So kam eins zum anderen, und obendrein floss viel Wein.

Im Juni 1881 erwischte der Mann ihrer Schwester, Ferdinand, die beiden nackt auf dem Diwan im Palais der Kinsky. Fieberhaft überlegte Wilhelm Svoboda, wie er vorgehen sollte, um die Angelegenheit für seine Familie so glimpflich wie möglich beizulegen. Er hatte erst vor kurzem den Titel k. u. k. Hof-Tischlermeister verliehen bekommen und zitterte vor den Folgen des Skandals, seinen hitzköpfigen Schwiegersohn Ferdinand bat er, Stillschweigen zu bewahren. Er hoffte, dass alles nicht so schlimm gewesen war, dass Ferdinand übertrieben hatte, immerhin war zur gleichen Zeit sein erstes Kind geboren worden, da konnten die Nerven schon verrücktspielen. Vermutlich hatten die beiden nebeneinander auf dem Sofa gesessen, einander vorgelesen, sich an den Händen gehalten, ihre Gesichter gestreichelt, Freundschaften zwischen Frauen waren anders als die zwischen Männern.

Aber Anna bestätigte, was Ferdinand erzählt hatte, und weigerte sich, die Gräfin zu denunzieren, sie habe sie mit Alkohol verführt. Weinend gestand sie, dass sie die Gräfin liebe und ihr diese ein gemeinsames Leben versprochen hatte. Svoboda bekam vor Zorn einen hochroten Kopf, verpasste Anna mehrere Ohrfeigen — sie begann aus Nase und Ohr zu bluten —, schloss sie in ihrem Zimmer ein und fuhr zum Palais der Gräfin, um sie zur Rede zu stellen. Er wusste, dass Anna nicht zu diesen verabscheuungswürdigen — wie nannte man sie überhaupt? — Frauen gehörte, nur zu gut hatte er in Erinnerung, wie sie mit Charles Morel junior auf dem Gartenfest in Ho Tram getanzt hatte, immer wieder, mit geröteten Wangen, zittrigen Händen, ihn mit den Augen verschlingend. Was für ein schönes Paar die beiden gewesen waren! Er hätte Anna bei ihm lassen sollen, dann wäre die Sache nie passiert, nein, natürlich hätte er Anna nicht alleine in Saigon lassen können, sie war ein halbes Kind gewesen, im Grunde war sie es immer noch.

Svoboda gab der Kinsky — alles an ihr widerte ihn an — zu verstehen, dass er von einer Anzeige absehe, wenn sie ihm zusicherte, einerseits ihr Dienstmädchen im Zaum zu halten, damit dieses nichts ausplauderte, andererseits nie wieder mit Anna Kontakt aufzunehmen. Sie behandelte ihn derart hochmütig und herablassend, als wäre er der Bittsteller und nicht sie diejenige, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte, auf das fünf Jahre Kerkerhaft standen. Wutschäumend stand er auf der Straße und entschloss sich, beim Obersten Gerichtshof einen ihm bekannten Richter aufzusuchen. Der alte Mann, im Leben wie im Gericht sehr erfahren, gab Svoboda milde zu verstehen, von einer Klage abzusehen.

»Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, mein guter Mann: Lassen Sie Gras über die Sache wachsen. Ich kann Ihren Zorn über die Gräfin nachvollziehen und auch verstehen, wenn es Sie nach Genugtuung verlangt, doch glauben Sie mir, ein derartiges Verfahren könnte sehr hässlich werden. Der Name Ihrer Familie würde in aller Munde sein, letztendlich würde es Ihnen und Ihrem Betrieb nur schaden«, sagte er, während sein Gesicht im Pfeifennebel verschwand. »Niemand hat Kenntnis davon, auch wenn Sie das Gefühl haben, die ganze Welt weiß es bereits. Das Tuscheln einiger Dienstboten ist nicht sakrosankt, jedem intelligenten Menschen ist bewusst, wie tratschsüchtig das Gesinde ist. Leben Sie weiter wie bisher. Falls es Gerede gibt, tun Sie es als dummes Geschwätz ab. Dementieren Sie entrüstet, falls Sie jemand darauf anspricht, und schauen Sie, dass Ihre Tochter über den Sommer die Stadt verlässt. Vielleicht können Sie sie schnell verheiraten, am besten nicht in Wien, für den Ruf Ihrer Familie wäre es das Beste, wenn sie von der Bildfläche verschwindet.«

Anna blieb den Sommer über eingesperrt in ihrem Zimmer, den Bekannten wurde erzählt, sie wäre bei einer alten Tante in der Wachau. Svoboda kannte niemanden auf dem Land, dem er in dieser delikaten Angelegenheit vertraut hätte. Er wollte sichergehen, dass keinerlei Briefkontakt mit der Gräfin entstand, keine heimlichen Treffen stattfanden, und kontrollieren konnte er das nur, wenn Anna sich unter seinem Dach befand.

Die aufgeflogene Affäre sprach sich in Dienstbotenkreisen rasch herum, bis sie einem Journalisten zu Ohren kam. Drei Wochen, nachdem Anna von ihrem Vater zur Rede gestellt worden war, erschien in der Neuen Freien Presse eine kleine Karikatur, welche zwei nackte Frauen zeigte, der Kopf der etwas Älteren — sie trug ein orientalisches Diadem und war eindeutig als die Gräfin Kinsky zu erkennen — lugte zwischen den aufgestellten Beinen einer Jüngeren mit langen dunklen Locken hervor, in der Sprechblase standen die Worte: Hmm, die Bürgertöchter schmecken viel frischer als der fade Adel! Dem Journalisten musste man zugutehalten, dass er die Identität der k. u. k. Hof-Tischlermeistertochter nicht preisgab, was er mit irgendeinem eindeutigen Indiz durchaus hätte machen können. Dennoch: Als Wilhelm Svoboda das Bild erblickte, hatte er das Gefühl, sein Herz setzte aus. Nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte, ging er schweren Schrittes in den ersten Stock, betrat Annas Zimmer und schlug ihr die gefaltete Zeitung immer wieder um die Ohren, bis sie schluchzend auf dem Boden hockte und ihr Gesicht mit den Armen schützte.

»Ich stecke dich in ein Kloster«, schrie er.

Else Svoboda erlitt den zweiten Nervenzusammenbruch, Ferdinand Brandner raste vor Zorn. Der junge Mann hatte das Gefühl, jedermann im Unterrichtsministerium wusste Bescheid, dass es sich bei der gemeinen Darstellung um seine Schwägerin handelte, jedes freundliche Lächeln interpretierte er als hämisches Grinsen. Er bestürmte seinen Schwiegervater, endlich eine Klage gegen die Kinsky bei Gericht einzubringen. Er selbst sprach am Gerichtshof vor und geriet an einen Richter, der darauf erpicht war, der verhassten Gräfin eins auszuwischen. Am Tag darauf zog Svoboda die Klage wieder zurück und verbot dem jungen Mann, sich zukünftig in die Sache einzumischen. Die Situation im Haus des Tischlermeisters war am Überkochen, und ganz Wien rätselte hinter vorgehaltener Hand, wer das junge Mädchen in der Karikatur sein könnte.

In ihrer großen Verzweiflung sprang Anna aus dem Fenster, sie wollte zur Kinsky gelangen und mit ihr noch in derselben Nacht aus Wien fliehen, dabei verstauchte sie sich den Fußknöchel, sodass sie keine hundert Meter weit kam. Daraufhin nagelte ihr Vater Bretter vor das Fenster. Täglich, beinahe stündlich fragte sie sich, warum Carolina — oder einer ihrer Diener — nicht schon längst des Nachts vor ihrem Fenster gestanden war, um ihr einen Brief zuzuwerfen oder ihr gar zur Flucht zu verhelfen.

In derselben Nacht, in der Anna aus dem Fenster sprang, ergriff die Kinsky tatsächlich die Flucht, lediglich in Begleitung eines Dieners und eines Mädchens, und zwar des besagten, welches an dem folgenschweren Nachmittag im Juni hinter Ferdinand Brandner in der Tür zum Salon große Augen gemacht hatte. Die Angelegenheit war ihr durch die Karikatur doch zu prekär geworden, um sie in Wien auszusitzen, zu viele Feinde und Neider hatte sie, das degoutante Bild veranschaulichte deutlich, wem die Sympathie der Presse galt. Überstürzt trat sie eine monatelange Reise in den Orient an, die sie schon immer hatte machen wollen und auf die sie Anna hatte mitnehmen wollen, zumindest hatte sie davon gesprochen. Die seit dem Vorfall zurückgezogen lebende Familie erfuhr davon erst Wochen später, als Anna es von ihrer Mutter hörte, konnte sie es kaum glauben. Jedes Mal, wenn ein Bekannter der Familie fragte, was es mit dem Gerücht über die Kinsky auf sich habe, stellte sich Wilhelm Svoboda dumm und fragte: »Von welchem Gerücht ist die Rede?« Die meisten grinsten süffisant, einige wenige hatten die Dreistigkeit, eins draufzulegen: »Wenn an dem Gerede nichts dran wäre, warum arbeitet die Tochter nicht mehr im Salon Grünbaum?«

Im Laufe des Sommers kamen drei Redakteure, sie drängten den Tischlermeister, Genaueres zu erzählen, sie wollten eine große Geschichte in ihrem Blatt daraus machen, doch Svoboda ließ sie alle eiskalt abblitzen. Einer — er war von der frisch gegründeten Wiener Allgemeinen Zeitung — war besonders hartnäckig.

»Wie kann es in deinem Sinn sein, dieses dreckige Adelsgesindel zu schützen?«, fragte er.

»Sie reden mich mit Sie an.«

»Ihre Tochter wurde eindeutig benutzt, Svoboda, von einer verkommenen Person mit einem dekadenten Lebensstil, einer Person, die nie auch nur den Finger krümmen musste, um ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wie Sie es tun, sie lebt von Vermögen, das durch Ausbeutung angehäuft wurde. Sie arbeiten hart, um für sich und Ihre Familie zu sorgen, Sie zahlen Ihre Steuern. Sie und Ihre Tochter haben ein Recht auf Gerechtigkeit. Warum lassen Sie diese Person ungeschoren davonkommen, die mutwillig und ohne mit der Wimper zu zucken die Zukunft Ihrer Tochter ruiniert hat?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er, »und falls ich doch ein Fünkchen Ahnung hätte«, er hob seinen Kopf und schaute dem Mann fest in die Augen, »würde ich nicht zulassen, dass meine Tochter ein Instrument Ihres Kampfes wird.«

»Sie wollen keine Kunden in bestimmten Kreisen verlieren, ist es das? Sie wissen, dass Sie sich prostituieren, Herr k. u. k. Hof-Tischlermeister.«

»Von Prostitution brauchen Sie mir nicht zu reden, Sie Schreiberling, Ihre dient der Sensationsgier. Verlassen Sie auf der Stelle mein Bureau.«

Im August schaute ein Beamter des Obersthofmeisteramtes in der Werkstatt vorbei — ohne sich vorher anzukündigen, was höchst selten vorkam —, um einen Sekretär für die frischgebackene Ehefrau des Kronprinzen in Auftrag zu geben. Beim Abschied sagte er lauernd und wie beiläufig: »Es sind uns Dinge zu Ohren gekommen, welche die Tochter betreffen. Wir hoffen, es geht dem Fräulein gut? Falls Ihre Tochter gewillt ist, eine belastende Aussage zu machen, sind wir jederzeit bereit, Unterstützung in der leidigen Angelegenheit zu leisten.«

Svoboda witterte die Falle, unmerklich straffte er die Schultern, hob den Kopf und erwiderte hart: »Verehrter Herr, mir ist bewusst, worauf Sie anspielen. Meine Tochter ist Schneiderin und war in besagtem Haus nur wenige Male, um Kleider anzupassen, seither macht uns ein schmutziges Gerücht das Leben schwer. Ich kann nichts anderes tun, als Ihnen zu versichern, dass es eine infame Lügengeschichte ist, in die Welt gesetzt von einer armen Dienstbotin, die vermutlich von Neid zerfressen ist auf ein Mädchen, dem es in der Kindheit und Jugend besser erging, das obendrein äußerst talentiert ist und dem eine gute Zukunft beschieden ist. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun, richten Sie dem verehrten Obersthofmeister einen herzlichen Gruß aus, auf Wiedersehen.«

Verdattert verließ der Mann die Werkstatt. Svoboda hatte weiche Knie und war schweißnass, erschöpft sank er auf eine Bank und wunderte sich über seinen Mut, einem hochgestellten Beamten des Hofes derart hochmütig geantwortet zu haben.

Die Wochen vergingen, der heiße Sommer wich einem milden Herbst, Anna wollte nur noch fort aus ihrem Elternhaus.

»Ich bin hier nur eine Last für euch. Lass mich in irgendeine andere Stadt gehen, als Näherin finde ich überall Arbeit genauso wie ein Zimmer zur Untermiete. Ich kann mich hocharbeiten, mir eine Existenz aufbauen«, bat sie ihren Vater immer wieder. »Es gibt mittlerweile viele junge Frauen, die ihr Elternhaus verlassen, um irgendwo als Lehrerin zu arbeiten, als Hutmacherin, als Schneiderin, als Köchin, als Gouvernante.«

»Frauen aus armen Familien entscheiden sich zu einem solchen Schritt, weil sie oft keine andere Möglichkeit haben«, erwiderte ihr Vater.

»Es gibt Frauen, die sich aus freien Stücken für ein unabhängiges Leben entscheiden.«

»Glaub mir, es ist ein trauriges und einsames Leben.«

Svoboda widerstrebte der Gedanke, seine schöne Tochter ohne jeden familiären Schutz — als Freiwild — in einer fremden Stadt zu wissen. Außerdem nagte das Misstrauen an ihm, er befürchtete, dass Anna umgehend mit der Kinsky Kontakt aufnehmen könnte, sie neuerlich in ihren Einfluss geraten würde, und diese Vorstellung bereitete ihm Übelkeit. Er hasste die Frau wie die Pest, er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Menschen derart gehasst zu haben.

»Vater, bitte, du kannst mich nicht die nächsten Jahre einsperren«, weinte Anna, und Wilhelm Svoboda musste sich eingestehen, dass er ratlos war, er wusste tatsächlich nicht, wie es weitergehen sollte. Was man mit der Tochter tun, wie ihre Zukunft aussehen sollte, war unklar, die guten Heiratschancen waren vertan, und eine neue Anstellung in einer Wiener Schneiderei zu finden war auf lange Sicht undenkbar. Im Oktober — fünf Monate waren seit dem Vorfall vergangen — tauchte Albert Theodor Brugger in seinem Bureau auf, und er erschien Wilhelm Svoboda wie ein Rettungsanker.