Der Sohn eines Müllers aus einem kleinen Dorf im Mühlviertel war vor zwei Monaten aus dem k. u. k. Kriegsmarine-Dienst entlassen worden und beabsichtigte, ein Handelsgeschäft in seiner Heimat zu eröffnen. In sein Sortiment wollte er auch Möbel aufnehmen, Svobodas Werkstätte war ihm empfohlen worden. Nach den geschäftlichen Besprechungen lud Wilhelm Svoboda Brugger spontan zum Abendessen in sein Haus ein. Als er am Esstisch saß und von seiner Zeit in der k. u. k. Marine zu erzählen begann, war nach wenigen Minuten offensichtlich, dass es vor allem Anna war, die er mit seinen Geschichten beeindrucken wollte. Svoboda erkannte sofort: Albert Theodor Brugger war die Lösung für die unerträgliche Situation der Familie. Er folgte seiner Tochter in die Küche und gab ihr deutlich zu verstehen, sie habe auf Bruggers Interesse einzugehen, sie solle ihm gefälligst schöne Augen machen, denn das wäre eine Gelegenheit, die unter allen Umständen zu nutzen sei.

Zu siebt saßen sie beieinander, es war das erste Mal seit Monaten, dass Anna — umringt von Leuten — Gespräche führte, scherzte, lachte. Für kurze Zeit musste sie sich eingestehen, dass sie es sogar ein klein wenig genoss, der Müller sah nicht übel aus und erwies sich als interessanter Gesprächspartner. Neben den Eltern waren ihre Brüder anwesend, die zwei Burschen löcherten den Fremden über Schiffe und Fregatten, über Hafenstädte, bis er den Spieß umdrehte und sie nach ihrem Leben fragte, nach Schulen, Unterrichtsstoff, nach ihren Zukunftsplänen, er war ein guter Erzähler und aufmerksamer Zuhörer. Ihre Familie verhielt sich Anna gegenüber, als wäre nichts geschehen, vermutlich dem Gast zuliebe. Sie spielte mit, obwohl ihr erster Impuls war, sich — nach all den Monaten des Eingesperrtseins — kühl und kratzbürstig zu verhalten, um die Eltern bloßzustellen. Ihr Vater begann plötzlich von der Südostasienreise zu reden und betonte, er habe seine zweitälteste Tochter aufgrund ihrer perfekten Französischkenntnisse mitgenommen. Noch während er dies sagte, fiel ihm ein, dass im Mühlviertel vermutlich niemand etwas mit Französisch anfangen konnte, und fügte hinzu: »Nicht nur Französisch spricht sie gut, sie ist eine hervorragende Köchin und Schneiderin, sie näht alle ihre Kleider selbst.«

»Papa, hör auf, das ist mir unangenehm«, sagte Anna mit hochrotem Gesicht.

»Ja wirklich, Papa, hör schon auf«, sagte der jüngste Sohn glucksend, er war das vorlauteste der Kinder, »das ist ja kein Heiratsmarkt.«

Daraufhin liefen alle Svobodas rot an, Brugger lachte und sagte: »Auf einem Heiratsmarkt ginge es wesentlich rauer und lauter zu, das können Sie mir glauben.«

»Woher wissen Sie das? Gibt es im Mühlviertel welche?«, fragte Annas Bruder.

Brugger lachte abermals. »Ich habe in Stone Town auf Sansibar einen miterlebt.«

Der Junge forderte ihn auf, davon zu erzählen.

»Der Sultan von Sansibar, Barghasch ibn Said, hat ihn zugunsten der Arbeiter auf den Gewürznelkenplantagen veranstaltet, weil er der Meinung war, sie erbringen mehr Leistung, wenn sie eine Frau haben. Außerdem könnte man die Frauen ebenfalls zur Arbeit auf den Plantagen einsetzen, so sein Gedanke. Die Männer waren zwar keine Sklaven, aber im Grunde waren sie arme Hunde, die elend hausten und schlecht verdienten. Den Gewürznelken hat der ganze Ehrgeiz des Sultans gegolten, er hat einen westlichen Kurs eingeschlagen, weil er sein Land endlich vom Sklaven- und Elfenbeinhandel befreien wollte. Er hat die Sklavenhändler gezwungen, alle Frauen von fünfzehn bis dreißig Jahren, die sich zu dem Zeitpunkt in ihrem Besitz befunden haben, dafür zur Verfügung zu stellen. Er hat eine bewegende Rede gehalten, in der er den Markt zum Akt der Humanität erklärt und zu den Männern gesagt hat: Ihr seid die Zukunft des Landes! Zu den Frauen hat er gesagt: Ich schenke euch nach eurer Hochzeit die Freiheit. Jedem Arbeiter war es erlaubt, sich eine Braut zu kaufen, als Zahlungsmittel wurden Gewürznelken vereinbart. Die Männer hatten gerade ihre Draufgabe zum Lohn erhalten, und zwar ein Fünfzigstel dessen, was sie dem Vorarbeiter am Ende der ersten Ernte — nach der Trocknung — auf die Waage gelegt hatten. Es war die schlechte Auslese der Nelken, mit der sie machen konnten, was sie wollten, sie verkaufen oder sich damit die Pfeife stopfen. Die meisten verkauften sie natürlich auf den Märkten, um sich etwas Geld dazuzuverdienen. An dem Tag haben sie sich damit eine Braut gekauft. Eine gesunde Sechzehnjährige hat bis zu einem Kilo gekostet, eine magere Dreißigjährige mit schlechten Zähnen konnte man um zwanzig Stück haben.«

Die Svobodas hielten den Atem an.

»Zwanzig Gewürznelken für eine Frau?«, fragte Else Svoboda ungläubig.

Brugger nickte. »Es hat ein unglaubliches Geschrei und Getümmel geherrscht. Um einige Mädchen hat sogar eine Schlägerei begonnen, die Soldaten des Sultans haben mehrmals eingreifen müssen. Den Frauen wurden teilweise die Kleider vom Leib gerissen, um sie nackt sehen zu können, sie mussten ihre Zähne zeigen, ein sogenannter Arzt hat kontrolliert, ob sie jungfräulich waren, denn wenn nicht, ist der Preis gefallen. Es war schrecklich, ich möchte bei Gott nicht wissen, wie sich die armen Frauen gefühlt haben. Manchen hat man ihre Verzweiflung regelrecht angesehen, vor allem den jungen, wohingegen andere völlig teilnahmslos dagestanden sind und alles über sich ergehen lassen haben. Sie haben gewirkt, als wären sie nicht mehr unter den Lebenden. Mir wurde an dem Tag zum ersten Mal bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, in der westlichen Zivilisation zu leben.«

Anna lachte trocken auf, und ihr Vater ersuchte sie, den Nachtisch zu holen. Als sie zurückkam, wünschten die Brüder eine gute Nacht und verließen das Esszimmer, Brugger bat sie, von der Südostasienreise zu erzählen, später waren ihr Vater und sie es, die ihn zur Tür brachten. Svoboda fragte ihn, wie lange er vorhabe, in Wien zu bleiben, Anna setzte alles auf eine Karte und bot ihm — vor ihrem Vater — an, ihm am nächsten Tag die Innenstadt zu zeigen, falls es seine Zeit zulasse, worüber er sich sichtlich freute.

Zum ersten Mal seit ihrer Entgleisung wurde ihr erlaubt, ins Freie zu gehen. Es hatte in der Nacht geschneit, zu dritt spazierten sie durch den frischgefallenen Schnee. Ihren jüngsten Bruder hatte der Vater als Aufpasser mitgeschickt, er verhielt sich zurückhaltend, ging still neben ihnen her, Anna war ihm dankbar. Es war nicht zu kalt, und die Sonne schien, noch nie hatte sie einen Spaziergang und einen Gesprächspartner derart genossen, gleichzeitig waren ihre Gedanken nur bei der Freundin. Sie überredete Brugger, eine Droschke zu nehmen, sie fuhren bis zum Stephansplatz, tranken Punsch und aßen heiße Maroni.

Er erzählte mit Begeisterung von seinem zukünftigen Geschäft, das mittlerweile konkrete Formen annahm, er hatte es bereits bei der Handelskammer in Linz angemeldet, wo man ihm überschwänglich viel Glück gewünscht hatte.

»Ich fühle mich voller Tatendrang«, sagte er, »und vieles geht mir einfach zu langsam.« Die ganze Zeit über gab sie ihm zu verstehen, dass sein Interesse an ihr durchaus auf fruchtbaren Boden fiel, erst spät kamen sie nach Hause, und ihr Vater lud Brugger zum Abendessen ein.

Bevor er ins Mühlviertel zurückreiste, bat sie ihn um einen Brief, es dauerte keine zwei Wochen, und sie hielt ihn in Händen. Nach wiederum drei Wochen stand er persönlich vor der Tür. Daraufhin kam er einmal im Monat für jeweils eine Woche nach Wien, wobei er täglich bei den Svobodas vorbeischaute, um Anna für einen Spaziergang oder einen Gasthausbesuch abzuholen. Jedes Mal war die Mutter dabei, oder es wurde einer der Brüder mitgeschickt, die langjährige Hausangestellte, die Schwester, Brugger glaubte, die Svobodas vertraten die konservative Meinung, ein junges Paar sollte nicht alleine sein. Anna kannte den wahren Grund, sie hatten Angst, sie würde die Zeit nutzen, um am Bahnhof in irgendeinen Zug zu steigen.

Obwohl er aus der Provinz stammte, war Brugger kein Bauerntölpel, er war besonnen, gebildet und legte gute Manieren an den Tag, dennoch wirkte er nicht wie ein typischer Stadtmensch. Er strahlte etwas Besonderes aus, Anna hätte jedoch nicht benennen können, was genau es war. Nach nur einem halben Jahr fragte er sie, ob er um ihre Hand anhalten dürfe, er fühle sich einsam in seinem Heimatdorf, und seitdem er sie kenne, wünsche er sich nichts sehnlicher, als sie an seiner Seite zu haben. Als sie ihm ins Ohr flüsterte, dass es ihr dringendster Wunsch wäre, die Trauung möge so schnell wie möglich stattfinden, war er derart glücklich, dass sie erstens überwältigt war und sich zweitens schämte. Es war offensichtlich, dass er sie tatsächlich liebte.

Ein liebender Ehemann, der von der ganzen Sache nichts wusste, weil er in der hintersten Provinz lebte, war der einzige Ausweg aus ihrer ausweglosen Situation, und Anna erschien alles besser als der Albtraum, in dem sie sich befand. Sie wusste, der Alltag in der Einöde mit einem Mann, den sie nicht liebte, würde hart werden, doch insgeheim stellte sie sich die intensive Brieffreundschaft mit der geliebten Freundin und heimliche, aufregende Begegnungen irgendwo in der Mitte ihrer Wohnorte als ausreichend vor, um sie für alles zu entschädigen. Die Planung eines Treffens würde sie wochenlang beschäftigen, die Erinnerung daran wochenlang über Wasser halten. Niemand konnte ihnen in dieser Konstellation etwas anhaben, es bestand keine Gefahr mehr, dass die Gräfin oder sie inhaftiert wurden. Sie fühlte sich heroisch, denn sie war bereit, sich zu opfern für die Freundin, und auch für die Familie. Ihre Zukunft stellte sie sich als ein romantisch-sehnsüchtiges Märtyrerleben vor.

Während der Spaziergänge mit Brugger schaffte sie es, in einem unbeobachteten Augenblick einen Brief an Carolina Kinsky in einen Postkasten zu werfen, in dem sie ihr von Brugger — sie nannte ihn den Müller — erzählte. Die Gräfin war zwar von ihrer Reise noch nicht zurückgekehrt, doch vertraute Anna darauf, dass sie im Frühling heimkehrte, sie stellte sich ihre Freude beim Vorfinden des Briefes vor. Zu Ostern 1882 reiste sie mit ihrer Familie für einige Tage ins Mühlviertel, um Angehörige und Heimat des zukünftigen Ehemannes kennenzulernen und die Verlobung zu feiern. Sie war im selben Zimmer des Gasthofs Linde untergebracht, in dem vor vierundfünfzig Jahren die Tante ihres Verlobten, Rosa, einer Wiener Stellenvermittlerin vorgelesen, vorgesungen, Rede und Antwort gestanden war, was Anna natürlich nicht wusste. In der Nacht vor der Abreise stand sie auf und schrieb einen Brief an ihre Freundin.