Val di Chiana, Juni 2001

»Aber er ist nie zurückgekommen …« Oda stand am Fenster des Krankenzimmers und betrachtete die schmale Gestalt auf dem Bett. Über Nellas Erzählung war es Abend geworden und in der Dunkelheit schienen Raum und Zeit, Vergangenheit und Gegenwart zu verschmelzen.

Nella hob ihr Gesicht. Die Jahre hatten ihrer Schönheit nichts anhaben können, weil ihre Seele schön war. Was hätte Oda dafür gegeben, diese Frau ihre Großmutter nennen zu dürfen. In Gedanken an die Villa auf dem Elbhügel knetete sie ihre Hände. Es war nicht ausgestanden, solange nicht alle Fragen beantwortet waren.

»Nein. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Nichts. Kein Brief, kein Anruf.« Seufzend lehnte Nella sich in ihre Kissen. »Die Ungewissheit ist zermürbend. Wäre er am Leben geblieben, er hätte sich bei mir gemeldet. Das weiß ich. Es ist nur …« Sie holte tief Luft. »Ich würde gern meinen Frieden mit allem machen. Wenn ich nur wüsste, wo und wie er gestorben ist.« Sie schwieg.

»Du weißt aber sicher, dass Victor mit Struck nach Deutschland gefahren ist?«, wollte Oda wissen.

»Ja. Anfang Juli sind die Alliierten gekommen. Die Briten waren zuerst da. Die Deutschen haben nicht kampflos aufgegeben, obwohl klar war, dass sie keine Chance mehr hatten. Was haben wir gejubelt, als der erste britische Jeep über die Piazza in Monte rollte. Ich war wohl die einzige, die sich einen der Deutschen zurück wünschte.« Nellas Stimme war jetzt sehr leise und heiser. Das Sprechen hatte sie angestrengt.

»Ich sollte jetzt gehen, Nella.«

Die Schwestern hatten Nella wiederholt zum Schlafen aufgefordert und Oda hinausgeschickt, doch sie hatte sich wieder hineingeschlichen.

»Warte noch. Was denkst du jetzt über die Sache, Oda? Die Schüsse, das Feuer. Von damals lebt doch niemand mehr. Nur Dante, und der war es nicht.« Sie klopfte auf die Bettdecke und Oda setzte sich wieder zu ihr und nahm ihre Hand.

»Die Luzzatis? Elsa ist bei dem Angriff auf Nevio gestorben. Aber das würde bedeuten, dass Stefano …«

Ungeduldig winkte Nella ab. Die Kanüle in ihrem Arm behinderte sie in der Bewegung. »Verfluchtes Ding. Die sollen mir das rausziehen! Mir fehlt nichts. Morgen fahre ich nach Hause!«

»Aber …«, protestierte Oda vorsichtig.

»Das Feuer, ach ja …«, seufzte sie. »Also, wenn nicht Stefano, wer dann?«

»Jemand aus Racheles Familie?«

»Die Listris sind weggezogen«, sagte Nella entschieden.

»Und wenn Nevio ein Kind mit einer Frau aus der Gegend hatte? Könnte doch sein. Schließlich war er ein Weiberheld.«

Nella verzog das Gesicht. »Er hat Frauen missbraucht, schlecht behandelt. Unwahrscheinlich, dass eine von damals ihm eine Träne nachweint. Siehst du jetzt, dass das alles keinen Sinn ergibt? Es ist einfach niemand mehr übrig, der mir wegen des Verrats an Nevio Böses wollen könnte. Und schlussendlich waren wir im Krieg. Wir hatten keine Wahl. Wir oder die – das war die einzige Alternative.«

Oda stand auf und trat ans Fenster. Es passte nicht! Wie sie die Informationen auch drehte, es fügte sich einfach nicht zusammen. »Nella, du hast mir noch immer nicht gesagt, was Alcide getan hat. Er war doch Lupo!«

»Habe ich nicht? Nein, ich hatte mir geschworen, ihm geschworen, es niemals einer Seele zu sagen. Solange ich lebe.«

»Aber jemand weiß es!« Darum musste es gehen! Lupos Tat war der einzige ungeklärte Teil der Geschichte.

»Oda, setz dich wieder hin. Ich will es dir sagen, nur dir, hörst du?«

Oda setzte sich und die beiden Frauen sahen einander in die Augen. »Der Jagdunfall, nicht wahr? Marco ist nicht bei einem Unfall gestorben.«

»Nein, ist er nicht. Marco Luzzati war ein niederträchtiger Gauner. Er hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Tag ehrliche Arbeit getan. Lügen und Betrügen und andere erpressen, damit hat er sich über Wasser gehalten. Als die Kommunisten ihn satt hatten, kam er nach Monte zurück und klopfte bei all seinen ehmaligen Freunden und Kameraden an die Tür. Er hat gebettelt! Aber arbeiten wollte er nicht! Nicht einmal als er Vater wurde, wollte er sich ändern. Oh nein, stattdessen kam er zu uns.« Nella hustete und verlangte nach Wasser. Ein Tropfen lief über ihr Kinn als sie fortfuhr.

»Zweimal hat Alcide ihm Geld gegeben. Wir sind nicht reich. Das hast du gesehen. Nach dem Krieg haben wir bei Null angefangen. Nuccia ist sechsundvierzig gestorben. Sie war nur noch ein Schatten, eine leere Hülle, die aß, weil sie uns einen Gefallen tun wollte. Irgendwann hat sie einfach aufgehört und ist eingeschlafen. Sie hatte alles in diesem verdammten Krieg verloren, und dann kommt dieser miese Dreckskerl daher und will Alcide um seinen Hof bringen! Der Hof war Alcides Leben!«

»Aber ihr wart doch Partisanen! Es war doch …« Oda zögerte. Überfälle auf deutsche Lastwagen und andere Sabotageakte waren normal gewesen.

»Kollaboration. Wir haben unsere Leute an die Deutschen verraten. Damit wurden wir zu Verrätern und machten uns schuldig. Unseretwegen mussten Landsleute sterben.«

»Aber das alles ist doch nur geschehen, weil Nevio den Panzerwagen überfallen hat!«, wandte Oda ein.

»Oda, wir hätten unsere Kameraden nicht verraten dürfen. Marco wusste das. Er hat gedroht, als Zeuge bei der Polizei auszusagen und zur Presse zu gehen. Ob er damit durchgekommen wäre, steht auf einem anderen Blatt, aber Faschisten sind auf dem Lande nicht gut angesehen und Verräter noch weniger. Alcide konnte den Gedanken der Bloßstellung nicht ertragen.« Nella verstummte.

»Also hat er Marco vorsätzlich erschossen.« Das war Mord. »Womit wir wieder bei Stefano Luzzati sind. Niemand sonst hat doch Grund für eine späte Rache an dir.«

»Nein, nein, nicht Stefano! Ich kenne ihn von klein auf. Er hat in den Ferien mit Sandro gespielt. Der hat nicht das Verschlagene seines Vaters in sich. Sowas merkt man.«

»Aber wer dann? Sein Onkel Silvio ist senil und sitzt im Pflegeheim.«

Eine Weile überlegten sie noch hin und her, bis Oda es für angebracht hielt, sich zu verabschieden. Nella brauchte Ruhe, und sie waren an einem Punkt angekommen, an dem es ohne Hilfe von außen nicht weiterging. Oda entschied, dass sie am nächsten Tag nach Hamburg fliegen und Dorle mit ihrem Wissen über Victor konfrontieren würde. Keine Ausflüchte mehr! Bevor sie das tat, musste sie etwas anderes Wichtiges tun.

Die diensthabenden Beamten in der Polizeistation von Arezzo boten ihr einen Kaffee an, während sie Commissario Zanolla anriefen. Es war schon spät, aber Zanolla war an einem Gespräch mit ihr interessiert. Sie trafen sich in einer ruhigen Bar und Zanolla erwies sich als aufmerksamer Zuhörer. Oda hatte beschlossen, den Commissario einzuweihen, weil Nellas Leben in Gefahr war. Die Sache war aus dem Ruder gelaufen. »Kann Alcides Tat noch Konsequenzen für Signora Gambetti haben?«, fragte sie abschließend.

Zanolla, der sich Notizen gemacht hatte, legte seinen Stift hin und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nein. Die Sache liegt vierzig Jahre zurück und die Signora war nicht beteiligt. Wenn es keinen Zeugen gibt, kann ihr niemand nachweisen, dass sie ihren Mann gedeckt hat. Aber ich sage es ganz ehrlich, diese merkwürdigen Vorfälle auf dem Hof haben mich bei meiner Kriminialistenehre gepackt. Ohne Ihren Bericht wäre ich nicht weiter gekommen, aber jetzt weiß ich, wo ich suchen muss.«

»Ja?« Gespannt wartete Oda auf seine Erklärung.

Zanolla verstaute Stift und Block in seiner Anzugjacke. »Sie haben genug getan. Ich werde dafür Sorge tragen, dass die Signora noch einige Tage im Krankenhaus bleibt und die Station informieren, dass sie keinen unangemeldeten Besuch empfangen darf. Sehen Sie, ich bin mir ziemlich sicher, dass Marco Luzzatis Tod der Auslöser ist, der Grund für diese Erpressung aber in dem Verrat an den Partisanen zu suchen ist. Rache ist ein scharfes Schwert, auch nach Jahren und in der nächsten Generation. Ich habe viel Erfahrung auf diesem Gebiet.« Er lächelte traurig.

»Halten Sie Stefano Luzzati für den Übeltäter?«

»Ich spreche keine unbegründeten Verdächtigungen aus.«

»Noch eine Sache, Commissario. Nellas Beziehung zu meinem Großvater … Das muss man doch nicht an die große Glocke hängen?«

Der Beamte musterte sie einige unangenehme Sekunden lang. Mit diesem Mann sollte man sich nicht anlegen, dachte Oda.

»Ich nehme an, dass die Signora dieses Verhältnis vor ihrer Familie verheimlicht hat?«

»Ich bin die einzige, die davon weiß und auch nur, weil ich gefragt habe.«

Es zuckte in seinem Gesicht, das keinen seiner Gedanken preisgab, und schließlich umspielte ein Lächeln seine Lippen. »Sie sind eine interessante Frau, Signorina Bergemann. Hätten Sie Ihre Nachforschungen auch vorangetrieben, wenn Sie gewusst hätten, was passiert?«

»Ich weiß nicht …«, überlegte Oda, um dann voller Überzeugung zu sagen: »Doch, aber ich hätte mir gewünscht, dass ich früher gekommen wäre. Vielleicht wäre Signora Gambetti dann nicht im Krankenhaus.«

»Wer kann das wissen? Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihren Großvater so weit wie möglich unerwähnt lasse.«

»Ich danke Ihnen sehr, Commissario.«

»Warten wir es ab.«

Oda verließ Arezzo mit gemischten Gefühlen, doch sie war überzeugt, das Richtige getan zu haben, auch wenn es Nella nicht gefallen würde. Irgendjemand musste sie beschützen.

Als sie schon zehn Minuten die Autostrada entlanggefahren war, rief sie Sandro an. »Habe ich dich geweckt?«

»Nein. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Warst du so lange bei Nonna?« Er klang erschöpft.

»Ja, und dann habe ich mit Zanolla gesprochen. Sei bitte nicht sauer deswegen. Es musste sein!«

»Du machst doch sowieso, was du willst. Wo bist du jetzt?«

»Das wollte ich dich fragen.«

»Ich bin auf dem Hof. Emilia hat es sich bei den Serrettis gemütlich gemacht. Ist genau nach ihrem Geschmack dort. Sollen die sich mit ihr herumplagen. Du wirst dich wundern, Alessia will mir helfen. Ich habe ihr versprochen, dass wir ihr Pferd zurückholen, wenn wir das Haus wieder hinbekommen.«

»Das ist schön …« In ihrem Hals bildete sich ein Kloß und sie musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Ich habe Arezzo vor zehn Minuten verlassen und …«

Ein Transporter überholte sie und hupte, weil Oda für den Fahrer zu langsam fuhr. »Ah, fahr doch!«, schimpfte sie.

»Wir sollten nicht telefonieren, während du fährst. Sehe ich dich morgen? Ich bleibe heute Nacht in der Stadt. Ich habe so viele Dinge zu regeln, aber ich würde gern abends mit dir essen gehen.«

Er wollte sie heute nicht sehen und dabei wäre sie am liebsten zu ihm gefahren. »Sandro, es tut mir leid. Ich fahre morgen zurück nach Deutschland, aber ich komme so schnell es geht zurück.«

Es blieb still in der Leitung. »Sandro?«

»Jaja, verstehe. Meld dich einfach, wenn du wieder hier bist.« Er legte auf.

Zumindest zusammen frühstücken hätten sie können. Enttäuscht warf Oda das Telefon auf den Beifahrersitz. Wenn er nur nicht so verdammt stur wäre! Sie hatte doch auch Sorgen! Durch den Tod ihres Vaters war ihr Leben völlig aus den Fugen geraten. Hatte er das schon vergessen? Oda verbrachte eine weitere Nacht bei den Serrettis. Die wenigen Stunden Schlaf, die ihr blieben, verbrachte sie in einem halbwachen Zustand, denn ihre Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife. Am nächsten Morgen rief sie als erstes auf dem Florentiner Flughafen an und buchte eine Mittagsmaschine nach Hamburg. Tomaso kam auf die Terrasse, als sie einen Kaffee trank. Die übrigen Bewohner der Villa gingen bereits ihren Beschäftigungen nach.

»Guten Morgen!«, sagte der Mathematikprofessor und gähnte.

»Guten Morgen. Und eigentlich bin ich schon fast weg.«

»Sie verlassen uns schon wieder?« Er nahm seine Kaffeetasse und setzte sich zu ihr. Seine braungebrannten Füße steckten in weichen Lederslippern und seine Locken standen ihm noch zerzauster als sonst vom Kopf ab.

»Ich bin Ihnen allen sehr dankbar und wollte mich …«, weiter kam Oda nicht, weil Emilia Gambetti mit herablassender Miene die Terrasse betrat. Als sie Oda sah, zögerte sie und murmelte einen kurzen Gruß in Tomasos Richtung.

»Setzen Sie sich nur, Emilia.« Oda erhob sich und konnte Emilia die Erleichterung ansehen. »Tomaso, begleiten Sie mich noch?«

»Sehr gern.« Er nickte Emilia zu und legte Oda die Hand auf den Rücken als sie vor ihm durch die Tür ging. »Was ist das zwischen Ihnen beiden?«

»Wir hatten einen schlechten Start. Ich kam auf den Hof, als ihre Tochter einen Streit mit Nella hatte. Alessia und ich mochten uns sofort und Emilia ist eifersüchtig, glaube ich.«

»Frauen machen es sich untereinander oft unnötig schwer. Was nicht heißen soll, dass Männer keine Intrigen spinnen können. Sie würden nicht glauben, was an der Universität so passiert …« Tomaso verdrehte die Augen und warf die Hände in die Luft.

Oda sammelte ihre wenigen Habseligkeiten von einem Stuhl und ging mit ihm in den Hof. Als sie vor dem Gesindehaus mit dem zerschossenen Wappen stand, erschauerte sie. Genau hier hatte Victor vielleicht mit Struck gestanden.

»Sie sind sehr nachdenklich heute, Oda. Ist alles in Ordnung?«, fragte Tomaso.

Im Stall wieherte ein Pferd und die Morgenluft roch nach Kräutern und Dung.

»Nicht wirklich.« Gedankenverloren starrte sie auf den staubigen Mietwagen.

»Wenn es wegen Sandro ist …« Tomaso steckte die Hände in seine Hosentaschen.

»Nein. Auch, ach …«

»Geben Sie ihm Zeit. Welcher Mann sieht schon gern sein Projekt in Flammern aufgehen?«

»Sie sind ein netter Mensch, Tomaso. Grüßen Sie alle von mir und besonders Ihre Eltern. Ich bedanke mich richtig, wenn ich zurück bin.« Sie umarmte und küsste ihn auf die Wangen.

»Schade, dass ich Sie nicht vor Sandro kennengelernt habe. Aber wenn Sie in Rom sind, kommen Sie mich besuchen! Versprochen?«