Casa Gambetti, Juni 1944

Kapitel 1

»Hast du das gehört?« Nella setzte sich auf. Im Mondlicht glitten ihre dunklen Locken wie Schlangen über ihre nackte Haut.

Victor stützte sich auf seine Ellenbogen und lauschte in die warme Juninacht. Sie befanden sich auf dem Heuboden von Nellas Elternhaus, eines von vielen Verstecken, an denen sich die Liebenden heimlich trafen. »Pistolenschüsse.«

»Eine Beretta«, sagte Nella.

»Wie hörst du das?« Victor küsste ihre Schulter und stand auf. Das silbrige Nachtlicht ließ seinen muskulösen Körper statuenhaft erscheinen.

»Erfahrung. Jede Pistole, jedes Gewehr hat einen ganz eigenen Klang. Ich kann mich natürlich täuschen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das eine Beretta war. Falls da jemand auf Hasenjagd war, ist das ziemlich dumm.« Sie stand ebenfalls auf und schlüpfte in ihr Kleid. Ihre Schuhe schüttelte sie jedes Mal vor dem Anziehen aus, um sicher zu gehen, dass kein Skorpion darin saß. In porösen alten Gemäuern fühlten die gepanzerten Tierchen sich wie zu Hause.

Der Winter war ausgerechnet in diesem Kriegsjahr übermäßig lang und frostig gewesen. Hier oben in den Hügeln war niemand Hungers gestorben, aber unten in den Städten hatten die Menschen schwer gelitten. Die Kriegsmüdigkeit und das stetige Vorrücken der Alliierten zeigte Wirkung. Gestern hatte sich der Bürgermeister von Monte San Savino tatsächlich mit dem Commissario del Fascio und Kommandante Nevio getroffen! Im Februar wäre das undenkbar gewesen! Damals hatten sie vor Tenente Santo gezittert. Automatisch glitt Nellas Hand über ihren Arm. Der Bruch war gut verheilt, die Narbe am Bein verschwindend klein.

Aber nocch war der Krieg nicht vorbei, noch beherrschten die deutschen Besatzer das Land. Wer sich ihnen in den Weg stellte, wurde brutal vernichtet. Aber nicht alle waren so. Nella band ihre Haare zusammen und fing Victors Blick auf.

»Du bist wunderschön, Nella. Habe ich dir das schon gesagt?«

Sie lächelte. »Schmeichler.«

»Im Gegenteil, ich untertreibe. Wenn ich dich ansehe, sehe ich ein Kunstwerk und höre ein Lied, einfach, schön, voller Sehnsucht, vollkommen.« Victor knöpfte sich sein Hemd zu. »Wie heißt dieses Lied, das du mir vorgesungen hast?«

»La Mondina, meinst du?« Sie summte die Melodie.

Er nickte. »Ich habe es einige Male gehört, auf den Feldern, von den Frauen, aber du singst es langsamer, dann klingt es tragisch, wundervoll.« Victor griff nach ihrer Hand und zog sie an sich. »Wenn ich sterbe, singst du es für mich?«

Nella legte ihren Kopf an seine Brust, damit er ihre Tränen nicht sah. »Du hast mir versprochen, nicht zu sterben …«

Sie spürte seine Lippen in ihrem Haar. »Falls mir was dazwischen kommt, nur dann.«, murmelte er.

»Ich singe es jetzt für dich.« Nellas Stimme war dunkel und klar. »Amore mio non piangere, se me ne vado via, lo lascio la risaia, ritorno a casa mia ….« Leise erhob sich die Melodie in die Nacht und zog sehnsuchtsvoll über die Hügel des Chianatales.

»Ragazzo mio non piangere …«, sang Nella und packte ihre Sachen zusammen. Da hallte ein weiterer Schuss zu ihnen herauf.

Victor steckte seine Mütze in eine Tasche. »Kaninchen werden nicht geschossen. Habt ihr für heute eine Aktion geplant?«

»Nein! Nevio hat angedeutet, dass in den nächsten Tagen ein Konvoi durchkommt, den wir abfangen wollen, aber das klingt nach einem ungeplanten Zwischenfall. Hat Struck denn wieder ein Kommando ausgeschickt?«

Victor hatte seinen Posten in der Funkstation der Villa und informierte Nella über jedes Strafkommando, jede Vergeltungsaktion der Deutschen. Im Gegenzug ließ Nella ihn wissen, wann er sich von welcher Straße fern halten musste. Sie vertraute ihm und war bisher nicht enttäuscht worden. Niemand wusste von ihrem Verhältnis mit Victor. Rachele ahnte etwas, aber sie sagte nichts. Inwieweit Alcide spürte, dass sie sich mit Victor eingelassen hatte, wollte sie gar nicht wissen. Wahrscheinlich ahnte er es. Aber Nella übermittelte den Kameraden wichtige Informationen. Das allein zählte.

»Meinst du, das könnte etwas mit dem Dreimächtetreffen gestern zu tun haben?«, fragte Victor halb scherzhaft.

»Kaum. Die Schwarzhemden wollen einen ihrer Leute austauschen. Zehn von unseren gegen einen der ihren. Darauf hat Nevio bestanden und so wird es gemacht«, antwortete Nella. Zu einem friedlichen Austausch von Gefangenen war es seit Monaten nicht gekommen, aber die Chancen standen dieses Mal gut. Die Faschisten verloren an Boden. Nella schaute auf ihre Uhr. »Noch eine Stunde bis Sonnenaufgang. Du musst dich melden. Wie lange ist dein Freund noch auf Posten?«

Victor konnte sich nachts davon stehlen, wenn ein Gefreiter, den er vor einer Verurteilung als Dieb bewahrt hatte, Wache hatte. Eine Hand wusch die andere. In der Villa gab es mittlerweile kaum noch Platz für Soldaten. Täglich kamen neue deutsche Lastwagen aus dem Süden und die Männer mussten für ein oder zwei Nächte untergebracht werden. Die meisten waren krank und ausgezehrt. Es stand zu befürchten, dass auch in den umliegenden Höfen, die bisher verschont geblieben waren, Zwangseinquartierungen stattfinden würden.

Mit dem ersten Dämmerlicht schlichen sich Nella und Victor vom Heuboden. Gelegentlich übernachteten im Haus Partisanen oder Flüchtlinge, die zu krank waren, um noch weiter zu laufen. Für ein dauerhaftes Versteck lag das Haus der Riccardis jedoch nicht abgelegen genug. Victor hatte sich ein Fahrrad besorgt, auf dem er Nella ein Stück weit mitnehmen konnte. Uniformmütze und Jacke zog er erst vor dem Tor zur Villa an. So konnte man sie von weitem für ein Liebespaar halten, das von einem Stelldichein kam.

Als sie auf der Hügelkuppe oberhalb der Casa Gambetti standen, bemerkten sie eine für diese Tageszeit ungewöhnliche Betriebsamkeit auf dem Hof. Victor hielt an und ließ Nella absteigen. »Hat das etwas mit den Tieren oder der Landbestellung zu tun?«

»Nein, nein! Es gibt nur noch eine Milchkuh, die gemolken werden muss, und geerntet wird später. Da ist etwas passiert. Ich sehe nach.«

»Beeil dich, Nella.« Er sah nervös auf seine Armbanduhr. »Ich warte auf der anderen Seite an der Straße auf dich.«

Ein flüchtiger Kuss und Nella lief hastig zwischen Sträuchern und Obstbäumen nach unten. Sie kannte jeden Stein und jeden Grashalm auf diesen Hügeln und sprang im Zwielicht sicher über den unebenen Boden. Kurz vor dem Weidezaun verlangsamte sie ihr Tempo. Auf dem Hof liefen zwei deutsche Soldaten wild gestikulierend herum und brüllten Befehle. Einer fuchtelte mit einer Pistole herum und feuerte einen Schuss in die Luft ab. Das war eine Walther P38, aber die ersten Schüsse waren aus einer anderen Waffe abgegeben worden. Was ging dort unten vor? Wo waren Rachele und Nuccia? Nella kniete sich hinter einen Pfahl und kroch auf allen Vieren hinter den Stall.

»Pst, Nella!«, flüsterte es vor ihr. Es raschelte und ein Schatten huschte aus der Deckung einer Baumgruppe zu ihr herüber.

»Alcide, was ist passiert?«

Alcide musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Was er dachte, war nicht schwer zu erraten, doch er sagte leise: »Nevio, dieser Idiot, hat heute Nacht mit nur dreien seiner Männer einen deutschen Panzerwagen überfallen. Sie waren betrunken.«

»Oh Gott, wie konnte er nur!« Nella griff nach Alcides Arm. »Und dann?«

»Mit einer Handgranate wollte Nevio den Wagen lahm legen. Die ist zu spät losgegangen, so dass der Panzerwagen zwar einen Motorschaden hatte, die Deutschen aber herausgekommen sind und sofort zwei von unseren Leuten erschossen haben. Nevio hat einen von ihnen erwischt, aber die Scheißkerle sind schlau und haben ihren Kameraden unter Feuerschutz hier herauf geschleppt. Er liegt im Haus. Ein Soldat bewacht ihn drinnen, die beiden anderen siehst du.«

»Worauf wartest du? Wo ist Nevio? Wir erschießen die Soldaten, stürmen das Haus und schaffen die Leichen weg.«, schlug Nella ohne zu zögern vor.

Alcide schüttelte ihre Hand ab. »Und das kommt von dir … Denk mal nach, Nella. Der sabotierte Panzerwagen steht unten an der Straße. Wie sollen wir den so schnell fortschaffen? Die haben die Schüsse doch auch in der Villa gehört und schicken bald jemanden raus. Wenn wir jetzt hier eingreifen, nehmen sie den Hof auseinander und erschießen uns alle. Meine Mutter und Rachele zuerst, die sind nämlich drinnen.«

»Waren die Deutschen schon im Stall oder in der Mühle?« Dort versteckten sich englische und südafrikanische Kriegsgefangene.

»Noch nicht, aber die Flüchtlinge werden schon selbst zusehen, dass sie nicht gefunden werden.«

Nella hatte ihre Zweifel, denn einige der Flüchtlinge waren erst gestern vollkommen enkräftet eingetroffen. Einige waren schwer verwundet. Die armen Kerle würden sich ihrem Schicksal ergeben. »Aber wenn wir uns jetzt ruhig verhalten, haben sie doch keinen Grund, den Hof, uns mit den Partisanen in Verbindung zu bringen!?«, wagte Nella zu hoffen.

»Sei nicht dumm, Nella. Seit wann brauchen die Deutschen einen Grund zum Töten?«

»Ich bin gleich zurück!« Sie musste zu Victor. Er war der einzige, der sie vor einer Katastrophe retten konnte.

»Nella! Verflucht! Bleib hier!«, zischte Alcide.

Victor musste mit den Soldaten sprechen. Auf ihn würden sie hören! Es waren doch seine Landsleute! Blindlings stolperte sie am Weidezaun entlang. Rachele und Nuccia waren dort drinnen! Sie selbst hätte dort sein sollen, nicht Rachele. Keuchend lief sie auf die Bäume zu. Ein Schuss fiel, gefolgt von einer Maschinengewehrsalve.

»Nein!«, schrie Nella und rannte zurück.

Sie sah, wie Nevio und zwei seiner Männer mit vorgehaltenen Gewehren über den Hof stürmten.

»Nevio! Nicht! Tu das nicht!«, schrie Alcide und rannte mit gezogener Pistole hinterher.

Aus dem Stall kamen nun auch die Kriegsgefangenen, abgerissene Gestalten mit Pistolen und Heugabeln bewaffnet. Die Hühner flatterten und kreischten aufgeregt, die anderen Tiere gaben nervöse Geräusche von sich und die Sirenen in Monte San Savino stimmten heulend ihre Warnung an. Donnernd kamen die Jäger der Alliierten näher. Die Motoren dröhnten und schon fielen die ersten Bomben vom Himmel. Aus Richtung der Villa kam Flakfeuer, doch diesmal gingen die Bomben gezielter auf der Straße nach Arezzo nieder. Gleißende Lichter und der Lärm der Geschütze begleiteten das Inferno.

Nella stand auf dem Weiderost am Rande des Hofs und hielt sich die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Um die zerfetzten Körper der beiden deutschen Soldaten breiteten sich Blutlachen aus. Alcide lief die Treppe zur Küche hinauf, in der Nevio und die anderen verschwunden waren. Sie schaute suchend dorthin, wo sie Victor vermutete. Er trat hinter einer Zypresse hervor, doch sie drängte ihn mit einer verzweifelten Geste zurück. Die Männer waren noch im Haus. So schnell sie konnte, lief sie an den Leichen vorbei zu Victor.

»Um Gottes willen, bist du verletzt, Nella?«

Sie drängte ihn in den Schutz der Bäume. Ein markerschütternder Schrei ließ sie zusammenzucken. Der Fasanenhahn flatterte über den Hof. »Victor, verschwinde. Lass dich hier nicht sehen. Nevio erschießt dich! Er ist in Rage und betrunken. Sie wollten einen Panzerwagen hochgehen lassen und alles ist aus dem Ruder gelaufen.«

»Nella!«, rief Alcide hinter ihr. »Wo bist du denn?«

»Oh Gott, Nella. Wenn Struck das erfährt, nimmt er furchtbare Rache«, sagte Victor.

»Aber es war Nevios Schuld, nicht unsere, nicht Alcides! Nevio ist ein brutaler Schlächter, Victor, Nevio ist der Schuldige!« Mit Tränen in den Augen küsste sie Victor und rannte zurück. Er würde das Richtige tun. Wenn es ihm gelang, Struck von der Schuld des Kommandanten zu überzeugen, gab es Hoffnung. Oft genug hatte sie mit Victor über die unnötig grausamen Aktionen des Kommandanten gesprochen. Vielleicht war jetzt ein Punkt erreicht, an dem sich auch Dante und die anderen gegen Nevio stellen würden. Alcide zerrte sie in die Küche.

»Was hast du denn noch gemacht?«

»Jemand hat geschrieen, aber es war der Fasan!«, erwiderte sie. »Deine Mutter und Rachele?«

»Sind am Leben. Aber Nevio hat auch den anderen Deutschen erschossen. Der Verwundete liegt unten.«, sagte Alcide düster.

»Verdammt, wir müssen sie wegbringen bevor die Deutschen kommen!« Sie folgte Alcide durch die Küche in den offenen Eingangsbereich, aus dem das Treppenhaus in den ersten Stock führte.

Hier unten standen um einen kleinen Holztisch Korbstühle und eine Bank, auf welcher der verwundete Soldat lag. Aber es war nicht der Anblick des blutverschmierten Soldaten, der stöhnend den Kopf hin und her warf, der Nella erschreckte, sondern Nevios hassverzerrtes Gesicht. Kommandante Nevio stand über den Leichnam des erschossenen Deutschen gebeugt und spuckte aus.

Rachele hielt Nuccia an der Hand. Mit bleichen angsterfüllten Mienen standen die Frauen mit dem Rücken zur Wand. Nevios Kumpane schulterten ihre Gewehre. Einer war Serbe, wie der Kommandant. »Was ist mit dem da?« Er zeigte auf den Verwundeten.

Bevor jemand antworten konnte hatte Nevio bereits seine Pistole gehoben und drückte sie dem Man auf der Bank an die Stirn.

»Nicht! Der kann doch …«, weiter kam Nella nicht.

Die Kugel durchschlug den Kopf des Mannes. Der Körper bäumte sich kurz auf, ein Arm glitt nach unten und Blut und Gehirnmasse tropften auf den Boden. Jetzt hatten sie vier tote Deutsche auf dem Hof.

»Verdammt …«, murmelte Nella.

»Gibt es hier nichts zu trinken?«, knurrte der Partisanenführer.

»Es gibt wohl Wichtigeres zu tun, Nevio!«, meinte Alcide vorwurfsvoll. »Wenn die Deutschen die Leichen auf dem Hof finden, steht hier kein Stein mehr auf dem anderen.«

Nevio verzog angewidert den Mund. Er war groß, muskulös und tiefe Linien um Nase und Mund prägten ein brutales Gesicht. Seine Augen waren ständig darauf bedacht, alles unter Kontrolle zu halten. »Du wirst nie ein Kommunist sein, Alcide. Du hast immer noch Angst um deinen Besitz.«

Mit vor Wut weißen Lippen trat Alcide auf den gefährlichen Mann zu. »Wir kämpfen für dieselbe Sache. Aber uns unterscheidet, dass ich versuche, meine Menschlichkeit nicht zu verlieren. Und im Übrigen verzichtet es sich leicht, wenn man nichts hat, das man verlieren kann …«

Von draußen hörten sie erregte Stimmen. »Alcide? Bist du da?«

Dante, Marco und zwei weitere junge Partisanen kamen herein. »Heilige Madonna!« Sofort lag Dantes anklagender Blick auf Nevio. »Das ist deine Handschrift!«

Nevio steckte seine Pistole in den Gürtel. »Reg dich ab, Dante. Schafft die Leichen weg und kein Hahn wird mehr nach deinem verrotteten Hof krähen, Gambetti. Und jetzt will ich etwas trinken!«

Nuccia, die bisher keinen Ton von sich gegeben hatte, sagte mit zitternder Stimme: »Verschwinden Sie! Verlassen Sie unser Haus, Sie Mörder!«

»Bring das hysterische Weib raus, schließ sie ein …« Weiter kam er nicht, denn Alcide stürzte sich auf ihn und packte den Kommandante am Kragen.

»Du sprichst mit meiner Mutter!« Alcide schüttelte Nevio. »Hast du keine Mutter? Wie verroht muss man sein, um so zu werden wie du!« Bevor der angetrunkene Nevio realisierte, wie ihm geschah, hatte Alcide ihn von sich gestoßen.

Taumelnd suchte Nevio Halt. »Das wirst du bereuen, Alcide. Du wirst den Tag bereuen, an dem du aus dem Schoß dieser …«

»Nevio! Hör auf damit!«, schrie Rachele und stellte sich zwischen die beiden Männer.

»Du verbietest mir nicht den Mund!«, brüllte Nevio und versuchte, mit seiner Pistole auf Alcide zu zielen.

Dante drückte bestimmt Nevios Waffe zur Seite. »Wir müssen schnell handeln«, sagte der kleine Mann und schob seine Brille an die Nasenwurzel. »Wenn die Deutschen ihre Leute hier finden, wird die Vergeltungsaktion alle treffen.«

Die deutschen Sühnemaßnahmen waren grausam und unberechenbar.

»Letzten Winter der Totensonntag im Villa della Vita …«, sagte Nella sehr ruhig und sah dabei jeden der Anwesenden an. »Sie haben aus dem Tal des Lebens das Tal der Toten gemacht! Wollt ihr, dass das auch hier passiert?«

»Senza alcun motivo!« Nevio steckte sein Pistole weg.

»Ganz genau!«, erwiderte Nella. »Sie brauchen noch nicht einmal ein Motiv, um Frauen, Kinder und Greise zu töten! Worauf warten wir noch?«

Die Fallschirmjäger waren durch ein geräumtes Gebiet gezogen und hatten jeden Bewohner, der sein Haus noch nicht verlassen hatte, ermordet, die Häuser gesprengt oder angezündet. Ins Gedächtnis gebrannt hatte sich gerade dieser Vorfall, weil über fünfzig Frauen und Kleinkinder unter den hilflosen Opfern gewesen waren.

Alcide und Marco holten einen Karren aus dem Stall. Die Leichen der deutschen Soldaten wurden aufgeladen und von Nevio, Dante und seinen Männern im Wald nahe dem sabotierten Panzerwagen abgelegt. Marco und Alcide waren dabei, Sand auf die Blutlache im Hof zu schaufeln, als sie die Motoren hörten.

»Was machen wir jetzt?« Nella kam aus dem Stall gerannt. Die kräftigeren Kriegsgefangenen waren auf dem Weg in den Wald, die anderen schlichen sich über den Hügel zu ihrem Elternhaus hinüber. Nella sah zu, wie die Männer eine Schaufel Sand nach der anderen auf die verräterischen Flecken warfen. In der Küche brannte Licht. Rachele hielt den Kopf zum Fenster hinaus und hielt den Daumen hoch. Es bedeutete, dass sie die Blutspuren beseitigt hatte.

»Sind die Flüchtlinge weg?«, fragte Alcide mit Blick auf den Stall.

Nella nickte. Das warme Licht der aufgehenden Sonne schlich sich über die Hügel und schenkte Land, Tieren und Menschen für Augenblicke eine goldene Aura. Noch hing der Morgennebel über den Hügeln, lag die Feuchtigkeit der Nacht auf dem Boden. Gebannt hielten die jungen Leute inne. Die Motorengeräusche näherten sich. Wieviele Wagen mochten es sein? Welches Schicksal erwartete sie?

Die Erde vibrierte unter ihren Füßen. Nella starrte auf die Nebelschwaden, die über der Einfahrt hingen und den Hof wie einen Schleier umhüllten. Knatternd schob sich die Silhouette eines deutschen Motorrads über den Weiderost. Dem Späher folgten eine Limousine und ein Lastwagen. Nella schluckte und stellte sich dicht neben Alcide. Hinter ihnen, auf der gegenüberliegenden Seite klapperten die eisernen Rinderfänge unter einem leichten Gefährt. Elsa Luzzati bremste angesichts der Deutschen sofort, stolperte und fiel mitsamt ihrem Rad auf das Eisengitter. Der Aufprall musste schmerzhaft sein, doch Elsa hob ihr Rad auf und blieb einfach stehen. Wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert wird, dachte Nella, die Elsa noch immer grollte. Im Winter, nach Hannahs Tod, hatte Elsa sich bei dem Tenente einschmeicheln wollen und Gott weiß was für Lügen über sie und die Gambettis erzählt. Wäre Tenente Santo nicht bei dem Luftangriff getötet worden, hätte alles ein böses Ende nehmen können.

Nella fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Besonders gut sah es gerade jetzt auch nicht für sie aus.

»Sollten sie fragen, das Blut stammt von einer Ziege. Marco, hörst du?«, zischte Alcide.

»Jaja, Lupo«, grunzte Marco Luzzati zustimmend und schaufelte ungerührt weiter. Er war groß, hatte dichtes gewelltes Haar und einen breiten Mund, der gern lachte. Sein Kinn wies ein Grübchen auf und es kostete ihn wenig Mühe, Frauen für sich einzunehmen. Während sie Dante und Alcide blind vertraute, würde sie auf Marcos Wort keine Lira geben. Oh, er würde jede Lira nehmen, kein Zweifel, er war einer, der einen Preis hatte.

Das Motorrad kam in einer Staubwolke neben ihnen zu stehen. Der Soldat stieg ab und brachte sein Maschinengewehr in Bereitschaft. Zehn bewaffnete Soldaten sprangen mit grimmigen Gesichtern von der offenen Ladefläche des Lastwagens. Als die Tür der Limousine geöffnet wurde und ein Sonnenstrahl die Brille des Offiziers aufblitzen ließ, verstärkte sie ihren Griff um Alcides Arm. »Struck«, flüsterte sie heiser.

»Gott steh uns bei …« Alcide stützte sich auf seine Schaufel und erwartete die ungebetenen Besucher.

Seit dem Luftangriff auf dem Friedhof zog der Oberst ein Bein nach und eine Gesichtshälfte war von Brandwunden entstellt. Er hatte sein scheinheiliges Grinsen nicht abgelegt, doch im Zusammenspiel mit der verzerrten Gesichtshälfte wirkte er nun erst recht wie ein böser Dämon. Auf einen schwarzen Gehstock gestützt, machte er zwei Schritte in die Hofmitte. Dort sah er sich nach allen Seiten um. Seine Leute warteten mit den Gewehren im Anschlag.

Nach bedrückend langen Sekunden blieb sein Blick auf Nella haften. Sie fühlte, wie ihr Kleid am Rücken zu kleben begann. Marco brachte sich in eine betont lässige Position.

»Signorina! Kommen Sie her!«, befahl der Oberst.

Beim Näherkommen bemerkte Nella die neuen Rangabzeichen auf der Uniformjacke. Goldene Schulterstücke bedeuteten einen Generalsrang.

»Guten Morgen, Generale.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Auf dem Land beginnt die Arbeit schon vor dem Sonnenaufgang.«

»Was Sie nicht sagen. Wir haben uns schon gesehen.« Struck blinzelte und die roten Narben auf seiner Wange zuckten.

Nella senkte den Blick. »Der Luftangriff bei der Kapelle, Generale.«

Struck verlagerte sein Gewicht und stocherte mit dem Gehstock im Sand. »Sie hatten mehr Glück als ich, Signorina.«

»Meine Freunde sind gestorben«, sagte Nella. »Signore Gambetti ist tot.«

Struck sah von ihr zu Alcide und Marco. »Deshalb sind Sie hier?«

»In schweren Zeiten hilft man da, wo man am meisten benötigt wird. Signora Gambetti braucht meine Hilfe. Alcide, ihr Sohn, hat nur eine befristete Sondergenehmigung.« Das stimmte sogar, obwohl Alcide niemals an die Front, sondern zu seiner Partisaneneiheit gehen würde.

»Und der dort?« Der General deutete auf Marco.

»Der ist nicht richtig im Kopf. Er ist Elsas Bruder. Tagelöhner. Sie helfen«, erklärte Nella hastig und sah aus den Augenwinkeln, dass Marco ein dümmliches Geischt aufsetzte.

Die Deutschen wurden ungeduldig und redeten auf Struck ein, der jedoch energisch abwinkte. Mit einem halbseitigen Grinsen wandte er sich wieder an Nella. »Sind Sie nicht mit unserem Major bekannt?«

Nella räusperte sich. »Flüchtig.«

»Es hat einen Überfall auf einen Panzerwagen der vierten Division gegeben. In dieser Nacht. Unten an der Straße nach Arezzo. Das müssen Sie doch gehört haben.«

»Es fallen öfter Schüsse. Aber wir kümmern uns um unsere eignen Angelegenheiten.« Nellas Kleid war inzwischen auch unter den Armen durchgeschwitzt.

»Wir wissen genau, worauf Sie hinaus wollen, General. Aber wir halten uns hier aus allem raus. Das Land und die Tiere brauchen unsere ganze Kraft. Wir kämpfen ums Überleben«, sagte Alcide und zeigte auf den Stall, worauf die Soldaten sofort ihre Waffen auf ihn richteten.

»Und was haben Sie da vergraben?« Struck hinkte zur Stelle mit dem frisch aufgeworfenen Sand und stocherte mit seinem Stock darin herum bis er dunkle Klumpen aufwarf. Neugierig bückte er sich und berührte den Sand mit den Fingern. »Feucht.«

Er schnupperte an seiner Hand. »Blut. Ich höre!«

»Wir haben eine Ziege geschlachtet.«, log Alcide. »Es gibt viele hier in der Gegend, die hungern. Das Tier wurde zerlegt und verteilt. Wir waren dabei, den Hof …«

»Genug!«, fiel Struck ihm scharf ins Wort. »Ich stelle Sie alle unter Arrest. Gehen Sie ins Haus und verhalten Sie sich ruhig.«

»Aber das können Sie doch nicht machen!«, rief Nella. »Die Kuh muss gemolken werden, die Tiere gefüttert und getränkt …«

»Sie strapazieren meine Geduld. Aber wir sind ja keine Unmenschen.« Der General gefiel sich in der Rolle des generösen Besatzers. »Rufen Sie das Mädchen mit dem Rad und dann können Sie unter Aufsicht zu den Tieren. Eine verdächtige Aktion von Ihnen und ich lasse Sie erschießen.«

Nella strich über ihr Kleid. »Elsa!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme.

Das verängstigte junge Mädchen lief weinend mit seinem Fahrrad auf sie zu. »Ich habe nichts getan …«

»Halt den Mund, Elsa!«, zischte Nella, denn noch waren sie in Hörweite des Generals. »Ich melke, du fütterst und dann sehen wir weiter.«