Am 14. Mai 1830, gegen zwei Uhr früh, brachte Rosa auf einem kleinen Bauernhof am Stadtrand von Wien einen Buben zur Welt.
Am Abend zuvor hatten die Wehen eingesetzt, gleichzeitig mit einem heftigen Gewitter, dennoch tauchte kurze Zeit darauf eine Hebamme in ihrer Kammer auf, in der sie angstvoll auf dem Bett lag, zitternd vor dem, was sie erwartete. Bei ihrem Eintreten wunderte sich Rosa darüber, warum sie nicht nässer geworden war.
Die Hebamme war eine stämmige Frau um die sechzig, sie roch nach Schweiß, strahlte jedoch Ruhe und Zuversicht aus, die ganze Zeit über redete sie der Wöchnerin gut zu, manchmal nahm sie sogar ihre Hand und streichelte sie. Rosa durfte sie mit ihrem Vornamen anreden: Frau Therese. Heilfroh war sie über ihre Anwesenheit, sie hatte befürchtet, die Niederkunft allein in der kleinen Kammer durchstehen zu müssen, in welchem Ausmaß ihre Gastgeberin, die Bäuerin, zu helfen gedachte, wusste sie nicht, denn diese war seit ihrer Ankunft zehn Tage zuvor unnahbar und unfreundlich gewesen. Sie war eine hagere Person, mit gekrümmter Haltung und langen hängenden Armen, die Stirn faltendurchzogen, obwohl sie keine vierzig war.
»Geh in deiner Kammer auf und ab«, hatte sie nach dem Einsetzen der Wehen zu Rosa gesagt, »das beschleunigt die Sache. Und wenn du nicht mehr kannst, leg dich ins Bett.«
Seit dem frühen Tod ihres Mannes nahm die Bäuerin, um sich und ihre drei Kinder über Wasser zu halten, hochschwangere Dienstbotinnen auf und erhielt dafür Geld von deren Herrschaften. Die Frauen konnten in ihrem Haus entbinden — mit oder ohne Hebamme, je nachdem, ob die Herrschaft zusätzlich dafür bezahlen wollte — und gingen am Tag darauf zurück an ihre Arbeit. Das Kind blieb in der Obhut der Witwe, die eine Amme und später einen geeigneten Platz suchte. Von der Höhe der Summe, die der leibliche Vater für das Großziehen seines Sprösslings gewillt war zu zahlen, hing es ab, wo das Kind letztendlich landete: in einer gutsituierten, liebevollen Familie oder in einer ärmlichen, die auf das Geld angewiesen war, in der es jedoch rau und grob zuging — dazwischen gab es unzählige Abstufungen —, in einem nonnengeführten Waisenheim oder gar im Findelhaus.
Rosa lag halb aufgerichtet im schmalen Bett in der engen Kammer und presste aus Leibeskräften, wenn Frau Therese es ihr befahl, dabei versuchte sie so leise wie möglich zu sein, sie wollte die Nachtruhe der anderen Hofbewohner nicht stören. Die Person, die ihr am meisten in den Sinn kam in diesen Stunden, war nicht der Vater des Kindes, sondern ihr eigener, sie stellte sich vor, wie er seine Haare raufte, fluchte und schimpfte. Alles verlief ohne Schwierigkeiten, zum Schluss sagte die Hebamme: »Ich würd mir wünschen, dass es bei allen Frauen so leicht geht wie bei dir.«
Dabei hielt sie das nackte krähende Kind in die Höhe, und Rosa spürte große Erleichterung. Sie richtete ein kurzes Dankesgebet himmelwärts, ein Sohn stellte doch einen größeren Trumpf als eine Tochter dar, sie war überzeugt, ihre Position war durch ihn gestärkter. Einen Tag darauf tauchte ein Geistlicher in ihrer Kammer auf und sagte ohne Umschweife: »Ich bin hier, um deinen Sohn zu taufen.«
Der Kleine erhielt den Namen Theodor, offenbar hatte der Mann diesbezüglich Anweisungen erhalten, Rosa wurde nicht lange gefragt, ob sie etwas dagegen hätte. Die Taufe fand in der Küche statt, als Pate stellte sich aus freien Stücken der jüngste der zwei Stallknechte zur Verfügung. In der ersten Zeit kam die Hebamme jeden zweiten Tag vorbei, um nachzusehen, ob Rosas Brustwarzen gesund waren und sich nicht entzündeten, ob das Kind genügend trank. Als der Bub sechs Wochen alt war, besuchte sein Vater sie, er stand neben dem Bett — Rosa war dabei, dem Kleinen die Brust zu geben — und schaute wortlos auf Mutter und Kind hinab. Sie griff nach seiner Hand, er entzog sie ihr und verließ die Kammer, ein zweites Mal kam er nicht.
Ihr war im Vorhinein zugesichert worden, ein halbes Jahr lang bei ihrem Kind bleiben zu dürfen. In diesem Punkt hatte sich der junge Reischach seinen Eltern gegenüber durchgesetzt, was beinahe an ein Wunder grenzte, denn er war zumeist Wachs in ihren Händen, besonders in denen der Freiin. Diese wusste, wie sie ihn zu nehmen hatte, sie hörte nicht auf, begütigend und verständnisvoll auf ihn einzureden, bis er wie ein Lamm zu allem nickte, wohingegen er auf die missbilligenden Blicke und Wutausbrüche seines Vaters oftmals trotzig reagierte, indem er aufstand und den Raum verließ. Sie wusste, dass der alte Reischach seinen Sohn angebrüllt hatte: »Es tut einer jungen Mutter nicht gut, wenn sie eine zu starke Bindung zu ihrem Kind aufbaut, das sie ohnehin auf dem Hof zurücklassen muss. Verschwendest du überhaupt einen Gedanken an das arme Ding?«
Dasselbe sprach die Bäuerin aus, nachdem sie die Nachricht der Freiin gelesen hatte, entsetzt schüttelte sie den Kopf.
»Sowas hab ich noch nie erlebt«, murmelte sie und sagte zu ihr: »Wenn du sofort nach der Geburt gehst, wird es leichter für dich sein. Am besten ist, du schaust das Kind gar nicht an.«
Im Laufe des Sommers taute die Frau auf, sie wurde freundlicher und zugänglicher, an den Abenden suchte sie das Gespräch mit Rosa, sie erzählte von ihrem Mann, den sie sehr geschätzt hatte, ihren Sorgen, den vielen Frauen, die bereits in ihrem Haus entbunden hatten. Mehrmals schloss sie seufzend mit den Worten: »Weißt du überhaupt, wie großzügig deine Herrschaft ist?«
Rosa wusste es, sie hatte genug gehört, kannte haarsträubende Geschichten von Dienstbotinnen aus anderen Häusern, die man auf die Straße gejagt hatte, weil sie in anderen Umständen waren, die im Armenhaus gebären mussten, von Säuglingen und kleinen Kindern, die im Findelhaus starben.
Es war ein heißer Sommer, Rosa saß gern im Freien, las — Theodor Johann hatte ihr einige Bücher mitgegeben — oder schaute gedankenverloren in die Weite. Weil sie sich dort unbeobachtet fühlte und es schattig war, saß sie am liebsten auf der Bank an der hinteren Stallmauer, manchmal setzte sich der junge Stallknecht zu ihr. Von ihm erfuhr sie, dass er es gewesen war, der im strömenden Regen die Hebamme abgeholt hatte. Er erzählte ihr von seinen Plänen, er wollte nach Amerika auswandern, seine eigene Farm bewirtschaften, eisern sparte er für die Schiffspassage.
Sechs Monate nach der Niederkunft kehrte Rosa in das Palais der Reischachs zurück, die schriftliche Aufforderung dazu hatte ihr der Kutscher eine Woche zuvor mit spitzen Fingern und ohne ein Wort überreicht. Von ihrer Gastgeberin erfuhr sie, dass die Freiin angefragt habe, ob das Kind vorläufig bei ihr bleiben könne, und sie zugesagt habe, Rosas Hand tätschelnd sagte sie: »Ich passe gut auf ihn auf.«
Da sie sich verlief, brauchte sie drei anstatt zwei Stunden, erst gegen Mittag kam sie völlig durchfroren an, das Personal verhielt sich ihr gegenüber abweisend, lediglich Agnezka stellte ihr eine warme Suppe hin und reichte ihr ein Taschentuch, als sie zu weinen begann.
Rosa nahm ihre Arbeit wieder auf, schrubbte und putzte wie vor ihrer Niederkunft, nur dass sie für den zweiten Stock zuständig war und nicht für den ersten, in dem Theodor Johanns Wohnung lag — dieser ging ihr den ganzen Winter lang aus dem Weg —, und dass sie sich in den Nächten in den Schlaf weinte. Ihren Sohn besuchte sie an den Sonntagen, sie hatte ganztags frei und nicht wie die anderen Angestellten nur wenige Stunden am Nachmittag, das hatte der junge Freiherr gegenüber seiner Mutter durchsetzen können. Die Dienstboten waren neidisch und mieden Rosa.
Am ersten Geburtstag saß Rosa mit ihrem Sohn in der Wiese hinter dem Hof auf einer Decke, der Kleine spielte mit Holzklötzen, als überraschend der junge Reischach um die Hausecke gebogen kam, sich auf die Bank an der Mauer setzte und die beiden zu zeichnen begann. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, fühlte sich wie in den Wochen nach der ersten Berührung, der junge schüchterne Mann war ihr permanent nachgestiegen, um ihr Komplimente zu machen, bis er sich eines Tages — sie war beim Schrubben des Fußbodens — zu ihr beugte, sie küsste und damit in höchsten innerlichen Aufruhr versetzte. Daraufhin nahm er sie beinahe täglich an der Hand, ganz gleich welche Tätigkeit sie ausführte, um sie in seine Wohnung zu ziehen, wo er sie zuerst langsam auszog, um sie andächtig zu betrachten, bevor er sie aufforderte, sich aufs Bett zu legen.
Auf der Heimfahrt saß sie ihm in der Kutsche gegenüber, sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, und schaute an ihm vorbei aus dem Fenster, während ihr Herz bis in den Hals klopfte. Er entschuldigte sich für sein abweisendes Verhalten in den letzten Monaten, er habe ihr Unverzeihliches angetan, sagte er. In ihrer Brust bahnte sich ein Schluchzen seinen Weg nach oben, sie konnte es nicht unterdrücken, sosehr sie auch dagegen ankämpfte, bis es aus ihr herausbrach, mächtig und gewaltig, und er sie in seine Arme nahm.
Wieder begann sie sich Hoffnungen zu machen. Sie war nicht naiv, sie wusste, dass Theodor Johann sie nie ehelichen würde, nur im ersten Jahr war sie so vermessen gewesen, in ihrer immensen Verliebtheit davon zu träumen. Aber sie hatte von Liebschaften gehört, die von Bestand waren, oft ein Leben lang hielten, die Geliebte bekam eine angemessene Wohnung finanziert und erhielt obendrein eine monatliche Apanage, die höher war als das jährliche Gehalt eines Dienstmädchens. Theodor Johann machte diesbezüglich immer wieder Andeutungen, er hätte gerne eine zweite Wohnung außerhalb des Palais seiner Eltern gehabt, bewohnt von ihr, dem geliebten Menschen, bei dem er jederzeit Zuflucht finden konnte, selbst wenn er später gezwungen sein sollte, doch zu heiraten. Ihr ganzes Denken und Sehnen war auf diese Wohnung gerichtet — sie stellte sich die einzelnen Räume bereits im Geiste vor —, in der sie ihren Sohn selbst erziehen konnte, in der sie frei und unabhängig sein würde, niemandem Rechenschaft schuldig und obendrein eine wichtige Rolle im Leben des Mannes spielend, ohne den sie nicht sein wollte. Sie war überzeugt, der junge Freiherr würde letztendlich den Mut dafür aufbringen, wenn sie ihm nur unermüdlich ihre Liebe bewies und all das tat, was er von ihr verlangte.
Theodor Johann war krank, er litt an der sogenannten Fallsucht, starke Krampfanfälle suchten ihn in unregelmäßigen Abständen heim, nach einem Anfall, äußerst erschöpft, machte er Versprechungen, später wurde sie vertröstet. Sie nahm an, dass er Angst hatte vor der finanziellen Unsicherheit, denn sein Vater ließ dem kranken Sohn nur eine kleine monatliche Apanage zukommen, welche für sie ein Vermögen darstellte, für ihn jedoch beschämend war. Über diese Mutmaßung schüttelte Agnezka den Kopf.
»Am Geld liegt es nicht«, sagte sie. »Du bist schon drei Jahre in Wien, aber viel hast du noch nicht verstanden. Ein Freiherr muss einem Dienstmädchen keine Wohnung zahlen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, einer Bürgerlichen ja, aber nicht unsereins. Es ist besser, du verabschiedest dich von deinen Träumen, bevor du ganz vor die Hunde gehst. Du bist noch jung, such dir einen Ehemann und kündig die Stelle.«
Allmählich kühlte die Beziehung des jungen Freiherrn zu ihr ab, und sie litt darunter. Je älter er wurde, umso fordernder und forscher wurde sein Verhalten, der schüchterne stille Mann wurde zunehmend launisch, unberechenbar, mitunter auch aggressiv. Er begann einem anderen — neuen — Dienstmädchen nachzustellen, später einer stummen Küchenhilfe, nicht einmal sechzehnjährig, was er außerhalb des Palais trieb, wusste Rosa nicht. Aber da immer wieder sie es war, die Theodor Johann — nach Unterbrechungen — an der Hand packte und mit sich zog, gab sie die Hoffnung auf ein besseres Leben in einer eigenen Wohnung nicht auf. Und weil die Reischachs Theos Unterhalt bezahlten, hätte sie nicht gewagt zu kündigen, so oder so war sie durch ihren Sohn an die Familie gebunden.
Als ihr Sohn acht war, heiratete Theodor Johann eine Gräfin, die seine Mutter für ihn ausgesucht hatte, lange hatte er sich dagegen gewehrt. Man erwartete vom einzigen Sohn, der aufgrund seiner schweren Erkrankung eine Enttäuschung für die Familie darstellte, zumindest eheliche — männliche — Nachkommen, damit die Linie nicht ausstarb. Mit dem Dienstmädchen Rosa hatte der junge Freiherr bewiesen, dass er in der Lage war, gesunde Kinder zu zeugen.
Sie erfuhr, dass sie einzig und allein zu diesem Zweck eingestellt worden war, Theodor Johann selbst war es, der nach ein paar Gläsern Wein launig alles ausplauderte, wenige Tage vor seiner Trauung: Rosa sollte dem jungen Mann den Gang in die Bordelle ersparen — die Gefahr, sich eine Geschlechtskrankheit zu holen oder auch erpresst zu werden, war sehr groß — und ein Kind von ihm bekommen. Rosa war von einer Stellenvermittlerin gezielt für ihn ausgesucht worden, man hatte ihr im Vorhinein Anweisungen gegeben, wie das Mädchen auszusehen hatte. Weil man nicht unmenschlich sein wollte und weil der junge Mann darauf bestand — er war tatsächlich eine Zeitlang sehr in sie vernarrt gewesen —, jagte man sie nach der Geburt ihres Kindes nicht auf die Straße.
»Und jetzt liegt es an meinem Vater, warum du immer noch hier bist«, warf er ihr an den Kopf, »ich bin deiner mehr als überdrüssig. Und meiner Mutter hast du es zu verdanken, dass es deinem Kind gut geht. Sie bezahlt dafür dieser grantigen Bohnenstange von Bäuerin ein fürstliches Gehalt.«
Rosa lernte einen Lehrer kennen, er unterrichtete Musik in einem Gymnasium, hatte eine gute Singstimme und interessierte sich in seiner Freizeit für Weinanbau. Monatelang traf sie ihn heimlich, schlich nach Dienstschluss aus dem Haus, um ihn für eine Stunde zu sehen, eilte an den Sonntagabenden — nachdem sie Theo verlassen hatte — zum vereinbarten Treffpunkt. Schließlich erzählte sie ihm von ihrem Sohn, er wollte sie nicht mehr sehen und löste die Verlobung. Rosa, die den Mann sehr gern hatte, sich sehnlichst weitere Kinder, ein eigenes Heim wünschte, brach zusammen und brauchte lange, um sich zu erholen.
Der zwölfjährige Theo übersiedelte in ein Knabeninternat, aufgrund der guten Noten hatten seine Großeltern entschieden, ihn ein Gymnasium besuchen zu lassen. Rosa war glücklich darüber, sie wünschte sich nichts mehr, als dass ihren Sohn eine bessere Zukunft erwartete, sie träumte davon, dass Theo ein Medizinstudium absolvierte. Eines Tages würde er seine eigene Ordination haben, angesehen sein, und sie, seine alte Mutter, würde in seinem Haus leben und mithelfen, die Enkelkinder großzuziehen. Er war ein aufgeweckter Junge, der ihr manchmal die Besuchsstunden schwer machte mit seinen bohrenden neugierigen Fragen, vorlaut und doch charmant, groß für sein Alter, ihr sehr ähnlich.
Auch sie wurde von der Herrschaft gut behandelt, sie stieg zur rechten Hand der Hauswirtschafterin auf, und als diese zu alt war, um ihren Posten verantwortungsvoll auszuüben, bekleidete sie das Amt selbst, das gesamte weibliche Dienstpersonal unterstand ihr. Mittlerweile hatte sie die Mitte dreißig überschritten, sie gab es auf, sich ein eigenes Leben aufbauen zu wollen, resignierte und widmete ihr ganzes Denken, Fühlen und Sein dem Wohlbefinden der Herrschaft. Sie arbeitete nicht nur für die Familie, es war ihre Familie. Ihre Loyalität kannte selbst dann keine Grenzen, wenn Theodor Johann, der seine Wohnung im Palais der Eltern behalten hatte und immer wieder für eine Nacht oder mehrere zurückkehrte — seine Ehefrau warf ihn mehrmals hinaus —, sie packte und in seine Wohnung zerrte, wo er abscheuliche Dinge mit ihr anstellte. Sie stand vom Bett auf, zog ihre Dienstbotentracht an, straffte ihren Rücken, fragte den Freiherrn, ob er vor seiner Nachtruhe noch etwas benötigte, und verließ das Schlafzimmer. Wenn am nächsten Tag in ihrem Gesicht blaue Flecken sichtbar waren, erklärte sie diese mit einem kleinen Unfall. Einmal rastete der alte Reischach beim Frühstück aus: »Krankheit hin oder her, mein Sohn ist eine Kanaille.«
In der Schule wurde ihr Sohn mit revolutionärem Gedankengut konfrontiert, welches ihm ein Lehrer und Mitschüler — vorwiegend aus bürgerlichen und großbäuerlichen Familien — näherbrachten. Seine innige Beziehung zu seiner Mutter veränderte sich, er begann sie in einem anderen Licht zu sehen und ihr Verhalten zu verurteilen. Er verlangte von seiner Mutter, dass sie radikal mit ihrer Herrschaft brach, aus dem Palais auszog und sich eine neue Arbeit suchte, eine, die nicht von Abhängigkeit durch die ausbeuterische Schicht geprägt war. Rosa weigerte sich, seinen Vorschlägen nachzukommen, sie wollte nicht in einem Waisenhaus, Krankenhaus oder Armenhaus arbeiten, mit dem geringen Lohn hätte sie sich kaum die Miete für eine zugige Dachkammer leisten können. Mit harten Worten wütete er gegen sie, er warf ihr äußerst verletzende Dinge an den Kopf, er warf ihr Bequemlichkeit vor und konnte nicht erkennen, dass es ihr vor allem um seine Ausbildung ging, welche die alten Reischachs bezahlten.
Im Dezember 1847 starb Theodor Johann, er war einundvierzig Jahre alt, es war ihm schon länger schlecht gegangen, er hatte zwei Schlaganfälle hintereinander erlitten. Rosa trauerte — trotz aller Widrigkeiten war er der einzige Mann gewesen, den sie je geliebt hatte —, ihre Trauer widerte Theo an, seiner Meinung nach konnte Rosa sich nicht eingestehen, dass der Mann und seine Familie sie lediglich ausgenutzt hatten. Rosa beteuerte hingegen, dass die Reischachs sie wertschätzten und das stets gezeigt hatten, indem sie ihr Privilegien gewährten, von denen andere Dienstboten nur träumen konnten, sie bewohnte eine eigene kleine Wohnung im Palais und hatte eineinhalb Tage in der Woche frei.
Ab März 1848 war Theo nicht nur ein glühender Anhänger der Revolution, der die privilegierte aristokratische Schicht aus tiefstem Herzen hasste, er war unter den ersten Schülern, die mit den Revolutionären durch die Straßen marschierten, Häuser besetzten, bewaffnet auf Barrikaden standen. Rosa war entsetzt, ihr Traum, ihn eines Tages als Arzt zu sehen, war jahrelang das Einzige gewesen, was sie am Leben gehalten hatte, sie stand Todesängste um ihn aus.
Nichts wie weg wollte sie aus der Stadt, die seit Monaten ein Pulverfass war, ihre Herrschaft hielt sich bereits seit längerem im Salzkammergut auf, einzig der alte Reischach war geblieben. Als sie ihm ihren Entschluss, ins Mühlviertel zurückzugehen, mitteilte, drückte er ihr eine Schatulle mit mehreren tausend Gulden in die Hand, ob aus schlechtem Gewissen oder aus Angst, von den Revolutionären massakriert zu werden, wusste sie nicht. Sie suchte Theo auf — das erste Treffen nach Monaten — und bat ihn, mit ihr zu kommen, ein neues Leben zu beginnen, zu lernen, was es hieß, harte Arbeit zu verrichten, mit einer Familie zusammenzuleben und Verantwortung für diese zu übernehmen. Er lachte sie nur aus, und sie warf ihm an den Kopf, ein verwöhnter Bengel zu sein, der von ihr und den Reischachs nur profitiert habe, er habe nie Mühsal und Entbehrung erfahren. Es kam zu einem heftigen Streit.
»Ich will dich nie wiedersehen!«, schrie er sie an. »Ich bleibe hier und kämpfe bis zum bitteren Ende, und falls die Revolution scheitern sollte, werde ich nach Amerika auswandern!«
Wenige Tage darauf, es war Ende Oktober, nahmen die kaisertreuen Truppen die Stadt unter Beschuss und eroberten sie zurück, mehr als zweitausend Leute ließen ihr Leben, hunderte wurden inhaftiert und harrten ihrer standrechtlichen Erschießung, so auch der achtzehnjährige Gymnasialschüler Theodor Brugger. Rosa erhielt einen kurzen Abschiedsbrief ihres Sohnes, es war ihm gelungen, diesen aus dem Kerker zu schmuggeln. Es wurde ihr nicht erlaubt, die Leiche ihres Sohnes zu sehen und ihn bestatten zu lassen, die Gefängnisleitung verjagte alle Angehörigen, als wären sie räudige Hunde.
Wenn sie im Laufe ihres Alterns an Theo dachte, an die zwei Jahrzehnte in Wien, an den jungen Freiherrn — den einzigen Geliebten in ihrem Leben —, an den Lehrer und seine verschwitzten Hände, mit denen er im Gastgarten die ihren umklammerte, passierte es ihr immer häufiger, dass sich vor allem ein Sommer aus dem Wust der Erinnerungen herausschälte.
Sie saß auf der Bank an der Stallmauer des kleinen Hofes, der Bub schlief in einem Wäschekorb, der vor ihr in der Wiese stand, sodass sie ihn jederzeit im Blick hatte. Der junge Stallknecht, der sich ohne zu zögern als Taufpate zur Verfügung gestellt hatte, schaute manchmal bei ihr vorbei, anfangs hockte er sich neben den Korb, betrachtete das schlafende Kind und schaute zu ihr hoch, später begann er sich neben sie auf die Bank zu setzen. Er war es gewesen, der bei strömendem Regen die Hebamme mit überdachtem Fuhrwerk abgeholt hatte. Stolz zeigte er ihr in der Scheune das Gestell mit der Plane, das bei Schlechtwetter auf das Fuhrwerk gestellt und festgezurrt wurde, er hatte es eigenhändig gebaut.
»In Amerika sind viele solcher Fahrzeuge unterwegs«, sagte er, »ich habe davon in einem Buch gelesen und auch eine Zeichnung gesehen.«
Es war offensichtlich, dass er sie anhimmelte. Er hieß Georg, war ein halbes Jahr älter als sie und stammte aus einer kinderreichen Kleinhäuslerfamilie in der Nähe von Wien. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr arbeitete er als Stallknecht auf dem Hof, der verstorbene Hausherr war ein entfernter Verwandter von ihm gewesen. Sein Wunsch war, nach Amerika, Missouri, auszuwandern, er erzählte Rosa von seinen Plänen, entweder wollte er seine eigene Farm bewirtschaften oder wendige Planwagen herstellen.
»Oder beides«, sagte er achselzuckend, »das entscheide ich dann drüben. Auf alle Fälle habe ich viel vor.«
Er war bereits dabei, die englische Sprache zu lernen, hatte ein altes zerschlissenes Buch von einem Lehrer geschenkt bekommen, und weil sie neugierig war, nannte er einige Wörter.
»In Amerika wärst du Rose«, er sprach es langsam aus, es klang zart, »und das bedeutet nicht wie bei uns die Farbe, sondern die Blume.«
Im Oktober fragte er sie zum ersten Mal, ob sie mit ihm kommen wolle, er werde ihrem Kind ein guter Vater sein, fügte er hinzu.
»Ist das ein Heiratsantrag?«, fragte sie lachend.
Er nickte feierlich. »Du hast mir vom ersten Tag an gefallen. Lass uns heiraten und gemeinsam auswandern, Rosa. Ich weiß, dass die erste Zeit nicht leicht sein wird, aber ich werde hart arbeiten und etwas für uns aufbauen, für deinen Sohn, der dann unserer ist, und für unsere weiteren Kinder. Und ich werde dich immer gut behandeln, das verspreche ich dir.«
Er musste die Worte tagelang vorbereitet haben. Beim dritten Mal erteilte sie ihm hochmütig eine Abfuhr.
»Ich erwarte mir etwas anderes vom Leben, als in der Fremde die Frau eines kleinen Bauern zu sein«, warf sie dem jungen Mann an den Kopf, er schaute sie überrascht an.
Nachdem er sich gefasst hatte, sagte er kopfschüttelnd, es klang weder beleidigt noch verächtlich: »Du glaubst, du bist was Besseres, weil du dir von so einem Gockel ein Kind hast machen lassen.«
Kurz bevor sie den Hof verließ, machte er sich auf nach Triest, beim Abschied drückte er ihr fest die Hand und wünschte ihr alles Gute.
Jahre später — Theodor Johann war bereits verheiratet und hatte nie die ersehnte Wohnung für sie und den gemeinsamen Sohn gemietet, ihr Sohn verhielt sich ihr gegenüber zunehmend verächtlich — erzählte ihr die Bäuerin von einem Brief, den Georgs Verwandte erhalten hatten. Er besaß eine kleine Farm am Rande der Stadt St. Louis, in der er Pferde züchtete, und stellte in einem florierenden Geschäft Planwägen her. Seine Frau stammte aus Ungarn, die beiden hatten drei Söhne und eine Tochter, vor kurzem erst hatten sie den Bau eines neuen größeren Hauses beendet, das alte war zu klein geworden.
»Er befindet sich wohl, so wie auch seine liebe und fleißige Frau und seine Kinder, die zum Glück alle gesund sind. Das Leben hat es gut mit ihm gemeint, und er ist Gott dankbar dafür. So hat er geschrieben«, schloss die Bäuerin.
Rosa sah den jungen Mann vor sich, wie er vor ihr im Schneidersitz in der Wiese hockte, anhimmelnd zu ihr hochblickte, neben ihr auf der Bank saß, stets genügend Abstand wahrend, um sie nicht zu beunruhigen. Wie er ihre Hand nahm und unbeholfen sagte: »Ich werde immer darauf achten, dass du trocken ankommst, wenn es stürmt.«