid. Verzeihen Sie, dass ich Sie so einfach überfallen habe«, sagte Oda, als sie den Schmerz in seinem Blick las.
Doch Ugo Gambetti richtete sich auf und drehte den Ring an seinem kleinen Finger. »Diesen Ring habe ich von meinem Lebensgefährten.«
Heutzutage war es ja nun wirklich keine große Sache mehr, homosexuell zu sein, aber für manchen Vater mochte es dennoch ein brisantes Thema sein. »Ja, Sandro deutete an, dass Sie sich deshalb mit Ihrem Vater überworfen haben.«
»Überworfen ist eine nette Untertreibung. Mein Gott! Als mein Vater mich eines abends mit einem Jungen in der alten Ölmühle erwischte, ist er so wütend geworden, dass ich dachte, er bringt mich um! Ich war fünfzehn und nicht sehr kräftig. Mein Vater war wesentlich stärker als ich. Zuerst hat er mir ins Gesicht geschlagen und mich dann mit einem Tau gepeitscht, bis ich keine Haut mehr auf dem Gesäß hatte.« Ugo Gambetti schwieg und ließ seinen Blick ziellos über die schönen Einrichtungsgegenstände gleiten.
»Und wie hat ihre Mutter reagiert?«, fragte sie zaghaft.
Er holte tief Luft. »Falls Sie erwarten, dass Nella mich in Schutz genommen hat, muss ich Sie enttäuschen. Sie hat sich ganz auf die Seite meines Vaters gestellt. Die Prügel fand sie übertrieben, aber nicht so sehr, dass sie sich deswegen mit meinem Vater gestritten hätte. Sie hat immer zu ihm gehalten. Immer … Wissen Sie, das habe ich eigentlich nie verstanden.« Ugo schob die aufgekrempelten Ärmel höher und goss Wasser nach. »Sie ist eine starke Frau, diszipliniert, intelligent und praktisch und hatte es nicht nötig, sich so von meinem Vater behandeln zu lassen.«
Als sie ihn verständnislos anschaute, fügte er hinzu: »Er hat sie oft betrogen. Damals kamen jeden Sommer einige Erntehelfer auf den Hof. Der Hof war nie riesig, aber es gehörte noch ein Weizenfeld dazu. Mein Vater war ein gut aussehender Mann und hatte es leicht bei den jungen Mädchen. In Monte San Savino hatte er für drei Jahre eine Geliebte. Das traf meine Mutter besonders schwer. Ich habe sie oft heimlich weinen sehen, aber nach außen hin hat sie sich nichts anmerken lassen. Damals war ich noch sehr jung und hatte genügend eigene Probleme.« Er grinste. »Stellen Sie sich einen Schwulen in einer Machogesellschaft vor … So etwas gibt es nicht!«
»Verstehe … Ist es denn heute anders?«
Ugo machte eine vage Handbewegung. »Kommt auf die Gegend an. In meinem Beruf ist es nichts Ungewöhnliches. Aber für jemanden, der mit einem Patronengurt über der Schulter und einem Gewehr in der Hand durch die Wälder gezogen ist, Züge und Soldaten in die Luft gebombt hat, ist ein Schwuler sicher ein rotes Tuch. Jedenfalls kam mir später dieser Gedanke. Und überhaupt hat die Zeit im Widerstand meine Eltern geprägt. Sie haben mit uns Kindern nie richtig darüber gesprochen. Wir wurden zwar zu den alljährlichen Treffen der Resistenza mitgeschleppt, aber uns interessierten nur die Spielautomaten, die es meist in den Veranstaltungsräumen gab, die Disco …«
Oda hörte ihm gespannt zu. Das Bild der glücklichen Ehe von Nella und Alcide bekam mehr und mehr Risse. Vielleicht hatte Alcide von Nellas heimlicher Liebe gewusst und sich auf seine Weise gerächt. Warum nur hatte Nella dieses Martyrium auf sich genommen? Sie hätte weggehen können. Aber hätte sie das wirklich? Immerhin hatte sie Kinder und die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg waren wirtschaftlich schwere Jahre gewesen.
»Die Resistenza. Was diese Menschen, meine Eltern, geleistet haben, ist bewundernswert, aber es hat sie nie losgelassen. Alte Seilschaften, die Kommunisten, ich habe das alles abgelehnt, instinktiv. Ich wollte davon nichts wissen. Es hat sie unglücklich gemacht.«
»Warum sagen Sie das? Gab es einen konkreten Vorfall? Irgendetwas, in das ihre Eltern verwickelt waren?«
»Es gab einen Jagdunfall, der meine Eltern sehr mitgenommen hat. Marco Luzzati wurde Ende der sechziger von einem Querschläger erwischt. Das kommt vor. In den Wäldern hier wurde und wird viel gejagt und leider erwischt manchmal eine Kugel einen aus der Jagdgesellschaft. Meistens sind es nur Verletzungen. Bei Marco Luzzati war der Schuss tödlich, das war schrecklich. Es wurde noch lange darüber geredet. Marco Luzzati hatte viele Feinde und die Gerüchteküche brodelte, wer es ihm hatte heimzahlen wollen.«
Wie elektrisiert saß Oda auf ihrem Stuhl. »Marco Luzzati, der Vater von Stefano Luzzati, dem Weinhändler?« Sofia hatte darüber gesprochen, aber nicht erwähnt, in wessen Gesellschaft Stefanos Vater gewesen war.
»Sie kennen Stefano?«
»Flüchtig. Monte San Savino ist nicht groß und es ist nicht leicht, Stefano aus dem Weg zu gehen …«, sagte sie halb im Scherz.
»Dann kommt er wohl ganz nach seinem Onkel Silvio. Der war hinter jedem Rock her. Silvio und Marco waren Brüder und beide Gauner. Aber Marco war schlimmer. Er hat gesessen, Silvio hatte mehr Familiensinn, obwohl er keine eigene Familie hatte. Ich erinnere mich, dass ich Marco nie leiden konnte. Immer wenn er auf den Hof kam, gab es Ärger. Ich war zu jung, um zu verstehen, um was es ging. Es hing mit den alten Zeiten, mit Verpflichtungen zusammen. Ich weiß es wirklich nicht. Mein Gott … Das ist so lange her und trotzdem verfolgt es meine Mutter. Das denken Sie doch, nicht wahr?«
Oda nickte. »Die Wehrmachtspistole, mit der auf die Rinder und auf Basilio geschossen wurde, hat sie sehr beunruhigt und übrigens auch einen Commissario aus Arezzo. Der hat sofort auf Verbindungen zur Resistenza getippt. Also war ihr Vater mit auf der Jagd, als Marco Luzzati erschossen wurde?«, hakte sie nach.
»Ich bin mir nicht sicher. Auf jeden Fall hat die Sache für Aufsehen und eine polizeiliche Untersuchung gesorgt. Der Schütze wurde nicht gefunden. Nein, ich glaube sogar, dass mein Vater ein Alibi für die Tatzeit hatte. Jaja, so war das. Alle, die regelmäßig jagten und Kontakt zu Marco hatten, wurden befragt. Meine Mutter und ein Knecht haben sich damals dafür verbürgt, dass mein Vater zu der fraglichen Zeit auf dem Hof gewesen ist. Es wurde viel darüber geredet.«
Nachdenklich knetete sie ihre Hände. War das Alcides Schuld? Das würde Nellas Schweigen erklären.
Ugo runzelte die Stirn. »Mein Vater hat Marco Luzzati nicht erschossen. Warum auch? Nein, da gab es andere mit schwerwiegenden Motiven. Luzzati war nur ein Betrüger.«
»Aber warum hat es Ihre Eltern dann so beschäftigt?«
Er hob die Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Fragen Sie meine Mutter.«
Oda deutete ein Lachen an.
»Tja, dann wird es wohl schwierig. Und ihr Zustand ist nicht lebensbedrohlich?«, fragte er und erkundigte sich damit zum ersten Mal ernsthaft nach ihrer Gesundheit.
»Nein. Dass heißt, ich bin kein Arzt … Hat Sie denn niemand benachrichtigt?«
»Emilia vielleicht? Die lebt doch immer noch auf dem Hof, oder? Meine Schwester und ich hatten nie ein gutes Verhältnis. Und ich entnehme Ihrer Mimik, dass Sie es auch nicht leicht mit ihr haben.«
Eine melodisches Handyklingeln ertönte. Ugo nahm den Anruf entgegen. »Ciao, mein Lieber. Ich bin gleich bei dir. Es ist mir etwas dazwischen gekommen.«
Oda erhob sich, denn sie war bereits aufdringlich genug gewesen und hörte, wie Ugo seinem Freund versicherte, dass er bereits auf dem Weg war.
»Ah, er ist so eifersüchtig, dass es manchmal kaum zu ertragen ist«, sagte Nellas Sohn und steckte das Telefon in die Hosentasche. »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie den weiten Weg hier heraus unternommen haben. Sie müssen mich für einen furchtbaren Sohn halten, weil ich nicht sofort nach Arezzo fahre.« Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Sie würde mich sowieso nicht sehen wollen.«
»Das glaube ich nicht«, widersprach sie ihm.
»Ihr Mitgefühl in Ehren. In unserer Familie stimmt so einiges nicht …
aber bitte …« Er hob eine vergoldete Visitenkarte vom Tisch und reichte sie ihr. »Rufen Sie mich an, falls sich ihr Zustand verschlechtert?«
»Sehr gern. Und falls ich nicht mehr hier bin, möchten Sie, dass Ihr Neffe, Sandro, Sie informiert?«
»Sandro, hübscher Junge, ach ja, der ist jetzt auf dem Hof. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Sein Vater, Ettore, ist ein feiner Kerl, obwohl der sich wahrscheinlich einen anderen großen Bruder gewünscht hätte …«