Die Kinsky, für die ihre Großmutter bereits einige Kleider genäht hatte, lernte Anna persönlich kennen, als diese im Oktober 1880 in den Salon kam, um zwei Ballkleider in Auftrag zu geben. Vorher hatte Anna bereits einiges über die Gräfin gehört, in den Nähräumen wurde — wenn die Schneidermeister nicht anwesend waren — genug getratscht, um sich die langen Stunden ein wenig zu verkürzen. Carolina Kinsky, die ursprünglich einer verarmten mährischen Adelsfamilie entstammte, hatte das Glück gehabt, als Siebzehnjährige einem äußerst wohlhabenden — und alten — Grafen aufzufallen. Der verwitwete Achtundsechzigjährige heiratete nach nur wenigen Wochen das blutjunge Ding und nahm sie mit nach Wien, wo er ein kleines Palais besaß. Er wollte seinen Lebensabend in der Hauptstadt verbringen, mit seinen Kindern war er heillos zerstritten. Der knorrige Graf, dem Alkohol und Zynismus nicht abgeneigt, und die junge vollbusige Frau, deren mährischer Akzent zum Schreien komisch war, gaben ein kurioses Paar ab. Wetten wurden abgeschlossen, wie lange die Ehe halten, wann einer des anderen überdrüssig werden würde. Die Jahre vergingen, der Skandal blieb aus. Die Leute warteten vergeblich auf den Rauswurf der Gräfin aufgrund einer aufgeflogenen Liebesromanze mit einem jungen Draufgänger oder auf den plötzlichen Tod des Alten, der als Giftmord enttarnt wurde. Die Kinsky sagte nie etwas Abfälliges über ihren Mann, nicht einmal zu ihrer Kammerzofe, brachte ihn nicht in kompromittierende Situationen, indem sie sich mit anderen — jüngeren — Männern sehen ließ oder flirtete, ebenso behandelte er sie kein einziges Mal in der Öffentlichkeit mit Geringschätzung. Sie war rührend um ihn besorgt, die letzten Monate seines Lebens pflegte sie ihn aufopfernd, manche konnten nicht umhin, sie für ihre Disziplin zu bewundern. Als er starb, war sie sechsundzwanzig, die jährliche Apanage, welche ihr von der Familie als Erbe zugestanden werden musste, war nicht klein. Nach der Trauerzeit war sie eine wohlhabende Frau mit einem kleinen Palais in einer der schönsten Straßen Wiens und hatte wesentlich mehr Freiheiten, als sie im mährischen Hinterland je gehabt hätte. Da sie für das Theater und die Oper schwärmte, begann sie sich in Schauspielerkreisen zu bewegen, eine Zeitlang unterhielt sie eine Beziehung mit einem namhaften Regisseur, sie unterstützte junge talentierte Schauspieler finanziell und als Fürsprecherin. Sie gedachte nicht, sich wiederzuverheiraten und Kinder in die Welt zu setzen, so wie es von einer Frau in ihrem Alter erwartet wurde, sie lebte ein ausschweifendes Leben ohne jede Verpflichtung und Verantwortung. Den Winter verbrachte sie in Sizilien oder auf Madeira, sie kleidete sich mondän und exzentrisch, behängte sich mit einer Menge orientalischem Schmuck, Seidentüchern, Gürteln und feierte zahlreiche Feste, die von vielen als schamlos bezeichnet wurden. Kurzum, sie tat, was sie wollte, und scherte sich nicht um Konventionen, die — jungen — Frauen beneideten sie.
Als Anna sie kennenlernte, war die Kinsky einunddreißig Jahre alt. Sie wünschte sich, deren Interesse zu erregen, und machte einige gewagte Vorschläge, die Farben und Schnitte der in Auftrag gegebenen Ballkleider betreffend, denn sie wusste um den ausgefallenen Geschmack der Gräfin. Was Anna nicht wusste, war, dass keine Notwendigkeit bestanden hätte, sich zu bemühen, denn vom ersten Augenblick an war Carolina Kinsky die Neunzehnjährige aufgefallen.
»Von all den herumschwirrenden Personen im Verkaufssalon bist du, meine Liebe, mit deiner Schönheit und Anmut herausgestochen«, sagte sie Wochen später zu ihr.
Die Kinsky hatte sie zu sich eingeladen, um eine Änderung an einem Kleid in ihrem Haus durchzuführen, anschließend tranken sie Kaffee, dabei fragte die Gräfin nach ihren Träumen. Anna antwortete, dass sie später ihren eigenen Modesalon eröffnen wollte, Carolina Kinsky sicherte ihre Unterstützung zu. Anna schwebte im siebten Himmel.
Immer wieder lud die Gräfin sie ein, sie besserte Kleidungsstücke aus, nahm Änderungen vor, danach saß man bei einem Glas Wein oder mehreren zusammen. Die Kinsky gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ihrem Vater behagte es ganz und gar nicht, dass seine Tochter viel Zeit mit einer Gräfin verbrachte, deren Ruf ein zweifelhafter war, ihrer Mutter schmeichelte es.
Im Frühling begann die Kinsky von der Liebe zwischen Frauen zu sprechen, sie wäre die einzig wahre und erfüllende, ohne Unterdrückung und Gewalt möglich, auf gegenseitigem Respekt begründet. Sie träume von einer solchen lebenslangen Beziehung mit einer Frau, welche natürlich geheim gehalten werden müsse. Beim Verabschieden küsste sie Anna auf beide Wangen, streichelte ihre Hand.
Am Anfang erschrak Anna über die Worte der Gräfin, bis sie ihr allmählich — die Wochen vergingen, es waren aufregende — nicht mehr abwegig erschienen. Mit honigsüßen Worten, denen sie sich nicht entziehen konnte, baute die Kinsky Luftschlösser, sprach von gemeinsamen Reisen in südliche Länder, vom Auswandern nach Amerika, wo es gleichgültig war, wer man war, wie man lebte, wo eine Frau — zum Beispiel mit einem Modesalon — genauso erfolgreich sein konnte wie ein Mann.