In Monte fand Oda ein Telefongeschäft, in dem man ihr Telefon mit Hilfe eines Föns und einem neuen Akku wieder halbwegs funktionsfähig machte. Mit Ausfällen müsste sie rechnen, doch immerhin hatte sie ihre Kontaktdaten noch und unter den entgangenen Anrufen las sie die Nummern von Eike und ihrer Großmutter. Noch vor der verabredeten Zeit stand Oda vor dem Eingang des Klosters, in dem sich Silvio Luzzatis Pflegeheim befand.
Auf den ersten Blick war das Kloster mitsamt einem weitläufigen Park eine beeindruckende Anlage. Bei näherem Hinsehen zeigte sich der etwas vernachlässigte Zustand der Grünanlagen und auch das Gebäude sah renovierungsbedürftig aus. Einige Heimbewohner spazierten mit Gehwagen, andere wurden von Pflegern begleitet. Zypressen, Pinien und üppige Oleander boten einen schönen Anblick. Es gab schlechtere Orte, seinen Lebensabend zu beschließen.
Das aufdringliche Dröhnen von Stefanos Cabrio kündigte ihn an. Er kam ohne Begleitung. »Ciao, liebe Oda. Wie schön, dass Sie kommen konnten.« Es folgten die obligatorischen Wangenküsse.
»Wären die Wagenschlüssel ebenfalls verbrannt, wäre ich nicht hier. Sogar mein Handy gibt noch Lebenszeichen von sich.« Sie schritten durch das Eingangstor, das quietschend aufschwang.
»Glauben Sie mir bitte, dass es mir furchtbar leid für Sandro und seine Familie tut. Ich wollte wirklich nur helfen. Dass er so wütend reagierte, kann ich ja irgendwie verstehen. Mein Gott, ich möchte nicht in seiner Haut stecken …«
Vergeblich suchte Oda nach einem scheinheiligen Unterton in seiner Stimme, er schien es ehrlich zu meinen. »Sobald sich herausstellt, dass der Brand durch Fremdeinwirken entstanden ist, wird die Versicherung zahlen und dann sieht es schon wieder anders aus.«
Stefano schaute suchend durch den Park. »Ich wünsche es Sandro. Ah, da ist mein Onkel.«
Ein weißhaariger Mann bewegte sich an einem Gehwagen und in Begleitung eines jungen Pflegers langsam vorwärts. Der Alte trug einen abgewetzten Bademantel und die nackten Beine steckten in Pantoffeln.
»Lassen Sie sich nicht erschrecken. Er ist gewöhnungsbedürftig …« Stefano grinste.
Der Pfleger hatte ihn erkannt, tippte Silvio auf die Schulter und der Alte blieb stehen und ließ sich von seinem Neffen umarmen. »Mein Junge, schön, dass du da bist. Komm, komm, wir trinken Kaffee im Garten. Deine Mutter war gestern auch hier.«
Fragend und mit gerunzelter Stirn sah Stefano den Pfleger an, der den Kopf schüttelte. »Er meint wohl Ihre Freundin, die hübsche Signorina. Nicht wahr, Signore Luzzati?«
Doch der Alte hatte Oda entdeckt und schenkte ihr ein schiefes Lächeln, das den Ansatz einer schlecht sitzenden Zahnprothese sehen ließ. Sein Hemd war fleckig, genau wie die knielange Schlafanzughose. Sie erwiderte sein Lächeln, machte aber automatisch einen Schritt zurück, um ihm keine Gelegenheit für eine Umarmung zu geben. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Signor Luzzati.«
»Eh? Sind Sie auch eine Freundin von meinem Stefano? Ist ein hübscher Junge. So war ich auch mal. Die Frauen wussten, was sie an mir hatten.« Der Alte kicherte anzüglich.
»Onkel, benimm dich. Das ist Signorina Bergemann. Sie ist eine Freundin der Gambettis. Nella Gambetti ist krank«, erklärte Stefano und sagte zu dem Pfleger: »Danke, Luca, ich übernehme ihn jetzt. Wir setzen uns drüben in den Schatten.«
»Rufen Sie mich, wenn Sie gehen. Ich komme am besten mit Ihrem Onkel klar. Die Frauen kneift er dauernd. Das kommt nicht gut an.« Luca ging grinsend weg.
Oda verdrehte die Augen. Das konnte ja ein netter Nachmittag werden. Nach wenigen Metern erreichten sie eine Sitzgruppe, die von einer Hecke und einem Rosenbusch eingerahmt wurde. »Wollen wir uns setzen? Ich hole Kaffee«, schlug Stefano vor. Als hätte er Odas Gedanken gelesen, sagte er schnell: »Keine Angst, er beißt nicht und für unanständige Übergriffe ist er zu alt …«
Sie hängte ihre neue Handtasche über einen Stuhl, doch Silvio klopfte neben sich auf eine Bank. Na gut, dachte sie, Informationen gab es nicht umsonst. Kaum saß sie neben Silvio, da lag auch schon die Hand des alten Lüstlings auf ihrem Oberschenkel.
Energisch schob Oda ihn zur Seite. »Bitte, Signor Luzzati, unterlassen Sie das.«
Silvio gab ein schmatzendes Geräusch von sich und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Die Sonne stand hoch und selbst im Schatten waren es mehr als 25 Grad. »Früher hatte ich einen roten Chevrolet. Damit habe ich die Frauen wie reife Pflaumen gepflückt. So ein schöner Wagen …«
»Haben Sie auch Nella Gambetti darin mitgenommen?«, schoss sie ihre Frage aufs Geratewohl ab.
Doch sie hatte Silvio unterschätzt. Argwöhnisch blinzelte er sie an. »Eh? Was wollen Sie? Wie war Ihr Name? Bergemann …« Er schien zu überlegen und plötzlich beugte er sich dicht zu ihr und blies ihr seinen fauligen Atem ins Gesicht. »Sie sind wegen der alten Geschichte hier.«
»Sie kannten meinen Großvater?«, fragte sie hastig.
Er sank wieder zurück und wischte sich die feuchten Mundwinkel mit seinem Ärmel ab. »Ein roter Chevrolet. Ich war stolz auf diesen Wagen. Wollen Sie mir das verübeln?«
»Äh, nein.« Sie konnte ihm nicht ganz folgen. Oder hatte er den Faden verloren?
»Der Krieg, eh! Das war ja nicht alles, nein, wenn es so gewesen wäre … Die Faschisten waren vorher da und sie sind geblieben, genau wie die Kommunisten. Da musste man sehen, wie man sich durchschlug. Unsere Familie war arm. Meine Eltern waren Tagelöhner. Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist so ungefähr die unterste Stufe der sozialen Leiter, die es gibt.«
Er kratzte sich unter seinem Bademantel. Wo blieb denn nur Stefano? Oda schaute sich um, doch es war eine Pflegerin, die im Eilschritt vorbeilief.
Plötzlich griff Silvio Luzzati nach ihrem Arm. »Nella, Alcide und Marco haben schlimme Sachen getan. Alle haben das, ja, so war das damals … Marco hat nicht aufgehört, konnte nicht sehen, dass es vorbei war. Aber er war mein Bruder.« Der alte Mann sah sie an: »Ich habe versucht, Stefano den Vater zu ersetzen.«
»Was hat Marco getan, Signore Luzzati? War es wirklich ein Jagdunfall?« Oda blieb hartnäckig.
Silvio riss ruckartig seine Hand von Odas Arm. »Was wollen Sie? Sind Sie von der Polizei?«
»Nein! Victor war mein Großvater! Ich will wissen, was mit ihm passiert ist!«, rief sie lauter als beabsichtigt.
Silvio Luzzati scharrte mit seinen Pantoffeln auf der Erde. »Was weiß denn ich von Victor. Da müssen Sie Nella fragen. Die anderen sind tot. Alle, die dabei waren, sind tot.«
»Wobei denn?« Widerwillig ergriff Oda seine Hand und drückte sie leicht. »Bitte, es ist sehr wichtig!«
Er grinste. »Ich mag es, wenn eine hübsche Signorina meine Hand hält. Legen Sie sie hierhin und ich sage Ihnen vielleicht …« Der lüsterne alte Mann versuchte doch tatsächlich, ihre Hand auf seinen Schritt zu ziehen.
»Sie unverschämter Drecks …« Wütend stand Oda auf und wäre beinahe mit Stefano zusammengestoßen, der ein Tablett mit Espresso und Gebäck balancierte.
»Na, habt ihr euch nett unterhalten? Warst du auch artig, Onkel?« Er fing Odas wütenden Blicke auf. »Verdammt, Silvio, du bist unverbesserlich. Tut mir leid, Oda.«
»Schon gut, aber ich setze mich lieber hierher.« Sie nahm einen der Stühle.
»Ich habe ihr von dem roten Chevrolet erzählt, Stefanino.« Silvio ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Weißt du noch? Damit sind wir immer zu Baldonis Bar hinter der Synagoge gefahren.« Der Alte lachte heiser.
»Hmm, das weiß ich noch sehr gut, Onkel. Schließlich habe ich die Päckchen für dich bei Baldoni abgegeben.« Stefano stellte das Tablett auf den Tisch und verteilte die Tassen. Als er Oda eine Tasse gab, sagte er: »Baldonis Bar war dafür bekannt, dass sich dort die Kommunisten trafen. Ich weiß bis heute nicht, was in den verdammten Päckchen war und ich will es auch nicht wissen, Onkel!«
Silvio schien sich köstlich zu amüsieren. »Baldoni, ach, die waren doch alle gleich dämlich. Was soll schon drin gewesen sein? Papiere, politischer Unsinn. Eh! Sie haben gut bezahlt. Man darf sich nur nicht erwischen lassen!« Er wedelte mit dem Finger vor Odas Nase herum. »Nicht erwischen lassen, das ist das wichtigste. Dann kommt man mit allem davon … Marco war zu gierig. Aber er war mein Bruder …« Der Gedanke an Marco schien ihn zu beunruhigen, denn er begann zu weinen.
»Nella und Marco. Marco und Alcide. Und Baldoni und die Männer.« Silvio riss seine Augen so weit auf, dass sie ihm aus dem Kopf zu quellen schienen. »Wir müssen aufpassen! Wer weiß schon, wo sie sind? Weißt du das, Stefano?«
»Von wem sprichst du denn, Onkel? Meinst du jetzt Baldoni und die Kommunisten, die immer in seiner Bar herumlungerten?«
»Schlimme Zeiten waren das, schlimme Zeiten. Wem kann man trauen? Nicht dem Freund, nicht dem Bruder.« Silvio weinte lauter und wiegte sich vor und zurück.
»Brauchen Sie Hilfe?« Luca kam um die Hecke herum.
Schnell griff Stefano nach Silvios Händen, hielt sie fest und klopfte dem Alten auf den Rücken. »Ist ja gut, Onkel. Danke, es geht schon. Bis eben schien er vollkommen klar. Hat er das öfter? Er schien stabil zu sein in den vergangenen Wochen.«
Der hochgewachsene Pfleger betrachtete seinen Patienten. »Seit Jahren betreue ich Patienten, die langsam ihr Gedächtnis verlieren oder schwere psychische Störungen haben. Es kommt immer wieder vor, dass sie sich plötzlich an ein Ereignis aus ihrer Vergangenheit erinnern, das sich als wahr herausstellt. Es ist schwer, zwischen Fantasie, Wunschtraum und Wahrheit zu unterscheiden. Ich hatte mal eine alte Dame, die war so überzeugend, dass ich ihre Tochter angerufen habe, um festzustellen, ob es stimmte, dass ihre Zwillingsschwester ertrunken war. Die alte Dame gab sich die Schuld am Tod ihres Kindes, das im Gartenteich ertrunken war.«
»Und?«, fragte Oda erwartungsvoll.
Bedächtig fuhr der Pfleger fort: »Die Tochter sagte mir, dass es keine Zwillingsschwester gab, die alte Dame war ein Einzelkind. Aber ihre Mutter hatte einen Zwilling gehabt, der mit drei Jahren ertrunken war!«
»Und was hat das mit meinem Onkel zu tun?«, knurrte Stefano ungeduldig.
»Ihr Onkel erinnert sich und will Ihnen möglicherweise etwas sagen, das wichtig ist. Aber irgendwie kann er es nicht in den richtigen Zusammenhang stellen«, beharrte Luca. »Er hatte ja auch viel Besuch in letzter Zeit.«
»Bitte? Von wem denn? So oft war ich ja nun auch nicht hier«, meinte Stefano erstaunt.
»Na, ihre Frau kümmert sich doch sehr rührend. Ihr Onkel ist viel munterer, seit die Signora so oft …«
Doch Stefano schnitt ihm verärgert das Wort ab. »Ich bin nicht verheiratet! Sie meinen meine Freundin, Sofia?«
»Sehr hübsch.« Luca beschrieb mit den Händen die üppige Figur von Stefanos Freundin.
»Ist gut. Natürlich ist das meine Freundin. Ich werde ihr sagen, dass sie nur noch mit mir gemeinsam kommen soll«, entschied Stefano.
»Das ist nun auch wieder nicht nötig …«, versuchte Luca einzulenken.
»Anscheinend ist es das aber. Ich will nicht, dass Silvio sich so aufregt.«
Oda beobachtete, wie Stefano seinem weinenden Onkel die Hände tätschelte und den Rücken streichelte. Seine Bemühungen wirkten zwar liebevoll, aber etwas zu angestrengt, so als wolle er verhindern, dass Silvio allzu viel ausplauderte. Plötzlich stand Stefano auf. »Wir gehen, Luca. Bitte, bringen Sie meinen Onkel hinein. Ich komme ein anderes Mal wieder.«
Oda hatte keine andere Wahl als Stefano zu folgen.
Energisch begleitete er sie zum Ausgang. »Das ist mir alles sehr unangenehm. So hat er sich lange nicht benommen. Normalerweise redet er über alles, was ihm zu damals einfällt, aber es regt ihn nicht auf.«
»Lassen Sie nur. Es war interessant, ihm zuzuhören und sehr nett von Ihnen, dass Sie mich mitgenommen haben. Nach allem, was passiert ist, war es eine Ablenkung …« Sie standen am Tor des Klosters. Es war beinahe drei Uhr und Zeit, endlich nach Arezzo aufzubrechen.
»Das Feuer, mein Gott …« Der Weinhändler strich sich über die glatten Haare, deren Ansatz sich lichtete. »Und wir haben mal zusammen Fußball gespielt. Da war ich der Außenseiter, mittellos, der Vater ein Gauner und angewiesen auf Almosen, auch von den Gambettis. Meine Mutter versuchte immer, mir einzureden, dass mein Vater ein Geschäftsmann gewesen sei.« Er schüttelte den Kopf und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich wusste es besser. Als Junge will man wissen, was für ein Mensch der Vater war. Silvio hat ihn nie schlecht gemacht.«
Für einen Moment schaute er auf den Parkplatz. Sein Cabrio hob sich von den eher schlichten übrigen Fahrzeugen ab. »Ich musste immer hart für alles kämpfen. Den anderen fiel die Anerkennung in den Schoß.«
Die Sonne brannte bereits vom Himmel. Oda fühlte die sich aufbauende Hitze und auf Stefanos Oberlippe bildeten sich Schweißperlen.
»Es ist nicht schön zu wissen, dass man keine Anerkennung findet, egal was man tut …« Er räusperte sich. »Verzeihung. Familiengeschichten. Vergessen Sie es.«
»Ich bin selbst ein gebranntes Kind. Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Oda mit einem gequälten Lächeln und tippte auf ihre Uhr. »Jetzt muss ich aber.«
Während der Fahrt nach Arezzo konnte sie nicht aufhören an die Begegnung mit Silvio zu denken. Wie sie es auch drehte, Stefano hatte ein Motiv, den Gambettis eins auszuwischen. Nur fiel es ihr schwer, zu glauben, dass er bis zur Brandstiftung gehen würde.
Ospedale San Donato stand in großen blauen Buchstaben auf dem halbrunden Anbau. In der Stadt war die Hitze drückend und Oda suchte nach einem schattigen Plätzchen, um die aufgeschobenen Telefonate nachzuholen. Vor dem Eingangsbereich fand sie einige Bänke unter dichtbelaubten Kastanien und ließ sich mit einer Flasche Mineralwasser dort nieder. In hörbarer Entfernung lag die Ringstraße, die Arezzo umgab und mit der Autobahn verband. Einige Sekunden starrte Oda auf Dorles Nummer, überwand sich und drückte die Einwahltaste.
»Hilla, guten Tag. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, Fräulein Bergemann. Sehr freundlich, dass Sie anrufen. Ich versuche, Sie mit der gnädigen Frau zu verbinden.«
»Es ging hier wirklich turbulent zu!«
»Wo sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«
»In der Toskana, Hilla. Heute in Arezzo. Bei Freunden von mir ist das Haus abgebrannt.«
»Ach du liebe Zeit! Wie furchtbar! Hoffentlich ist niemand verletzt?«
»Nein, alle sind mit einem blauen Auge davongekommen. Aber schön ist es nicht. Meine Sachen sind verbrannt.«
»Nein, so etwas!« Hilla stockte und Oda hörte die schneidende Stimme ihrer Großmutter im Hintergrund.
»Was redest du da? Gib mir den Hörer! Hallo? Hier Bergemann.«
»Hier auch«, antwortete Oda möglichst sanft.
»Begrüßt man so seine Großmutter?«
Oda hüstelte. »Wolltest du mit mir sprechen, Großmutter?«
»Ja, zum Teufel, das wollte ich. Da du dich nicht um mich kümmerst, wie es deine Pflicht wäre, muss ich hinter dir her telefonieren. Wo steckst du? Ich möchte etwas mit dir besprechen und du musst ein paar Papiere unterschreiben!«
Immer bissig und mit dem Befehlston eines Kasernenvorstehers. »Ich bin in der Toskana. Eine Freundin von mir ist schwer krank. Wann ich zurückkomme, kann ich nicht genau sagen.«
»Mit mir kann es auch jeden Tag zu Ende gehen!«, schnappte Dorle Bergemann beleidigt zurück.
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Wie immer, Oda. Aber ich würde gern einige Dinge regeln. Also, wenn es dir nichts ausmacht und du deine Abneigung mir gegenüber überwinden kannst, dann ruf mich sofort an, wenn du in Hamburg bist.«
»Ja, das …« Das Besetztzeichen ertönte. Sie hatte aufgelegt.
Und diese Frau war der einzige Mensch, den sie noch Familie nennen konnte. Ihr nächster Anruf verlief erfreulicher. Signor Matani war zwar in Mailand, bot jedoch sofort seine Hilfe an, als er hörte, was geschehen war.
»Wenn Sie Probleme mit den Behörden haben oder Geld brauchen, sagen Sie es nur, Signorina.«
»Vielen lieben Dank. Ich weiß noch nicht, wann ich nach Casole komme. Vielleicht schon morgen. Wo kann ich den Schlüssel abholen?«
»Wie gehabt. Und ich werde dafür sorgen, dass Sie einen Schlüssel bekommen. Es bleibt dabei? Sie behalten das Haus vorerst?«
»Ja. Ob ich es mir leisten kann, wird sich noch zeigen müssen, aber …«
»Ich verstehe Sie gut. Lassen Sie sich Zeit. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss zurück in eine Sitzung.«
Danach rief sie Max Friedrich an. »Ich habe neue Öffnungszeiten eingeführt, Oda. An zwei Nachmittagen in der Woche ist jetzt geschlossen, genau wie am Wochenende. So kann ich mir die Zeit ganz gut einteilen.«
Ob es sich überhaupt noch für ihn lohnte, den Laden zu betreiben? »Sie sind …«, ihr versagte die Stimme, weil sie genau wusste, dass er das nur ihretwegen tat. Er wollte sie nicht unter Druck setzen.
»Oda, es ist alles in bester Ordnung. Kümmern Sie sich um Ihre Freunde, um Ihr Haus, alles andere sehen wir, wenn Sie wieder zurück sind. Und wenn Sie jetzt traurig sind, geht es mir nicht besser.«
Sie stellte sich vor, wie er in seinem gebügelten Oberhemd am Fenster saß und Kataloge durchblätterte. Seufzend sagte sie: »Ja, Max. Ich melde mich bald wieder.«
Es gab wunderbare Menschen in ihrem Leben. Dafür war sie unendlich dankbar! Unbehelligt gelangte Oda an Nellas Zimmertür und öffnete diese vorsichtig. Die Überraschung, die alte Dame wach und mit einer Zeitung in ihrem Bett vorzufinden, hätte nicht größer sein können.
»Nella! Wie schön!« Oda umarmte und küsste sie und konnte gar nicht fassen, sie munter zu sehen.
»Ah, so schnell werden die mich nicht los!« Nella Gambetti grinste und faltete die Zeitung zusammen. »Wie wäre es mit einem Kaffee? Der ist ganz passabel hier und die eine Schwester ist schrecklich nett.« Nella hielt ihre Hand fest. »Alessia war heute morgen hier.«
»Das freut mich. Wie geht es ihr? Ich habe zu lange nichts von ihr gehört.« Zuviel war geschehen in der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft.
»Nicht so gut, glaube ich, obwohl sie das nicht zugeben würde. Da ist sie ganz eine Gambetti.« Nella lächelte bitter. »Zu stolz. Aber sie lernt. Das Leben ist der beste Lehrmeister. Sie wollte dich anrufen, konnte dich aber nicht erreichen. Hast du eine neue Nummer?«
Oda zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich seufzend. »Nein. Mein Telefon war zeitweise außer Funktion und das hatte einen besonderen Grund.«
Es klopfte, ein Arzt kam herein und sagte knapp: »Wenn ich Sie bitten dürfte, uns kurz allein zu lassen?«
»Natürlich.« Oda ging in den kleinen Warteraum. Eine Kaffeemaschine bereitete Cappuccino und Espresso und es gab sogar Schokolade. Kaum zurück auf dem Flur, sah sie den Arzt Nellas Zimmer verlassen. Nella empfing sie mit einem triumphierenden Strahlen.
»Mit meinem Kopf ist alles in Ordnung. Die Magnet-Resonanz-Tomografie hat nichts Auffälliges gezeigt. Trotzdem wollen die Ärzte noch mehr Untersuchungen machen! Was soll der Zirkus? Die wollen nur ihre Betten belegen und Geld verdienen. Sobald ich laufen kann, will ich nach Hause!«
Oda stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster. »Äh, Nella, vielleicht ist es gar keine so üble Idee, noch ein wenig hier zu bleiben …« Es fiel ihr nicht leicht, die passenden Worte zu finden. Obwohl ihre Haut wieder Farbe bekommen hatte, wirkte Nella noch sehr zerbrechlich.
Nella tastete nach ihren Haaren, die angedrückt an ihrem Kopf lagen. »Ich sehe furchtbar aus. Aber mit diesem Ding hier …«, sie zupfte verärgert an ihrem Infusionsschlauch, » …kann ich nicht duschen. Oda, raus mit der Sprache. Was ist passiert?«
»Es gab ein Feuer. Nicht schlimm!«, versicherte sie, als Nellas Augen sich weiteten. »Es ist niemand verletzt worden und die Tiere sind auch alle gesund.«
Nella sackte in ihre Kissen. »Ein Feuer? Mein Gott, wo denn?«
»Das Haus ist, also ein Teil … ist abgebrannt.« Es war heraus und Oda hätte sich dafür ohrfeigen können, aber Nella musste es wissen.
Konzentriert kniff Nella die Augen zusammen und legte die Finger ihrer rechten Hand an die Lippen. »Brandstiftung?«
Oda zögerte.
»Oda! Ich finde es doch heraus!«
Schweren Herzens nickte sie.
Nella ließ ihre Hände auf die Bettdecke sinken und schwieg, doch Oda beobachtete, wie es in ihr arbeitete. Als das Schweigen schwer im Raum zu lasten begann, hob die alte Dame den Blick. »Bekomme ich meinen Kaffee?«
Wortlos reichte Oda ihr die kleine Tasse, die sie in einem Zug leerte.
»Erzähl mir alles, jedes Detail!«, verlangte sie.
Oda gehorchte und ließ weder die Geräusche, die sie mit Sandro im Wald gehört hatte, noch die Ankunft von Stefano und Tomaso aus.
»Tomaso Serretti?« Erstaunt hob sie die Brauen. »Tsts, was kümmert es den, ob wir leben oder sterben. Na ja, er war immer anders als seine Sippe. Die Serrettis! Phh ….« Ihre Verachtung für die Familie sprach aus jeder Silbe.
»Warum kannst du sie nicht leiden?«
Ihre dunklen Augen glitzerten hart. »Das wirst du verstehen, wenn ich dir erzähle, was damals passiert ist.«
Gespannt sah sie Nella an. Endlich würde sie alles offenbaren! Ein nervöses Zittern fuhr durch Odas Glieder. Würde sich heute alles zu einem Ganzen fügen, die Puzzleteile ihres zersplitterten Lebens einen Sinn ergeben? »Denkst du, dass die Serrettis hinter dem Brand stecken?«
»Ich denke gar nichts und versteige mich nicht in haltlose Spekulationen. Falsche Verdächtigungen führen ins Unglück. Das, liebe Oda, habe ich während des Krieges tausendmal gesehen.« Sie sank in ihre Kissen und schloss die Augen. Man hätte denken können, sie wäre eingeschlafen, da blinzelte sie. »Bitte, zieh die Vorhänge etwas zu.«
Oda tat ihr den Gefallen und setzte sich an den Tisch am Fenster. Nervös zerriss sie das Papier des Schokoriegels. »Möchtest du?«
Nella schüttelte den Kopf. »Hör mir zu, Oda. Ich wollte niemals wieder von den Ereignissen im Sommer 1944 sprechen. Niemals. Wir alle hatten es uns geschworen. Von denen, die dabei waren, lebt keiner mehr. Nur Dante, aber er würde nicht reden, selbst wenn sie ihm die Nägel ausreißen oder jeden Knochen in seinem zähen alten Körper einzeln brechen würden.«
Bei diesen Worten überlief Oda eine Gänsehaut.
»Jemand hat mich auf dem Hügel gestoßen. Ich weiß nicht wer! Es war dumm von mir, überhaupt hinzugehen. Aber ich wollte die Sache beenden. Es war wieder so eine Botschaft in einem Umschlag an mich adressiert. Uhrzeit und Ort und dann stand da noch DU WIRST BEZAHLEN.« Nella lächelte knapp. »Natürlich hatte ich an Geld gedacht. Ich habe zwar nichts, aber irgendwie hätte ich schon was aufgetrieben. Jedenfalls bin ich mit diesen Gedanken in den Wald gegangen. An dem verabredeten Ort. Wie gesagt, von den Alten lebt niemand mehr. Wer hätte ein Interesse an Rache?«
»Stefano Luzzati?« Silvios Geschichten und Sofias Worte schossen Oda durch den Kopf.
Argwöhnisch musterte Nella sie unter gesengten Lidern. »Was weißt du von den Luzzatis?«
»Stefano, der Weinhändler …«
Ungeduldig hob Nella die Finger. »Ich weiß, wer das ist.«
»Stefano ist jedenfalls immer sehr freundlich zu mir und hat mich erst heute mit ins Kloster zu seinem Onkel genommen. Sehr gewöhnungsbedürftig, dieser Silvio Luzzati, aber redselig.«
»Hat er von Marco gesprochen? Wie er gestorben ist?« Lauernd wartete Nella auf eine Antwort.
»Nein.« Es war also etwas dran an den Gerüchten um Marcos Tod. War es kein Unfall?
Nella Gambettis Miene entspannte sich. »Was auch immer du denken magst, Stefano hat sicher nichts damit zu tun. Das wäre einfach, nein … Aber ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht! Ich würde alle Schuld auf mich nehmen, hätte niemanden mit hineingezogen, aber Basilio wurde bereits verletzt und durch diesen Brand ist die Familie betroffen. Das hätte nicht passieren dürfen!« Kampflustig blitzten ihre Augen und sie schlug leicht mit einer Hand auf die Bettdecke. »Ich denke ständig darüber nach, zermartere mir das Hirn, liege schlaflos wach, aber ich bringe die Fäden nicht zusammen. Und dann denke ich an dich, Oda. Dich hat mir der Himmel geschickt. Es muss einfach so sein, weil du gerade an diesem Wendepunkt in meinem Leben auftauchst! Ich erzähle dir jetzt, was damals im vorletzten Kriegsjahr geschehen ist. Dann urteile selbst.«