Albert war überzeugt, dass er die Liebe der jungen Wienerin vor allem deshalb gewonnen hatte, weil er in ihren Augen etwas Besonderes darstellte. Er hatte die Welt gesehen, und das hatte ihr Interesse an ihm geweckt, ansonsten wäre er nur ein weiterer langweiliger Geschäftspartner ihres Vater gewesen. Bei diesem ersten gemeinsamen Abendessen, zu dem ihr Vater ihn eingeladen hatte, erwähnte er es zu Beginn wie nebenbei, sie hob den Kopf und musterte ihn.
»Erzählen Sie uns doch von Ihren Erlebnissen«, forderte sie ihn auf.
Ihre Bitte war nichts Neues für ihn. In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr waren oft Leute vorbeigekommen, die von ihm hören wollten, was er gesehen und erlebt hatte. Wenn Katharines Kinder zu Besuch kamen, bestürmten sie ihn, von seinen Abenteuern zu berichten. Sie erwarteten, von heftigen Meeresstürmen zu hören, die Albert mit Müh und Not überlebt hatte, von wilden Tieren und Eingeborenen in fremden Ländern, denen er schutzlos ausgeliefert gewesen war und vor denen er sich in letzter Sekunde hatte retten können oder gerettet worden war, aber damit konnte er nicht dienen. Für seine Nichten und Neffen schmückte er Selbsterlebtes fantasievoll aus und fügte Gelesenes oder Gehörtes hinzu, um die Geschichten spannender zu machen. Obwohl ihm die Zeit bei der k. u. k. Marine in jeder Hinsicht aufregend erschienen war — besonders die Landgänge in den fremden Hafenstädten und in deren Umland —, hatte er kaum Abenteuer erlebt, zumindest keines, welches in den Augen der Kinder eines gewesen wäre oder für ihre Ohren bestimmt war.
Alberts Dienstjahre fielen in eine friedliche Zeit. Die Fregatten, auf denen er diente, unternahmen sogenannte Missionsfahrten, um handelspolitische Interessen zu vertreten, wissenschaftliche Expeditionen zu unterstützen, Berichterstattung aus der fernen Welt zu leisten, kurz: um zu repräsentieren und Flagge zu zeigen. Er erlebte keine Seegefechte mit und war nicht unglücklich, dass er nur davon hörte. Langgediente Matrosen erzählten Heldengeschichten von den Seeschlachten bei Helgoland und bei Lissa, 1864 und 1866, welche Admiral Wilhelm von Tegetthoff ruhmreich geschlagen hatte. Der große Tegetthoff war es auch gewesen, der vom Kaiser höchstpersönlich mit der traurigen und vertrauensvollen Aufgabe betraut worden war, die Leiche seines Bruders Maximilian aus Mexiko heimzuholen. Immer wieder fiel sein Name, und er wurde mit Ehrfurcht ausgesprochen.
In der ersten Zeit erschien Albert alles überwältigend. Er sah zum ersten Mal in seinem Leben die Reichsstadt Wien, lernte unzählige Männer aus allen Ecken der Monarchie kennen und — bei den Ausgängen — einige Damen in einschlägigen Etablissements. Im Unterricht ging es vor allem um die glorreiche Geschichte der Monarchie, wenige Wochen darauf bestieg er das Schulschiff in Fiume, zum ersten Mal sah er das Meer. Er bekam Drill zu spüren, lernte schwimmen, studierte die einzelnen Waffen der Schiffsartillerie und hörte vom Unterschied zwischen Schlachtschiffen, Torpedobooten, Raddampfern, Kreuzern und Korvetten.
Nach der Ausbildung versah Albert als Matrose erster Klasse und als Marsgast seinen Dienst hauptsächlich auf den Fregatten Laudon und Radetzky, Letztere diente unter anderem als Ausbildungsschiff für angehende Marineoffiziere. Wenn das Schiff wochenlang in einem Hafen lag, wurde das Matrosencorps vielfach mit sinnlosen Tätigkeiten beschäftigt. Die Mannschaft schrubbte alles von oben nach unten, nur um wieder von vorne zu beginnen, sie nahm auseinander, nummerierte, registrierte, setzte wieder zusammen — die Bürokratie machte auch vor den Schiffen nicht Halt —, und um die Leute bei Laune zu halten, spielte das kleine Orchester auf Teufel komm raus. Nach getaner Arbeit spielte man Karten und erwartete sehnsüchtig die Landgänge.
Zwei Ereignisse blieben Albert besonders in Erinnerung, sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: Einmal schüttelte der Kaiser seine Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm, ein anderes Mal wurde er gemeinsam mit vier anderen aus dem Matrosencorps ausgewählt, um im Hinterland Britisch-Indiens einen Elefanten abzuholen. Als er an jenem Abend in Wien bei den Svobodas zu Gast war und Anna ihn aufforderte, von seinen Erlebnissen zu erzählen, entschied er spontan, die Geschichte von der jungen Elefantenkuh Sisi zum Besten zu geben — und sie leicht zu verändern.
Im Herbst 1877 ging eine Delegation erfahrener Tierexperten unter der Leitung eines Grafen Otto Tschernembl an Bord der Laudon. Der Graf, behäbig, mit einem roten aufgedunsenen Gesicht und einem gewaltigen gezwirbelten Schnurrbart, betonte in jedem Gespräch, ein Experte für Großtiere zu sein. Es sprach sich schnell herum, dass er aufgrund der Tatsache, dass er als junger Mann einige Jahre in Indien gelebt hatte, ausgewählt worden war, er hatte Handel mit Tigerfellen und Stoßzähnen getrieben. Von der Besatzung bekam er den Spitznamen Graf Großmaul verpasst.
Über den Suezkanal gelangte die Laudon nach Indien, wo im Nordosten Britisch-Indiens, in der Provinz Bengalen, ein junges Elefantenweibchen verladen werden sollte. Es war für die Menagerie im Schönbrunner Park bestimmt und sollte ein Geschenk für die Kaiserin sein, deren vierzigster Geburtstag im Dezember gefeiert wurde. Nachdem man eine Woche in der Hafenstadt Haldiya gewartet hatte, die junge Elefantenkuh jedoch nicht wie vereinbart eintraf, wurde mit der zuständigen Stelle der britischen Verwaltungsbehörde in Kalkutta telegrafiert, die wiederum versuchte, mit dem Maharadscha in Koch Bihar Kontakt aufzunehmen. Alles lief äußerst gemächlich ab, niemand schien sich für die Angelegenheit zu interessieren, das brachte Graf Tschernembl in Rage. Schließlich erfuhr er, dass es zu einem Missverständnis gekommen war, man war erst in einem Monat erwartet worden. Nach längeren Verhandlungen wurde beschlossen, das Tier auf halbem Weg abzuholen. Drei britische Soldaten unter einem Offizier namens Grant, welcher der deutschen Sprache mächtig war — mehr schlecht als recht —, und vier Männer aus dem Matrosencorps, darunter der Koch, sollten den Grafen und seine Mitarbeiter begleiten. Albert war unter ihnen, da er Englisch verstand und auch ein bisschen sprechen konnte, er hatte es sich mithilfe eines Lehrbuches beigebracht.
Eilig wurden Zelte und Proviant zusammengestellt, und die bunt gemischte Truppe brach ins Hinterland auf. Von Anfang an war offensichtlich, dass der Graf und der wortkarge Offizier, der seit siebzehn Jahren in Indien diente, sich nicht ausstehen konnten. Der Graf, missmutig, dass er sich durch Hitze und Regengüsse quälen musste, weil die Briten ihren Teil der Abmachung nicht termingerecht erfüllt hatten, pflegte eine sehr dozierende Art zu sprechen, welche den Offizier reizte. Die Situation begann Albert zu amüsieren, er war überglücklich, von einem Land mehr zu sehen als nur die Hafenstadt. Sie kamen an unzähligen Reis-, Baumwoll- und Opiumfeldern vorbei, an Kokospalmen und Mangrovenwäldern, er staunte über die Fruchtbarkeit des Landes.
»Opium wurde früher hauptsächlich nach China exportiert. Seit einigen Jahren ist es auch in Europa und Nordamerika sehr begehrt, die Ärzte wollen nicht mehr auf das betäubende Schmerzmittel Morphin verzichten«, erklärte der Graf und fügte hinzu: »Auch die Betreiber der Bordelle und sogenannten Rauchsalons, besser bekannt als Opiumhöhlen, wollen nicht mehr darauf verzichten. Aus reiner Geldgier.« Der Offizier rollte mit den Augen.
Die Dörfer zwischen den Feldern wirkten ärmlich, die winzigen Hütten waren oft nicht mehr als Bretterverschläge, Albert hatte noch nie so viel Elend und Hoffnungslosigkeit gesehen. Die Männer trugen vorwiegend helle Kleidung, hatten ein Tuch um den Kopf geschlungen, die Frauen waren in bunte Saris gehüllt, wohingegen die Kinder halbnackt herumliefen, nur die Abgestumpftheit in den Gesichtern war bei allen gleich. Albert empfand die dunkelhäutigen, schmalen Frauen als schön.
Sie waren fünf Tage lang auf der lehmigen Straße unterwegs, mehrere Stunden am Tag schüttete es. Die Übergabe des jungen Elefanten erfolgte vor der Stadt Jamshedpur, das arme gequälte Tier, mit Ketten um die Vorderbeine und um den Hals, an denen es geführt wurde, war erst kürzlich von der Mutter getrennt worden, es war störrisch und panisch. Zwei elephant boys verblieben bei dem Tier, man hatte sie verpflichtet, es bis zum Schiff zu begleiten, die anderen Männer machten sich sofort wieder aus dem Staub. Der Tierexperte bestand darauf, zurück zur Hafenstadt Haldiya abgelegene Wege zu nehmen, um den Elefanten zu schonen, belebte Straßen schienen ihm nicht geeignet, der britische Offizier war davon zwar nicht angetan, fügte sich aber dem Wunsch des Grafen.
Am zweiten Tag — nachdem sie einen kleinen Wald durchquert hatten — standen sie plötzlich vor einem Ort, der wie ausgestorben wirkte.
»Hier hat sicherlich eine Seuche gewütet«, erklärte Tschernembl, Offizier Grant wirkte beunruhigt, er hielt Ausschau nach allen Seiten.
Sie machten einen weiten Bogen um die Hütten, um plötzlich auf einem großen Feld zu stehen, wo offensichtlich ein Fest im Gange war, hunderte von Menschen wiegten sich zu leisen Gesängen. Der Offizier schaute durch sein Fernglas, sein Gesichtsausdruck veränderte sich, er schüttelte kaum merklich den Kopf und presste die Lippen zusammen. Albert blickte über das Feld und entdeckte einen großen Stoß aus Holz, auf dem ein aufgebahrter Leichnam lag. Einige in der Menge waren auf den Elefanten und seine Begleittruppe aufmerksam geworden, woraufhin Unruhe entstand und sich kräftige junge Männer Schulter an Schulter mit Blickrichtung zu den britischen Soldaten postierten, manche hielten eine Machete in der Hand.
Die britischen Soldaten unterhielten sich erregt, der Offizier blieb still, sein Gesicht wirkte hart, schließlich gab er den Befehl, umzudrehen und in den Wald zurückzukehren. Seinen Männern deutete er mit dem Kopf, den elephant boys den Befehl weiterzuleiten, sie gehorchten ihm augenblicklich. Im selben Augenblick löste sich auf dem Feld eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, aus der Menge und ging langsamen Schrittes auf den Holzstoß zu.
»Das ist eine Witwenverbrennung!«, sagte der Graf fassungslos und forderte Grant auf einzugreifen, lähmendes Entsetzen machte sich in der kleinen Truppe breit.
»Dieses grausame Ritual ist schon vor längerer Zeit verboten worden«, sagte Tschernembl weiter, »und zwar von euch Briten.«
Der Offizier erwiderte darauf nichts, er wiederholte seinen Befehl, auf der Stelle umzudrehen. Die beiden begannen heftig zu streiten, wobei der Offizier betonte, in der Sache nichts ausrichten zu können, sie wären zu wenige Männer, und bis die verständigte Verstärkung angerückt käme, wäre es ohnehin zu spät, und die einzige Mission, auf die er sich zu konzentrieren hätte, wäre diejenige, die Elefantenkuh — und die Männer der k. u. k. Monarchie — heil nach Haldiya zu bringen, nur hierfür hätte er die Weisung von seinem Vorgesetzten erhalten.
»Aber ihr habt Schusswaffen und diese Leute keine«, beharrte der Graf.
»Sollen wir alle abknallen, um eine einzige Frau zu retten, die aus freien Stücken ihrem Mann in den Tod folgen will? Sie wird als Heilige verehrt werden, das ist ihr lieber, als verstoßen zu sein und ein Leben in Armut zu führen«, sagte Grant. »Insgesamt sind wir zwölf Männer. Und wie viele hundert Männer stehen dort? Männer, die zu gerne uns Weißen eins auswischen möchten. Das Gemetzel wollt Ihr nicht erleben, glaubt mir das. Auch Ihr werdet Verluste zu beklagen haben. Wollt Ihr heute sterben?«
Der Offizier, völlig entnervt, ließ ihn stehen.
»Aus freien Stücken? Sie wird unter Druck gesetzt!«, schrie der Graf ihm nach. »Wenn Ihr die Frau schon nicht retten wollt, müsst Ihr doch die Einhaltung Eurer Gesetze einfordern!«
Grant drehte sich um: »Als hätten wir das nicht oft genug getan. Wir haben die Frauen gerettet, in Häusern untergebracht, wollten ihnen eine Existenz ermöglichen.«
»Welche Existenz?«, fragte der Graf höhnisch. »Als Bedienstete in britischen Offiziershaushalten?«
»Sie waren alle sehr unglücklich«, ignorierte der Offizier den Einwurf, »und haben jede Gelegenheit genutzt, um wegzulaufen, zurück in ihr Dorf, wo sie sich umgebracht haben.«
»Weil diese abscheuliche Praxis die Wirkung von tief verwurzelten Vorurteilen ist«, sagte der Graf. »Jedes Mädchen hört von Kindesbeinen an, wie tugendhaft und lobenswert es ist, wenn eine Frau ihre Asche mit der ihres Mannes vermischt. Das hat jahrhundertelang dazu gedient, die Frauen in Unterwerfung zu halten und sie davon abzuhalten, ihren Männern Gift zu verabreichen.«
»Ich weiß das!«, schrie der Offizier. »Ich weiß das! Ich lebe schon fast zwei Jahrzehnte lang in diesem verfluchten Land und weiß das nur zu gut!« Er atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe: »Ich verspreche, die Sache wird verfolgt, und die Verantwortlichen wird man zur Rechenschaft ziehen, aber die Frau können wir nicht retten. Wenn wir das versuchen, werden wir alle unser Leben lassen. Die Leute haben gesehen, dass wir nicht viele sind.«
Es dauerte eine Zeitlang, bis der Elefant die Kehrtwendung geschafft hatte, in der Zwischenzeit drehte sich Albert, dem die Knie zitterten und das Herz bis zum Hals klopfte, immer wieder um und beobachtete die Geschehnisse auf dem Feld. Die junge Frau stand zunächst aufrecht auf dem Holzstoß — ihr Blick war in die Ferne gerichtet, sie wirkte wie in Trance —, um sich schließlich im Schneidersitz niederzulassen, den Kopf der Leiche bettete sie in ihren Schoß.
Mittlerweile war die Truppe am Waldrand angekommen, alle befanden sich in Aufruhr. Die Briten fügten sich dem Befehl des Offiziers, der zur Eile antrieb und immer wieder außer sich sagte: »Go! Go! And don’t look back!«
Die anderen bestanden immer noch darauf, geschlossen zurückzugehen und die Frau zu retten. Der Graf spuckte vor dem Offizier aus und nannte ihn einen Feigling, woraufhin Grant endgültig die Nerven verlor und mit seinem Gewehr auf ihn zielte.
»Ihr nennt mich keinen Feigling, verehrter naiver Graf, Ihr habt keine Ahnung, was ich schon alles getan habe in diesem verfluchten Land, um irgendwelche Gesetze einzufordern, welche diese Barbaren nicht einmal annähernd verstehen oder gutheißen, geschweige denn wollen!«
Er deutete mit dem Gewehr in den Wald hinein. »Wird’s bald, wir machen uns jetzt alle auf den Weg, um Euren verdammten Elefanten endlich auf Euer verdammtes Schiff zu bringen!«
Albert drehte sich um und sah, dass ein junger Mann eine Fackel in die Höhe hielt und den Holzstoß damit anzündete, wie alle anderen hastete und stolperte er verstört durch die Bäume weiter. Als der erste gellende Schrei zu hören war, lief er zum Offizier, deutete mit dem Kopf auf sein Gewehr und sagte: »Shoot her.«
Grant sah ihn überrascht an. Er rief einem Soldaten zu, so schnell wie möglich mit der Truppe weiterzulaufen, den Elefanten anzutreiben, und kehrte um, kurz darauf war ein Schuss zu hören, die Schreie verstummten, die Menge jaulte empört auf.
»Faster, faster!«, schrie einer der jungen britischen Soldaten panisch und drosch mit seinem Gewehrkolben auf das Hinterteil der jungen Elefantenkuh.
Ein zweiter Schuss war zu hören, er klang näher als der erste, Sisi bäumte sich auf und stürmte los, ein elephant boy, der die Kette um seinen Bauch geschlungen hatte, wurde mitgeschleift und gegen einen Baum geschleudert. Kurze Zeit darauf tauchte der Offizier schweißgebadet zwischen den Bäumen auf. Als der Graf später die zynische Bemerkung machte, »Welch eine Heldentat, der Frau einen Gnadenschuss zu verpassen«, schlug Grant ihm mit dem Gewehrkolben in den Bauch, der Graf ging stöhnend in die Knie.
Den Rest des Weges legte die Truppe schweigend zurück, gesprochen wurde nur das Nötigste, die Nerven aller waren zum Zerreißen gespannt. Der verletzte Junge wurde getragen, Albert meldete sich freiwillig und nahm seinen Platz an der Kette ein.
Der Offizier wurde von seinem Vorgesetzten gelobt, seine Entscheidung war die einzig richtige gewesen, die Sicherheit der österreichischen Delegation hatte Vorrang gehabt. Doch der Schlag, den er einem österreichischen Delegierten versetzt hatte, brachte ihm einen schweren Verweis ein, und er sollte eine Zeitlang in ein abgelegenes Provinznest versetzt werden. Der Schiffskommandant, Ritter Adolf von Daufalik, wurde eingeweiht und versuchte dies zu verhindern, er bemühte sich um Vermittlung zwischen Grant und Tschernembl. Doch seinem Wunsch nach einer gegenseitigen Entschuldigung wurde nicht entsprochen, beide weigerten sich. Bevor sie das Schiff bestiegen, erteilte Daufalik den Tierexperten wie auch Albert und seinen Kameraden den Befehl, das Erlebte unter allen Umständen so schnell wie möglich zu vergessen. Das Geburtstagsgeschenk der Kaiserin sollte nicht mit einem derart furchtbaren Ereignis in Verbindung gebracht werden. Albert brauchte lange, um das Bild der jungen Inderin, die mit geradem Rücken und furchtlosem Blick auf dem Holzstoß saß und den Kopf des toten Mannes in ihrem Schoß hielt, zu vergessen.
Es war ein stundenlanges Spektakel, bis Sisi sich endlich hinter Schloss und Riegel in ihrem Eisenkäfig auf Deck befand, welcher der Mannschaft monströs erschien, für die Elefantenkuh jedoch winzig war, sie konnte sich nicht um die eigene Achse drehen. Sie hatte sich derart heftig gewehrt, an Bord gebracht und eingesperrt zu werden, dass ihr Ohr eingerissen war und ihre runzlige Haut an manchen Stellen Wunden aufwies.
Am vorletzten Abend, bevor sie ausliefen, bekam ein Großteil des Matrosencorps die Erlaubnis, an Land zu gehen. Die meisten interessierten sich nicht für die Stadt, sie suchten umgehend Bordelle auf. Albert betrat einen Opiumsalon und entdeckte Offizier Grant, er legte sich auf den Diwan ihm gegenüber und versuchte zum ersten Mal sein Glück mit einer Opiumpfeife. Grant wurde auf ihn aufmerksam, sie begannen zu reden, und im Laufe des Abends erzählte er ihm seine Lebensgeschichte. Grant war als junger Mann, gemeinsam mit seiner Frau, nach Ostindien gekommen, sein Aufgabengebiet, um das er sich auf Drängen seiner Charlotte bemüht hatte, war das Unterbinden der illegalen Witwenverbrennungen in Rajasthan gewesen. Er war ein Hitzkopf und sah die einzige Möglichkeit der Abschreckung in maßloser Gewaltausübung, weder suchte er das Gespräch mit den Dorfältesten, noch versuchte er eine heimliche Entführung der Witwe, um sie in Sicherheit zu bringen und von der Sinnlosigkeit der Tat zu überzeugen. Er machte kurzen Prozess. Nachdem er durch Spione herausgefunden hatte, wo eine Sati stattfinden sollte, überrumpelte er das versammelte Dorf mit seiner kleinen Kompanie und setzte es unter Beschuss. Dabei wurden ohne Unterschied Frauen, Kinder, Männer niedergeschossen, einmal starben an die hundert Leute, die befreite Sati ging dennoch nie freiwillig mit. Nachdem Grant ein paar Mal derart gewütet hatte, zahlten es ihm die Einwohner heim. Eines Tages, während er seinen Dienst versah, wurde seine schwangere Frau Charlotte entführt und auf einem abgelegenen Feld auf einen Scheiterhaufen gebunden und verbrannt.
Sooft er Zeit hatte, setzte Albert sich neben den Käfig, auf merkwürdige Weise fühlte er sich zu dem jungen Elefanten hingezogen. Seine Kameraden machten sich über ihn lustig. Wenn er alleine war, redete er mit dem Tier, und nach einer Weile hatte er das Gefühl, es reagierte darauf. In Ismail wurde es auf ein anderes Schiff verladen, das den Weg über die Donau nach Wien nahm, Albert wäre am liebsten mitgereist. Bevor er seinen Dienst quittierte und in sein Heimatdorf zurückging, besuchte er in Wien die Menagerie und schaute Sisi — sie hatte den Namen behalten — zu, wie sie im kleinen Elefantenhaus in Schönbrunn einen Schritt vor- und wieder einen Schritt zurücktrat, stundenlang.
Im Esszimmer der Familie Svoboda hingen alle gebannt an seinen Lippen, er hatte beim Reden das Erschaudern der Zuhörer regelrecht am eigenen Leib gespürt. Er legte eine kleine Pause ein und erzählte die Geschichte vom Kaiserbesuch, um die Stimmung wieder aufzulockern.
Im April 1878, kurz bevor sie zu den griechischen Inseln ausliefen, stattete der Kaiser in Triest der Fregatte einen Besuch ab. Was ohnehin schon glänzte, wurde auf Hochglanz poliert. Franz Joseph I. schüttelte auch ihm, Albert, höchstpersönlich die Hand, fragte ihn, woher er kam und was er von Beruf war, und verlor dann einige wenige Worte über das Mühlviertel und den Beruf des Müllers, wobei er sich — was Getreidesorten betraf — erstaunlich gut auskannte. Der Kaiser erschien ihm ernst und bedrückt, so als wäre die Last auf seinen Schultern zu groß. Als sich Franz Joseph I. anschickte, die Fregatte zu verlassen, kam eine Sturmböe auf, er verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Fluten. Albert und sein Freund Adam Hanáček — wie er Matrose erster Klasse — sprangen ihm unverzüglich hinterher und retteten dem Kaiser so das Leben.
Die Svobodas schauten ihn irritiert an, Anna runzelte fragend die Stirn.
»Ich gebe zu, der Schluss war erfunden«, schloss Albert schmunzelnd. »Der Kaiser ist natürlich nicht ins Meer gestürzt. Aber so, wie die Geschichte sich zugetragen hat, war sie zu langweilig für meine Nichten und Neffen. Ich musste meine Fantasie etwas spielen lassen.«
Alle lachten.
»Ich muss zugeben, dem Kaiser gegenüberzustehen und mit ihm zu reden war ein sehr erhebender Moment für mich«, sagte Albert, und die alten Svobodas nickten bestätigend.
Beim Verabschieden holte die junge Frau von ihrem Vater die Erlaubnis ein, am nächsten Tag mit ihm spazieren zu gehen und am Stephansplatz Punsch zu trinken, ihr Händedruck war fest und warm. Was für ein Glück ich habe, dass ich gut im Fabulieren bin, dachte Albert, als er das Haus verließ, pfeifend ging er in der Dunkelheit bis zu dem Gasthof, in dem er sich einquartiert hatte.
Auch die Geschichte von der Witwenverbrennung verdankte er seiner Fantasie, er hatte sie nicht tatsächlich erlebt. Die Wahrheit war, dass er auf dem Marsch durch das Hinterland Britisch-Indiens, um die junge Elefantenkuh abzuholen, mit dabei sein hatte dürfen und trotz Mühsal aufgrund der schwülen Hitze und heftiger Regengüsse fasziniert von dem exotischen Land gewesen war. Außerdem hatte das große Tier ihn beeindruckt, und er war ihm nicht von der Seite gewichen. Die sechstägige Expedition war das Aufregendste gewesen, was er während seines Dienstes in der k. u. k. Marine erlebt hatte. Auf dem Rückweg nach Haldiya war die Truppe abseits eines Dorfes an einem abgebrannten Holzstoß vorbeigekommen, woraufhin der wichtigtuerische Graf Tschernembl mit dem britischen Offizier die Diskussion angefangen hatte, warum die Kolonialmacht unfähig war, den furchtbaren Witwenverbrennungen ein Ende zu bereiten. Grant war umgehend explodiert und hatte ihn vor allen heruntergemacht, das war alles gewesen.
Zwei Tage vor der Hochzeit ertrug Albert sein schlechtes Gewissen nicht mehr.
»Ich muss dir etwas beichten«, sagte er zu seiner Braut, sie sah ihn erstaunt, beinahe erschrocken an.
Er gestand, dass er die Geschichte von der Witwenverbrennung ausgeschmückt hatte, um sie zu beeindrucken. »Der Alkohol, dein Anblick und das unbezwingliche Gefühl, dich beeindrucken zu müssen, weil ich dich ansonsten vermutlich nie mehr sehen würde, da ist es mit mir durchgegangen«, sagte er. »Verzeihst du mir?«
Sie sah ihn erstaunt an, begann zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören damit.
»Ich bin froh, dass die hochschwangere Charlotte Grant nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt ist«, sagte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen.