Kapitel 5

Als Oda bei einbrechender Dunkelheit auf den Hof der Gambettis fuhr, fiel ihr sofort die elegante Limousine auf. Nach diesem Tag auch noch eine Befragung von Commissario Zanolla über sich ergehen zu lassen, war mehr als sie ertragen konnte. Sie stellte den kleinen Fiat, der wirklich in einem erbärmlichen Zustand war, vor dem Stall ab. Bruno kam um die Ecke getrottet und begrüßte sie schwanzwedelnd.

Sie strich ihm über den Kopf, kraulte seine Ohren und sah sich dabei um. In einer Ecke des Hofes war der Tiertransporter geparkt. Basilio war weder zu sehen noch zu hören. Oda lauschte auf das Zirpen der Grillen und die Geräusche der Tiere. Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da und horchte in die beginnende Nacht hinein. Wenn nur die Rinder nicht so krank wären. Seufzend streckte sie sich und ging langsam auf die Küche der Casa Gambetti zu. Sie fühlte sich wie zerschlagen, brauchte eine Dusche und etwas zu essen, aber die Hoffnung auf diese Annehmlichkeiten schwand mit dem Erscheinen des Commissario auf dem Treppenabsatz.

Gelassen kam er die Stufen herunter. Selbst bei dieser Wärme trug er einen Anzug, hellgrau und mit einem weißen Hemd. Neugierig musterte er sie. »Man erwähnte, dass Sie hier sind. Zufall?«

»Wohl kaum, Commissario.« Oda schüttelte die dargereichte Hand. »Wenn man Ihnen bereits gesagt hat, dass ich hier bin, wissen Sie ja auch, warum.«

Sie standen sich auf gleicher Höhe gegenüber. Seine goldene Uhr blitzte auf, als er sich über den kahlen Schädel fuhr. »Nicht ganz, fürchte ich. Zumindest halte ich Ihre Anteilnahme am Schicksal der alten Dame für recht ungewöhnlich. Dafür, dass Sie nur eine Touristin sind und damals zufällig Zeugin des Unfalls wurden …«

»So etwas verbindet, Commissario. Ich bin ein mitfühlender Mensch«, konterte Oda.

»Und dann erscheinen Sie ausgerechnet jetzt, wo es wieder einen Unfall gegeben hat.« Zanolla fixierte sie.

»Es wurde nicht geschossen. Signora Gambetti ist hingefallen. Das soll bei älteren Menschen ja durchaus vorkommen.« Oda war zu erschöpft, um sich noch einschüchtern zu lassen.

»Sarkasmus ist eigentlich mein Metier, Signorina.«

»Entschuldigen Sie es damit, dass ich todmüde, hungrig und verschwitzt bin. Ich war im Krankenhaus und das ist niemals etwas Erquickliches, obwohl es der Signora zumindest besser geht.«

»Sie sind heute erst angekommen?«

Der Kerl ließ einfach nicht locker. »Nein, gestern. Aber das wissen Sie doch sicher schon.« Langsam wurde sie ungehalten. »Wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus? Sagen Sie es, dann geht es schneller und ich komme zu meiner Dusche.«

»Ich kann Sie auch vorladen lassen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Zickig war er auch noch. »Lieber Himmel, was wollen Sie wissen?«

»Warum Sie hier sind, Signorina Bergemann.«

»Mein Vater ist kürzlich verstorben und hat mir ein Haus in Casole d’Elsa vererbt. Sie erinnern sich?«

Er nickte. »Aber Sie sind nicht in Casole, sondern hier.«

Oda sah zum Küchenfenster hinauf, hinter dem vermutlich Emilia und Rosa standen und lauschten. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Emilia kann mich nicht leiden. Sie ist eifersüchtig auf meine Freundschaft mit der Signora. Aber ich nehme das auf mich, weil mir Nella sehr viel bedeutet.«

Er sah sie nachdenklich an. »Aber Sie haben Signora Gambetti erst kürzlich kennen gelernt?«

»Sind Sie noch nie einem Menschen begegnet und haben sich ihm verbunden gefühlt?«

»Dann war es eine Frau und es ging um Liebe. Ihr Vater hat hier gelebt, sagten Sie. Warum?«

»Meine Mutter ist Italienerin gewesen. Aber das wissen Sie doch alles.«

»Hatte die Familie Ihrer Mutter Beziehungen zur Resistenza?«

»Ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht, aber ich weiß es einfach nicht. Wir hatten kaum Kontakt und nach dem Tod meiner Mutter zog mein Vater sich zurück und ich ging nach Deutschland.« Musste sie jetzt auch noch darüber Auskunft geben? Ihre italienischen Großeltern waren früh verstorben und zum Rest der Familie hatten sie nie Kontakt gehabt.

»Nun, ich komme morgen wieder. Sind Sie vormittags hier?«

»Ich denke schon.«

»Richten Sie es bitte ein und sagen Sie es auch Signore Gambetti, den ich ja leider verpasst habe.«

»Warum sind Sie eigentlich hier, Commissario? Ich meine, gibt es etwas Neues in der Sache mit dem Schuss auf Basilio?«, fragte sie.

»Es lässt mich einfach nicht los. Manche Fälle lassen mich nicht los und ich folge meinem Instinkt, um sie aufzuklären. Das ist mein Job und eine Besessenheit von mir.« Zanollas Miene war undurchdringlich. »Genauso, wie Sie von den Gambettis fasziniert zu sein scheinen.«

»Der Vergleich hinkt, Commissario.«

»Möglicherweise. Auf Wiedersehen.«

Langsam stieg Oda die Stufen zur Küche hinauf, die ihr viel zu steil vorkamen. Ihre Beine waren schwer und ein stechender Kopfschmerz begann vom Nacken heraufzuziehen. Wider Erwarten war die Küche leer. Dabei hätte sie darauf geschworen, dass jemand am Fenster gestanden hatte. Auf dem Tisch stand der Obstkorb mit Orangen und im Ofen lag ein Stück Brot, von dem sie sich eine Scheibe abschnitt. Im Kühlschrank fand sie eine Schüssel mit Antipasti und setzte sich mit ihrer kleinen Mahlzeit an den Tisch, als sie Schritte im Haus vernahm. Nur einen winzigen Moment lang hoffte sie, dass Rosa oder Alessia kämen.

»Na, Sie fühlen sich ja ganz wie zu Hause! Bedienen sich an unserem Essen, ohne zu fragen! Unverschämtheit!«, fuhr Emilia sie zur Begrüßung an.

»Es war niemand hier und ich werde mich selbstverständlich revanchieren«, sagte Oda matt.

Emilia Gambetti trug ein seidenes Nachthemd und darüber einen passenden Kimono. Beide Teile wirkten teuer und passten so gar nicht zum Rest des eher bescheiden anmutenden Hauses. »Was wollen Sie noch hier? Verschwinden Sie, Signorina Bergemann! Sie bringen nur Unglück über meine Familie!«

Ungerührt schlang Oda die gegrillten Gemüsescheiben hinunter, obwohl sie ihr im Hals stecken bleiben wollten. Sie musste essen, denn ihr Magen krampfte sich bereits vor Hunger zusammen. »Es muss Sie doch sehr getroffen haben, dass Sandro jetzt den Hof leitet und nicht Sie, nicht wahr?«

Zu ihrer Überraschung warf Emilia den Kopf zurück und lachte. Es klang nicht so tief und herzlich, wie das Lachen ihrer Mutter, sondern freudlos und eisig.

»So gut wissen Sie also doch nicht über uns Bescheid. Hat meine Mutter nichts von mir erzählt?« Emilia nahm sich eine Orange aus der Schale und schnupperte an der Frucht.

»Nein.«

»Mir ist es egal, wen sie sich herholt, um den Hof wieder rentabel zu machen.« Sie riss ein Stück Schale von der Orange und warf es vor Oda auf den Tisch. »Mein Neffe ist nicht ganz freiwillig hier, wie Sie vielleicht herausgefunden haben. Er ist auf ganzer Linie gescheitert. Genau wie ich.« Ein weiteres Stück Orangenschale fiel auf den Tisch. »Die Casa Gambetti ist ein sinkendes Schiff voller dummer Narren. Nehmen wir noch Rosa und Basilio. Die haben seit Monaten keinen Lohn mehr bekommen. Sie bleiben aus Loyalität. Lassen sich mit billigen Versprechungen und Naturalien abspeisen. Basilio arbeitet nebenbei als Tischler. Ich weiß nicht, wie er das schafft mit der Verwundung. Aber er würde meine Mutter nicht im Stich lassen.«

Der Saft der Orange lief Emilia über die Hände, während sie aufgebracht weiter sprach. »Alle tun so, als wäre sie etwas Besonderes! Niemand würde Nella Gambetti im Stich lassen. Wie macht sie das nur? Sie scheint jedem, von dem sie etwas will, das Gefühl zu geben, von Bedeutung zu sein. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass Ihnen eine große Gunst gewährt wird, wenn Sie mit ihr sprechen? Es ist mehr wie Hofhalten …« Emilias Augen starrten blicklos über Oda hinweg. »Das hat sie schon immer gekonnt. Leute benutzen, nehmen und nehmen und nie etwas zurückgeben. Im Grunde ist das eine Kunst. Sie ist eine Künstlerin, meine Mutter. Eine Meisterin der Täuschung. Aber irgendwann bekommt jeder, was er verdient … Irgendwann holt es dich ein …«

Das war mehr als die Verbitterung einer enttäuschten Tochter. Aus diesen Worten sprach Hass! Emilia ließ die Orange mit einem schmatzenden Geräusch auf die Tischplatte fallen.

»Ihr Dessert.«, sagte sie und verschwand in den Flur.

Wie versteinert verharrte Oda auf ihrem Stuhl und sah von der Orange in die Dunkelheit des Flures. Sollte Emilia selbst hinter allem stecken? Wollte sie sich an ihrer Mutter rächen? Aber warum erst jetzt? Nein, nein, das war Unsinn! Sie wusste nichts von Dante und Lupo. Oder doch? Es gab eine Waffe im Haus, aber mit der war nicht geschossen worden, hatte der Commissario gesagt. Vielleicht beim ersten Mal? Sie stand langsam auf. Ruhe bewahren und logisch denken. Sorgfältig legte sie die Orange mitsamt der abgerissenen Schale auf einen Teller und kippte die Essensreste in den Mülleimer.

Wäre es nur nach ihr gegangen, hätte Oda sich ein Zimmer in Monte San Savino gesucht, aber sie hatte Sandro versprochen, auf ihn zu warten. Vorsichtig horchte sie ins Haus - im ersten Stock lief ein Fernseher. So leise wie möglich, stieg sie die Treppen hinauf, zuckte bei jeder knarrenden Diele zusammen und schloss sich im Badezimmer ein.

Oda hielt ihr Gesicht in den warmen Wasserstrahl und stützte sich mit den Händen an den Kacheln ab. Sie könnte einfach wegfahren und die Gambettis nie wieder sehen. Aber dann lief sie wieder davon und damit war jetzt Schluss!

Als Oda die Berührung spürte, stockte ihr der Atem, sie schrie auf und schlug panisch um sich. Doch es war nur der Duschvorhang, der nach innen gefallen war und auf ihrer Haut klebte. Ihr Puls flog, obwohl sie sich dauernd vorhielt, dass sie nicht hysterisch werden durfte. Hastig spülte Oda sich den restlichen Schaum aus den Haaren und schob den Vorhang zur Seite. Und wenn Emilia nun verrückt war? So etwas gab es schließlich.

In ein Handtuch gewickelt schnappte Oda ihre Sachen und tappte in das winzige Gästezimmer, in dem sie bereits bei ihrem ersten Aufenthalt genächtigt hatte. Sie kleidete sich in eine Leinenhose und ein frisches T-Shirt und hockte sich draußen vor dem Haus mit einem Glas Wasser auf die Treppenstufen. Bruno gesellte sich zu ihr und seine Nähe hatte etwas Tröstliches.

Der Sternenhimmel in dieser Nacht war atemberaubend und Oda versuchte sich am Bestimmen der einzelnen Sternbilder. Während sie den großen vom kleinen Bären zu unterscheiden versuchte, fuhr Sandros Wagen in den Hof. Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr und sie stellte das Glas ab. Als er auf sie zukam und lächelte, ging Oda ihm entgegen. In einer Hand trug er einen Aktenkoffer, unter dem Arm klemmten Ordner. Sie ahnte, dass das, was er noch in Arezzo zu erledigen gehabt hatte, mit den finanziellen Angelegenheiten des Betriebes zu tun hatte.

Als sie einander gegenüberstanden, sah er sie mit gequältem Ausdruck an. »Du siehst aus als wärest du einem Geist begegnet, Oda.«

»Die Gesellschaft, in der du dich befunden hast, kann aber auch nicht sehr inspirierend gewesen sein.« Sie griff nach den Ordnern.

Er ließ sie gewähren und fuhr mit der freien Hand über ihre nassen Haare. Als er sie an sich ziehen wollte, um sie zu küssen, schüttelte Oda den Kopf und deutete nach oben. »Emilia könnte uns beobachten.«

»Das ist mir doch egal. Meine reizende Tante hat genug Leichen im Keller. Liebhaber.« Laut genug, dass man es oben hören konnte, sagte er: »Was glaubst du, woher sie die teuren Klamotten hat …«

Die Fensterläden im ersten Stock, die nur angelehnt waren, wurden von innen mit Wucht zugezogen. Abblätternde Farbe rieselte auf sie nieder. »Sie übertreibt es. Es kommt der Tag, an dem Nonna sie hinauswirft.«

Er schwenkte seinen Aktenkoffer. »Wenn wir uns nicht alle vorher eine andere Bleibe suchen müssen … Was der Himmel verhüten möge …«

Oda folgte ihm in die Küche, wo sie die Ordner auf den Tisch legte. Sandro sah die Weinflasche und holte zwei Gläser aus dem Schrank. »Essen?«

»Antipasti, im Kühlschrank.« Sie holte die kleine Platte heraus.

Zufrieden machte Sandro sich über Brot und Gemüse her. Oda sah ihm dabei zu und nippte an ihrem Glas. Als er fertig war, lehnte er sich zurück.

»Lass uns draußen noch etwas spazieren gehen, bitte. Ich kann nicht mit Emilia unter einem Dach sein«, sagte Oda und hielt ihm ihre Hand hin.

»So schlimm?« Er leerte sein Glas in wenigen Zügen und erhob sich. »Na, komm.«

Hand in Hand gingen sie über den Hof auf den erleuchteten Stall zu. Sandro schaute hinein und rief: »Basilio, alles soweit in Ordnung?«

Oda hatte nicht bemerkt, dass Nellas treuer Mitarbeiter noch hier war.

»Die beiden Sechsmonatskälber, bei denen der Dottore Bedenken hatte, haben keine Symptome gezeigt. Ich geh noch mal durch, geb die Medikamente und dann verschwinde ich«, rief Basilio.

»Danke! Buona notte!«

Bruno trottete hinter ihnen her, als sie auf das Weidegatter zugingen. Doch Sandro machte keine Anstalten, das Gatter zu öffnen, sondern folgte dem ausgetretenen Pfad, der um die Weide herum führte.

»Die gesunden Tiere stehen alle hinten. Ich möchte noch einmal nach ihnen sehen. So eine Rindergrippe kann noch viel schlimmer ausgehen. Wir haben Glück gehabt. Nur ein totes Kalb.«

Ihre Hände lagen lose ineinander, vertraut. Zu Odas Erleichterung schien er den Ärger wegen Ugo vergessen zu haben.

»Was war mit Emilia? Seid ihr aneinander geraten?«

»Nein. Ja. Es ist nichts weiter. Sie kann mich nicht leiden und macht keinen Hehl daraus, dass sie meine Anwesenheit hier nicht wünscht. Hätte ich dir nicht versprochen, auf dich zu warten, ich wäre gefahren.«

Er blieb abrupt stehen und hielt sie an den Schultern fest. »Bitte nicht, Oda.«

Diesmal störte niemand, als er sie küsste. Nur Bruno versuchte, sich zwischen ihre Beine zu drängen. Sandro lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und hielt sie fest in seinen Armen, doch Oda merkte, dass seine Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt wurde. Bruno stand mit gespitzten Ohren neben ihnen. »Ist irgendetwas?«

»Ich weiß nicht. Die Tiere sind unruhig, aber das kann auch an der Aufregung der letzten Tage liegen. Sie sind sehr sensibel. Der Tod des Kalbes macht sie nervös.«

Hinter ihnen begann der Wald, aus dem sie plötzlich ein Geräusch aufschreckte. Es klang, als liefe jemand über trockene Zweige, die leise zerbrachen. Die Nacht war warm und hell und die Toskana voller Touristen, die sich überall herum trieben. Sandro ließ sie los. »Bruno, such!«

Sofort stürmte der Hund in Richtung des Waldes davon. Sandro und Oda folgten langsamer, um die Rinder nicht unnötig zu verschrecken.

»Vielleicht sind es auch nur Touristen, die hier herumstrolchen«, sagte sie leise.

»Kann sein … Warte.« Sandro blieb stehen. Bruno bellte, jemand stieß einen unterdrückten Fluch aus, kurz darauf fiel eine Autotür zu und ein Motor heulte auf.

Es dauerte nicht lange und Bruno kam schwanzwedelnd zu ihnen zurück. In seinem Fell hingen kleine Tannenzweige, die er durch heftiges Schütteln loszuwerden versuchte. Sandro lobte den wachsamen Hund und rieb sich nachdenklich die Stirn. »Wer auch immer das war, ist jetzt weg. Oda, ich habe das Gefühl, dass du mir einiges darüber sagen kannst, was hier vorgeht.«

»Ich? Aber ich weiß doch nicht, wer da nachts bei euch im Wald herumstreunt!«, wehrte sie ab.

»Ich bin wirklich zu müde, um mir noch mehr Ausreden anzuhören. Sag mir, verdammt noch mal, was los ist, Oda! Was genau wolltest du von Ugo wissen? Du bist doch nicht ohne Grund zu ihm gefahren!« Seine Stimme wurde lauter und kühler.

Ihr Magen zog sich zusammen und die Mauer zwischen ihnen schien unüberwindbar. »Sandro, ich kann dir nichts weiter sagen. Ich habe es Nella versprochen. Und es gibt ja auch nichts zu sagen. Sie weiß ja selbst nicht, wer hinter den Anschlägen steckt.«

»Den Anschlägen? Also war es kein Unfall?«

»Doch, doch, das schon. Die Schüsse, meine ich. Sie hat da so eine Theorie, aber das hängt eben mit Alcide zusammen und ach, ich weiß auch nicht, vielleicht mit meinem Großvater! Verstehst du? Das Foto. Erinnerst du dich an das Foto, das ich bei meinem ersten Besuch dabei hatte?«

»Natürlich, wie könnte ich das vergessen.«

»Mein Großvater war hier und Nella hat mir bestätigt, dass damals etwas vorgefallen ist. Aber sie hat mir noch nicht gesagt, was es war! Ich weiß, dass es wichtig ist, dass es von Bedeutung für Nella und für meine Großmutter ist. Und für mich«, fügte sie hinzu.

Er sah sie mit einem Ausdruck an, der ihr Angst machte, Angst, ihn zu verlieren. »Ich habe heute versucht, einen Kredit für den Hof zu bekommen. Drei Banken haben mich sofort wieder weggeschickt, auf die Antwort der vierten warte ich noch. Ich kämpfe im Hier und Jetzt. Im Moment fehlen mir ganz einfach Kraft und Geduld, mich mit der obskuren Vergangenheit von Partisanen und Soldaten auseinanderzusetzen, und ich weiß auch gar nicht, ob ich das überhaupt will. Anscheinend können weder du noch Nonna mir genug vertrauen, um mich einzuweihen in was auch immer ihr sucht. Solltest du dich dazu durchringen können, weißt du, wo du mich findest.«

Zu ihrer Furcht gesellte sich die Wut auf seine Verbohrtheit, seinen verletzten Stolz, für den es keinen Grund gab. »Das ist ja großartig. Ich komme extra her, weil du mich darum gebeten hast, warte auf dich, lasse mich von deiner Tante beschimpfen und jetzt auch noch von dir. Nella wird ihre Gründe haben. Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Alles, was ich möchte, ist, Nella zu helfen und wenn ich dabei das Schicksal meines Großvaters klären kann, würde mir das unendlich viel bedeuten. Ich habe meinen Vater verloren. Mir ist nichts geblieben als Schuldgefühle, Erinnerungen und die Hoffnung endlich zu verstehen, warum er so war, warum meine Großmutter so hasserfüllt und kalt ist … Wenn du das nicht verstehen kannst, tut es mir leid, dass ich heute Abend auf dich gewartet habe.«

Ehe sie sich an Bruno vorbeigedrängt hatte, packte Sandro ihr Handgelenk.

»Musst du immer das letzte Wort haben?«

»Nur, wenn mir etwas wichtig ist. Du tust mir weh.«

Er lockerte seinen Griff, ließ sie jedoch nicht los.

»Was willst du von mir?«, fragte sie atemlos und konnte die Antwort in seinen Augen lesen.

Als ihre Lippen sich berührten, erfasste Oda eine Sehnsucht nach seiner Nähe, die mehr als bloße Leidenschaft war. Seine Hände glitten über ihren Rücken und sie spürte wie seine Muskeln sich spannten. Sein Mund schmeckte noch nach Wein. Oda glitt mit den Händen unter sein Hemd, strich über seinen flachen Bauch, spürte den leichten Schweißfilm und bog ihren Hals zurück, weil sie nicht genug bekommen konnte von seinem Mund, der eine heiße Spur auf ihrer Haut hinterließ. Sandro strich über ihren Körper, zog sie fester an sich und drängte ein Knie zwischen ihre Beine. Sie presste ihre Lippen in seine Halsbeuge, um den Duft seiner Haut einzusaugen, als er plötzlich innehielt. »Hörst du das?«, flüsterte er an ihrem Ohr.

»Nein. Ich höre nichts«, murmelte sie, aber irgendetwas war seltsam, stimmte nicht.

»Genau. Es ist plötzlich ganz still. Kein Tierlaut, nichts.« Sandro griff nach ihrer Hand. »Lass uns gehen.«

Bruno schnupperte, jaulte unvermittelt und so herzzerreißend auf, dass sich Odas Nackenhaare aufstellten. Plötzlich preschte der Hund auf den Hof zu. Sie liefen hinter ihm her und stolperten durch die Dunkelheit bis ein unheimliches Knistern die Nacht zerriss. Rauch stieg in ihre Nasen und eine glutrote Stichflamme schoss aus dem Dach der Casa Gambetti.

»Das Haus brennt! Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein!«, rief Sandro und rannte los.

Jetzt kam auch Bewegung in die Rinder auf der Weide. Die Hufe der schweren Tiere trommelten dumpf auf dem trockenen Boden und vereinzelt war ein Brüllen zu hören. Als Oda um die Ecke des Stalls bog, war Sandro bereits auf dem Hof und Basilio brachte die Kleintiere in den Stall. Inmitten von Rauchschwaden stand Emilia in ihrem Nachthemd vor dem Haus und rang die Hände.

»Meine schönen Kleider! Alles verbrennt! Jetzt habe ich nichts mehr …«, jammerte sie.

Oda trat neben Sandro. »Ist die Feuerwehr alarmiert?«

»Basilio hat sofort angerufen.« Er schüttelte den Kopf. »Wie konnte das nur passieren? Ich verstehe das nicht …« Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Können wir denn nichts tun? Gibt es keine Schläuche, eine Wasserpumpe, irgendetwas?«, fragte Oda, während die Flammen sich durch das alte Wohngebäude fraßen. Im ersten Stock barsten die Fenster. Orangerote Feuerzungen leckten am Mauerwerk, verschlangen gierig die Läden und sogar den Rosenbusch, der neben der Küche emporwuchs. Er flackerte auf, knisterte und die Blütenblätter fielen glühend zur Erde.

Basilio zog einen Schlauch hinter sich her und schrie: »Wir sollten ringsum alles abspritzen. Es ist zwar fast windstill, aber wenn die Flammen den Stall erfassen, Gnade uns Gott.«

Und dann ging alles sehr schnell. Die Nachbarn hatten das Feuer bemerkt und trafen nacheinander ein. Auch die Feuerwehr kam endlich und brachte den Brand unter Kontrolle. Oda half, wo sie konnte und lehnte sich irgendwann erschöpft und rußverschmiert gegen einen Traktor. Was in der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft hier geschehen war, schien so unwirklich, fast absurd. Sie starrte auf die traurige Szene. Das jahrhundertealte Wohnhaus war schwer beschädigt worden. Vom Dachstuhl war nur ein qualmendes Gerippe geblieben, die Fenster schwarze Löcher. Sie tauchte die Hände in einen Wassereimer. Die Scheinwerfer der Wagen erleuchteten den gesamten Hof und ihr Blick fiel auf das Gebilde neben dem Haus.

Das Fasanengehege stand noch. Die Flammen hatten es unversehrt gelassen. Wie seltsam, dachte sie. Es hat den Krieg überstanden und diesen Brand. Sandro unterhielt sich mit dem Hauptmann der Feuerwehrleute und ging zu den Männern. Als er Oda sah, legte er den Arm um ihre Schultern und küsste ihre Stirn.

»Es war vielleicht Brandstiftung, Oda.« Die Worte hingen schwer und bedrückend in der Luft.

Er musste nicht aussprechen, was sie dachte. Der Hof war verschuldet, Kredite konnte er kaum erwarten und plötzlich dieses Feuer. Wenn er gut versichert war, käme so ein Brand sehr gelegen.

Der Feuerwehrhauptmann nahm den Helm vom verschwitzten Kopf. »Tut mir leid, Signore Gambetti. Wir haben im Hintereingang einen Zigarettenstummel und einen mit Benzin getränkten Lappenrest gefunden. Meine Leute suchen drinnen noch weiter. Es braucht nicht viel, um ein altes Haus bei dieser Hitze abzufackeln. Ich muss jetzt die Polizei informieren.« Der Mann nickte kurz und ging zu seinem Wagen.

Fassungslos sah Sandro ihm nach. Seine Arme und die Stirn waren ebenfalls rußverschmiert. »Brandstiftung. Wer tut so was?«

Fast automatisch sah Oda sich nach Emilia um, die hinten auf dem Löschzug hockte und sich von den Männern bedauern ließ. Ob ihr Hass soweit ging, dass sie ihre Mutter schädigen, ihr die Existenz nehmen wollte?

Sandro war ihrem Blick gefolgt. »Du denkst, dass sie …?«

»Ich weiß gar nichts mehr.« Und das entsprach der Wahrheit. Sie wusste nur, dass sie morgen unbedingt mit Nella sprechen musste, denn so konnte es nicht weitergehen. »Schon wieder Polizei …«, murmelte sie.

»Wieso schon wieder?«

»Ach, das weißt du noch gar nicht. Der Commissario aus Arezzo war vorhin hier. Er kommt morgen früh wieder her, weil er mit uns sprechen will.«

Sandro stöhnte. »Das darf doch alles nicht wahr sein! Verflucht noch eins! Was ist denn hier nur los? Oda, sag mir zum Teufel noch mal, was du weißt!«

»Bitte, lass mich zuerst mit Nella sprechen!«, bat Oda. »Bitte, vertrau mir. Vielleicht hat das eine mit dem anderen ja gar nichts zu tun.«

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es fühlte sich an, als hing die Hitze der Flammen noch in der Luft. Rauch strömte weiter aus dem Haus und verdampfte mit dem Löschwasser in stinkenden Schwaden.

»In Monte wärest du besser aufgehoben gewesen … Du solltest besser fahren und dir ein Zimmer suchen.« Sandro sah an Oda vorbei und beobachtete stattdessen die Feuerwehrleute, die mit den Resten des Brandbeschleunigers zu ihrem Wagen gingen.

»Du schickst mich jetzt weg?«

»Was willst du denn noch hier? Hier ist nichts mehr!«, rief er und warf verzweifelt die Arme in die Luft.

Weinend umarmte sie ihn und hielt ihn fest, bis er seine Arme ebenfalls um sie legte. »Du bist hier …«, flüsterte sie.

Er sagte nichts, aber sie spürte seine Tränen an ihrem Hals und fühlte, wie sein Körper von stummen Schluchzern geschüttelt wurde.

»Sandro! Wo bist du? Sandro?«, rief eine Männerstimme. Sie gehörte einem kleinen Mann mit struppigen Locken, der sich suchend durch die Leute drängte.

Sandro ließ Oda los, rieb sich die Augen trocken und räusperte sich. »Danke, Oda«, sagte er leise, bevor er sich umdrehte.

»Madonna, was für ein Unglück! Sandro, mein Freund!« Der Mann, der ungefähr in Sandros Alter war, umarmte ihn. »Wir sehen uns eine Ewigkeit nicht und dann so!«

»Tomaso! Was machst du hier? Ich dachte, du arbeitest in Rom.«

Der um einen Kopf kleinere Mann hatte ein sympathisches rundes Gesicht, das von ungebändigten Locken gerahmt wurde. Eine Brille rutschte ihm ständig von der Nase und er machte auch sonst den zerstreuten Eindruck eines Mannes, der entweder Künstler oder Wissenschaftler war. »Ich besuche meine Eltern. Vaters siebzigster, da musste ich kommen, sonst enterbt er mich.« Tomaso grinste.

Lachend erwiderte Sandro: »Du kommst doch nicht zurück. Das Landleben ist nichts für dich.«

»Eh, wer weiß. Aber jetzt stell mich doch bitte der Signorina vor.«

»Oda, das ist Tomaso Serretti. Seinen Eltern gehört das Weingut am Anfang der Straße. Oda ist eine Freundin aus Deutschland«, erklärte Sandro etwas steif.

Tomaso schüttelte ihre Hand. »Mein Englisch ist nicht besonders …«

»Keine Umstände«, sagte Oda auf Italienisch. »Ich bin Halbitalienerin.«

Erleichtert lächelte er. »Bravo! Aber jetzt erzählt mal, was ist denn passiert?«

Sandro hob die Schultern. »Es scheint so, als habe jemand das Haus angezündet. Mehr weiß ich auch nicht. Sie untersuchen das jetzt. Ah, da kommt auch schon die Polizei.«

Gespannt erwarteten sie die Carabinieri. Tomaso legte Sandro die Hand auf die Schulter. »Bevor es hier rund geht, wollte ich dich wissen lassen, dass du zu uns kannst. Ihr alle natürlich. Meine Eltern haben mir erzählt, dass du hier bist und dann haben wir das Feuer gesehen. Also, keine Hemmungen, wir haben genug Platz.«

»Tomaso, dich schickt der Himmel! Meine Tante ist völlig am Ende und Oda auch. Wenn du die beiden mitnehmen könntest? Ich komme später oder morgen«, sagte Sandro und winkte den Carabinieri.

»Aber, kann ich dir nicht helfen?«, protestierte Oda.

»Nein. Bitte, geh mit Tomaso und ignorier Emilia einfach. Aber vielleicht hat Tomaso ein paar Beruhigungstabletten für meine Tante. Sie ist leicht hysterisch«, sagte er mit bedeutungsvollem Blick zu seinem Freund.

»Emilia ist immer noch hier? Alles klar. Kommen Sie, Oda.«

Sie nickte. »Sind Sie Arzt?«

Er lachte. »Nein, ich unterrichte Mathematik.«

»Er ist Professor«, fügte Sandro hinzu. »Signori!«, begrüßte er die zwei Uniformierten und ging mit ihnen zu den Feuerwehrleuten.

»Professor?«

Tomaso schob seine Brille nach oben. »Ich liebe Zahlen, schon immer. Sie sehen mitgenommen aus. Lassen Sie uns gehen.«

Oda brauchte nicht an sich herunterzusehen, um zu wissen, wie sie wirken musste. Aber von jemandem, der gerade beim Löschen eines Brandes geholfen hatte, war schwerlich etwas anderes zu erwarten. Sie gingen zu Emilia, die in eine Decke gehüllt auf dem Löschwagen saß und eine Wasserflasche in der Hand hielt. Großartig, dachte Oda. Das Haus ihrer Mutter brennt nieder und sie rührt keinen Finger. »Darf ich?«

Sie nahm Emilia die Flasche aus der Hand und trank sie gierig leer.

»Verschwinden Sie!«, fauchte Nellas Tochter, stockte jedoch, als sie Tomaso sah.

»Signora Gambetti, ich soll Sie von meinen Eltern grüßen und Sie herzlich in unser Haus einladen. Wenn Sie mit uns kommen möchten?«, sagte Tomaso sehr höflich und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Hinuntersteigen zu helfen.

»Tomaso, das ist aber nett! Oder sollte ich jetzt Professore sagen?« In Gegenwart eines Mannes wurde aus der zickigen Emilia die freundlichste Frau, die man sich vorstellen konnte. Mit fließenden Bewegungen glitt sie vom Wagen, vergaß jedoch nicht, sich genügend auf seine Hand zu stützen, um ihre Zerbrechlichkeit zu betonen.

Während sie Tomaso zu seinem Wagen folgten, überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Noch auf dem Rücksitz nickte Oda ein, nahm die Begrüßung durch Tomasos Eltern wie in Trance wahr und fiel erschöpft auf das Bett ihres Gästezimmers.