Im Frühling 1828 begann Rosa — nicht einmal achtzehnjährig — als Dienstmädchen in einem großen Wiener Haushalt zu arbeiten.

Sie hatte die Chance genutzt, als sie eines Samstagabends in der Gaststube der Linde von einer älteren Frau angesprochen wurde, die sie geradeheraus nach ihrem Namen fragte und ihr im selben Atemzug ein Kompliment machte: »Wie ist dein Name, schönes Mädchen?«

Wie die meisten Anwesenden in der Gaststube schaute Rosa die ganze Zeit verstohlen zu ihr hinüber und spürte, dass sie ebenso beobachtet wurde. Die Frau war offensichtlich eine feine Dame aus der Stadt, sie trug ein in der Taille eng geschnürtes, dunkelgrünes Kleid aus Satin mit Puffärmeln und Rüschen am Rock. Begleitet wurde sie von drei einfach gekleideten Mädchen. Der Unterschied zwischen der Aufmachung der älteren Frau und der Mädchen war derart groß, dass die Gruppe beinahe grotesk wirkte. Die Tatsache, dass die Frau kerzengerade saß, mit Messer und Gabel und zierlichen Bewegungen nur wenige Bissen zu sich nahm, während die Mädchen gierig zulangten, verstärkte den Eindruck.

»Setz dich doch einen Augenblick zu uns«, sagte sie zu Rosa, als sie die Teller abräumte. Sobald Rosa Platz genommen hatte, erklärte die Frau, dass sie auf der Suche nach Arbeitskräften für reiche Wiener Familien war. Junge Frauen konnten ihr Glück als Dienstmädchen versuchen und, falls sie sich geschickt anstellten, zur Köchin, zum Kindermädchen oder gar zur Hauswirtschafterin ausgebildet werden, die doppelt so viel verdiente; junge Männer waren als Gärtner, Hausmeister, Portier, Stallknecht gefragt.

»Wärst du an einer solchen Stelle interessiert, mein Kind?«, fragte die Frau lauernd. »Du würdest viel Geld verdienen und Wien kennenlernen.«

Ein Bauer, der am Nebentisch saß und ihren Worten gelauscht hatte, spuckte verächtlich auf den Boden und sagte: »Sollen wir dem ausbeuterischen Gesindel auch noch unsere Kinder und Kindeskinder als halbe Sklaven überlassen? Schlimmer als jede Kupplerin bist du! Verschwind von hier!«

In einem der Gastzimmer, welches die Frau, sie hieß Martha Böhm, gemietet hatte, wurde Rosa von allen Seiten begutachtet. Sie musste ihre Lippen kräftig in die Höhe ziehen, damit ihre Zähne betrachtet werden konnten, dabei blies ihr die Frau ihren schlechten Atem ins Gesicht. Sie musste den Rock heben, um ihre Beine zu zeigen, die nicht krumm sein sollten, ihre Haare öffnen, die nach Läusen durchsucht wurden. Rosa wurde über ihre Familie ausgefragt, welchen Beruf ihr Vater ausübte, welche Krankheiten sie bisher gehabt hatte, über bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten im Haushalt. Sogar die Frage, ob sie bereits bei einem Mann gelegen war, musste sie über sich ergehen lassen.

»Nein!«, rief Rosa entrüstet aus, unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und errötete. Eine Unverschämtheit, mich Derartiges zu fragen, was fällt der Frau ein?, dachte sie zornig.

Zum Schluss ließ man sie ein paar Zeilen aus einem Buch vorlesen und die erste Strophe eines Kinderliedes vorsingen, mit allem war die Böhm höchst zufrieden. Und sie dankte Gott für den glücklichen Zufall, dass sie ausgerechnet vor diesem Gasthof Halt gemacht hatte, um die Nacht zu verbringen. Welch eine liebreizende Schönheit und obendrein noch klug, dachte sie. Das Mädchen entsprach genau dem Typ, den sie für eine bestimmte Herrschaft suchte. Großgewachsen sollte sie sein, nicht dürr, mit geradem Rücken, symmetrisch gefälligen Gesichtszügen, nicht zu hellem Teint, dichtem dunklen Haar, wachen Augen, mit einer angenehmen Stimme, des Lesens mächtig, vom Wesen klug, temperamentvoll, fröhlich, jedoch nicht zu rebellisch, war im Brief gestanden, welcher ihr vom Kutscher überreicht worden war. Martha Böhm hatte nicht schlecht gestaunt, als sie gesehen hatte, dass er von der Freiin von Reischach persönlich verfasst worden war, üblicherweise war das Anstellen von Dienstpersonal Angelegenheit der Hauswirtschafterin. Sie nahm an, dass die neue Unschuld vom Lande neben ihrer Arbeit vor allem die Bedürfnisse des Sohnes der Herrschaften befriedigen sollte. So etwas war nicht selten in den höchsten Kreisen Wiens, Affären mit Dienstmädchen stellten, was Krankheiten betraf oder gar Erpressungen, keine Gefahr dar. Nicht nur in adeligen, auch in großbürgerlichen Haushalten unterhielten junge Herren Liebesbeziehungen zu Dienstmädchen, das Ganze wurde oftmals regelrecht arrangiert von den Eltern, Martha Böhm hatte bereits viele solcher Mädchen vermittelt. Seit mehr als zehn Jahren war sie im Geschäft und bekannt dafür, dass sie diskret war und ein gutes Händchen hatte, wenn es darum ging, zaghafte Schönheiten in den hintersten Dörfern aufzuspüren, um genau zu sein, war sie auf dem Gebiet die Beste. Mit der Köchin des Hauses Reischach war sie befreundet, weshalb sie einiges über den einzigen Sohn wusste. Er litt an einer seltenen unheilbaren Krankheit, doch niemand vom Personal wusste Genaueres darüber. Die Familie war bemüht, die Krankheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen, weshalb man mit allen Mitteln versuchte, den jungen Mann viel im Haus zu halten.

Beim Abschied drückte die Böhm verbindlich Rosas Hand und sagte eindringlich, wobei sie ihre Worte sorgfältig wählte, um das Mädchen für sich zu gewinnen: »Ich habe einen hervorragenden Posten als Stubenmädchen für dich und würde dich gerne auf der Stelle nach Wien mitnehmen. Was möchtest du werden? Köchin? Hauswirtschafterin? Kindermädchen und später Gouvernante? Du kannst dich hocharbeiten. Die Herrschaft, die mich beauftragt hat, wird auf deine Wünsche eingehen. Sie sucht genau jemanden wie dich. Sie ist sehr reich und behandelt ihre Angestellten gut, besser als viele andere Familien, vor allem bezahlen sie besser. Du bekommst ein sauberes, warmes Zimmer und reichlich zu essen, vermutlich bekommst du dort mehr zu essen als in deinem Elternhaus. In zwei Tagen komme ich aus Haslach zurück, ich habe in der Weberei zu tun. Wenn du bereit bist, kannst du mitkommen. Selbstverständlich komme ich für alle Auslagen auf, die du während der Fahrt hast.«

Sie winkte dem Mädchen freundlich nach und dachte: Für die schöne Müllerstochter kann ich eine Gebühr verlangen, die sich gewaschen hat.

Schon bei der ersten Andeutung, die Rosa im Kreis ihrer Familie machte, wusste sie, sie würde von ihrem Vater nie die Erlaubnis bekommen. Dieser wurde äußerst zornig, er verpasste ihr eine Ohrfeige und untersagte ihr, je wieder davon zu reden.

Sie machte sich in der Nacht auf den Weg. Bevor sie aufbrach, schrieb sie ihrer Familie einen Abschiedsbrief, in dem sie erklärte, sie wolle nicht im Dorf bleiben, um ein derart armseliges Leben zu führen, wie es alle Frauen taten, die sie kannte. Ich werde fleißig arbeiten, so viel Geld wie möglich sparen und später in Wien einen gutherzigen Mann heiraten, am liebsten wäre mir ein Lehrer. Sie überlegte, Anton in ihre Pläne einzuweihen und sich von ihm zu verabschieden, doch sie traute ihm nicht, er würde vermutlich den Vater warnen, der sie daraufhin eingesperrt hätte.

Heimlich lief sie zu der vereinbarten Stelle, welche ihr die Böhm genannt hatte. Mittlerweile wurde diese von vier Mädchen begleitet, allesamt Töchter von kleinen Bauern, wie Rosa erfuhr. Sie hatte noch nie eine Kutsche von innen gesehen, in Linz bestieg sie zum ersten Mal ein Schiff. Die ganze Zeit über wurden die Mädchen belehrt, wie sie sich gegenüber ihren Arbeitgebern zu benehmen hatten. Sie studierten ein, wann sie das Wort an die Herrschaften richten durften, wie sie ihre Dienstgeber anzusprechen hatten, wohin sie dabei ihre Blicke wendeten, wie sie ein Zimmer betraten und es wieder verließen, wie der vollendete Knicks aussah.

Die Mädchen waren ausgelassen und benahmen sich wie kleine Kinder, so glücklich fühlten sie sich, der Enge ihres Weilers, ihres Dorfes entkommen zu sein, sie waren deshalb nicht besonders aufmerksam. Die Böhm hörte schließlich auf zu dozieren, und weil sie von einem plötzlich aufkeimenden Mitleid heimgesucht wurde — neuerdings erst hatte sie festgestellt, dass sie dagegen nicht gefeit war —, öffnete sie seufzend ihre große Tasche. Sie holte die Linzer Torte heraus, die sie einem Konditor an seinem Stand abgekauft hatte, bevor sie das Schiff betreten hatten, und gab jedem Mädchen ein großes Stück. Sie schaute ihnen dabei zu, wie sie kauten und schmatzten und lachten. Die fünf waren dabei, ihr bedauernswertes Schicksal gegen ein anderes bedauernswertes einzutauschen, denn so oder so war es ein jämmerliches Leben. Doch was konnte sie schon dagegen ausrichten, und schließlich musste sie irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen.

Rosas Vater raste vor Wut. Weit weg sollte die einzige Tochter die Nachtschüssel irgendwelcher feiner Pinkel leeren und waschen und das vielleicht sogar ihr ganzes Leben lang. Der Gedanke daran war für ihn unerträglich, schlimmer noch als die Vorstellung, Rosa wäre in seinem Haus eine alte Jungfer geworden. Er stürmte in die Linde und stellte seine Kusine lautstark zur Rede, die nicht wusste, wie ihr geschah.

»Gib es zu, du hast das Treffen zwischen Rosa und diesem — diesem Wiener Weibsbild arrangiert!«, schrie er wie von Sinnen.

Hinter dem Tresen begann er alle Gläser auf den Boden zu fegen. Die Gastwirtin musste ihren Mann zu Hilfe holen, der den Müller aus der Gaststube warf und ihm drohte: Nie wieder möge er sich blicken lassen.

Anton war tief gekränkt, seine Schwester hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Wenn sie es getan hätte, er hätte mit Sicherheit den Vater geweckt. Sie wäre wütend auf ihn gewesen, doch hätte sie sich wieder beruhigt und eingesehen, dass es letztendlich das Beste für sie war, in der Heimat zu bleiben, in der Nähe der Familie. An dem Morgen, an dem ihr Verschwinden bemerkt wurde, packte ihn ein Entsetzen, das ihn lähmte, er war also allein mit den wortkargen, abgestumpften Eltern. Wochenlang war er reizbar und kaum ansprechbar, später begann er sie unsäglich zu vermissen, den Eltern gegenüber gab er es nicht zu.

Die Mutter war die Einzige, die weder wütend noch gekränkt war, sie freute sich für ihre Tochter, dass sie dem harten Leben auf dem Land entkommen war, doch nie hätte sie gewagt, dies laut auszusprechen. Fast ein bisschen Schadenfreude empfand sie ihrem Mann gegenüber und auch all den Männern gegenüber, die ihrer schönen Tochter mit lüsternen Blicken nachgeschaut hatten. Meine kluge Rosa hat euch ein Schnippchen geschlagen, keiner von euch wird sie bekommen, um sie schuften zu lassen und ihr wieder und wieder einen dicken Bauch zu machen, dachte sie hämisch. Sie wünschte ihrer Tochter, dass ihr Traum wahr wurde, dass die Arbeit nicht zu hart war und sie nach einigen Jahren Dienst einen lieben Mann fand. Aber um Himmels willen keinen Lehrer, Lehrer sind im Kopf zwar vollgestopft mit Wissen, verstehen aber die einfachsten Dinge im Leben nicht, dachte sie, sie sind zu weich und zu nachgiebig, um sich durchzusetzen, gegenüber allem und jedem. Außerdem nagen sie am Hungertuch, am besten ist, Rosa heiratet einen Handwerker, einen Tapezierer oder Schneider, am besten einen Bäcker, ein Bäcker hat weiche Hände, vielleicht sogar einen, der sein eigenes Geschäft besitzt, das den kaiserlichen Hof beliefert. Immer rosiger malte sich die Mutter die Zukunft der Tochter aus. Und ein ganz klein wenig schwang auch Neid mit: Liebend gern wäre sie einmal in ihrem Leben schön gekleidet in einem Kaffeehaus gesessen, um dort Kaffee mit Milchschaum zu trinken und eine duftende Nussschnecke zu verzehren.