Anton und Rosa Brugger waren die einzigen überlebenden Kinder ihrer Eltern. Alle anderen — die genaue Anzahl ihrer Geschwister kannten beide nicht — hatten entweder die Geburt oder die ersten Lebensjahre nicht überlebt. Eine ältere Schwester war zwölf Jahre alt geworden, bevor sie in einem harten Winter eine Lungenentzündung dahinraffte, Anton hatte nur vage Erinnerungen an sie, die um drei Jahre jüngere Rosa gar keine.

Nach dem sechsjährigen Schulbesuch erlernte Anton den Beruf des Müllers bei seinem Vater, Rosa half der Mutter im Haus und bei der kleinen Landwirtschaft, die aus zwei Kühen und der Schweinezucht bestand. Rosa war für den Kuhstall zuständig, während die Mutter sich vorwiegend um die Schweine kümmerte, sie wollte nicht, dass die Tochter nach Schweinestall stank.

Die meisten Bauern, die ihr Mehl in der Hofmühle mahlen ließen, konnten nicht bezahlen, sondern entrichteten die sogenannte Maut: Der Müller durfte — je nach Verhandlung — zehn bis fünfzehn Prozent des Getreides für sich behalten, damit wurden die Schweine gefüttert, deren Verkauf an den Metzger oder direkt an einen Gastwirt bares Geld einbrachte.

Manchmal half Rosa im Gasthof Zur Linde aus, die Wirtin war eine entfernte Verwandte ihres Vaters, sie schenkte den Gästen ein und trug das Essen auf. Die Arbeit im Gasthof machte sie gerne, vor allem dann, wenn die Gäste keine Einheimischen waren, sondern Durchreisende. Sie liebte es, diese zu beobachten, zu belauschen, alles an ihnen studierte sie, Kleider, Hüte, Schuhe und ihre Sprache. Durch sie erhielt Rosa einen Einblick in eine fremde aufregende Welt, ihre eigene erschien ihr langweilig und trostlos.

Der Lebenslauf der beiden Geschwister war vorgezeichnet. Anton war der zukünftige Pächter der Hofmühle und würde sie, so Gott wollte, vergrößern und später seinem Sohn übergeben. Rosas Zukunft lag — wie die jeder Frau — in der Ehe, wenn möglich mit einem Bauern oder einem gut gestellten Müller, der den Ruf genoss, nicht grob zu sein, darauf würden die Eltern bei der Wahl achten. Die Familie war zuversichtlich, das Mädchen hatte gute Aussichten, sie war fleißig und galt als Schönheit, bei jedem Gottesdienst schauten ihr die Männer nach. Schon mit siebzehn bekam sie den ersten Heiratsantrag, den die Eltern ablehnten. Auf dem Land hielten sich noch manche an das ungeschriebene Gesetz, eine Tochter nicht gar zu jung zu verheiraten, an die fünfzehn Schwangerschaften und Geburten innerhalb eines Ehelebens waren mehr als ausreichend. Insgeheim hegte Anton die Hoffnung, dass Rosa nie heiraten und zeitlebens bei ihm bleiben würde. Die meisten unverheirateten Frauen blieben in ihrem Elternhaus und dienten der Familie des Bruders, welcher den Besitz geerbt hatte und weiterführte. Genau das wünschte sich Anton, er konnte sich nicht vorstellen, auf seine Schwester zu verzichten.

Er war ihr sehr zugetan, sah in ihr etwas Besonderes. Ihre gerade Haltung und ihr unbekümmertes, jedoch anmutiges Benehmen erschienen ihm beinahe aristokratisch, er wusste, dass manche Frauen im Dorf sie als hochmütig bezeichneten. Ihn faszinierte ihre frische Art, das Unerwartete zu sagen oder zu tun, er liebte ihre Lebhaftigkeit, ihre leuchtenden Augen, wenn sie sich für etwas begeisterte. Neben ihr kam er sich gewöhnlich vor, derb, und vor allem hässlich, er war zwar groß und stattlich gebaut, hatte aber eine pockennarbige Haut und schlechte Zähne, eine Glatze zeichnete sich bereits ab.

Wenn sie alleine waren, las Rosa ihrem Bruder etwas aus den Büchern vor, die ihr der Schulmeister heimlich lieh. Dem Vater gefiel es nicht, seine Tochter so oft über ein Buch gebeugt zu sehen, seiner Meinung nach war zu viel Lektüre gefährlich für den einfachen, arbeitenden Menschen, weil es ihm Flausen in den Kopf setzte und ihn unzufrieden machte. Anton hörte gern von Abenteuern und fremden Ländern, er konnte ihr stundenlang zuhören, musste aber insgeheim seinem Vater Recht geben. Rosa vertraute ihm eines Tages ihre Träume an, die ihm vermessen erschienen: Sie wollte keinen Bauern heiraten, sie wollte in der Stadt leben. Ihn lockte das Stadtleben nicht, im Gegenteil, wenn er sich die vielen Leute vorstellte, bekam er Bauchschmerzen.

So ungern der Vater seine Tochter über ein Buch gebeugt sah, noch weniger passte es ihm, dass der Sohn so viel Zeit mit seiner Schwester verbrachte. Es kam sogar vor, dass Anton auf das sonntägliche Kartenspielen im Gasthaus verzichtete, um mit Rosa nach Hause zu spazieren oder, wenn das Wetter schön war, noch einen längeren Spaziergang zu machen.

»In deinem Alter solltest du anderen Mädchen nachstellen und nicht deiner Schwester«, sagte der Vater manchmal. Rosa lachte darüber, Anton war angewidert von der Andeutung.

Er erinnerte sich nicht daran, seine Eltern jemals fröhlich gesehen zu haben, ihr Wesen war erfüllt von Strenge und Gottesfurcht. Er brachte ihnen wenig Achtung entgegen und empfand auch keine Liebe für sie, nichtsdestotrotz konnte er sich aufgrund seiner Erziehung kein anderes als ein auf absoluter Unterordnung und höchstem Respekt beruhendes Verhältnis vorstellen. Er ging ihnen aus dem Weg. Ganz anders empfand er für seine Schwester, er suchte ihre Nähe, sie hatte eine Wirkung auf ihn, die er sich nicht erklären konnte, wenn sie bei ihm war, erschien ihm die Welt freundlicher. Die Beziehung seiner Schwester zu den Eltern war eine andere als seine; die Liebe, die sie der Mutter entgegenbrachte, gepaart mit Mitgefühl, war spürbar zwischen den beiden, dem Vater bot sie unverblümt die Stirn, wenn er missmutig oder grob mit ihr umsprang, Anton hätte nie den Mut dazu aufgebracht. Er liebte es, wenn sie nur mit dem Unterkleid neben ihm auf der Wiese stand, um das Heu zu wenden, und er ihre nackten, schweißnass glänzenden Schultern und Arme sehen konnte, ihre bloßen schlanken Füße.